von Thomas Ax
Wann ist eine Rüge eine Rüge?
Eine Rüge im Sinne von § 160 Abs. 3 GWB ist gegeben, wenn es sich nicht nur um eine reine Äußerung rechtlicher Zweifel handelt, sondern das Vorgebrachte als Mitteilung zu verstehen ist, dass der Antragsteller die derzeitige Vorgehensweise des Auftraggebers für vergabefehlerhaft hält, verbunden mit der ernstgemeinten Aufforderung an den Auftraggeber, diesen Vergaberechtsverstoß zu beseitigen (VK Bund, Beschluss vom 28.05.2020, VK 1-34/20, BeckRS 2020, 24255 Rn. 32, beck-online). Die Rüge muss keine Begründung, insbesondere keine detaillierte rechtliche Würdigung enthalten, sie darf allerdings auch nicht völlig pauschal und undifferenziert sein oder sich gar auf den bloßen Hinweis beschränken, dass das Vergabeverfahren rechtsfehlerhaft sei. Maßstab für die Konkretheit der Rüge ist, dass der öffentliche Auftraggeber die Möglichkeit haben muss, sich selbst zu korrigieren (vgl. Reidt in Reidt/Stickler/Glahs, Vergaberecht, 4. Aufl. 2019, § 160 Rn. 75).
OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15.01.2021 – 15 Verg 11/20
Wann ist eine Rüge eine rechtzeitige Rüge?
Insoweit bestimmt § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB, dass der Antragsteller den gerügten Verstoß gegen Vergabevorschriften vor Einreichen des Nachprüfungsantrags erkannt und gegenüber dem Auftraggeber innerhalb einer Frist von 10 Kalendertagen rügen muss. Damit grenzt die Vorschrift die Fälle von denjenigen ab, in denen der Bieter eine Vergaberechtsverstoß erst nach Einreichen des Nachprüfungsantrags erkannt hat, die keiner Rügeobliegenheit unterliegen (vgl. BGH, Beschluss vom 26.09.2006, X ZB 14/06), wie sich aus der Gesetzesbegründung zu § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB ergibt (Bt.-Drs. 18/6281, S. 134, 135). Zudem gleicht die Vorschrift die Rügefrist der Stillhaltefrist des § 134 GWB an, die mindestens zehn Kalendertage ab Eingang der Vorabinformation betragen muss und setzt damit die Vorgaben der RL 2007/66 EU um. Ziel war es, die Zulässigkeitsanforderungen von § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB und die Informations- und Wartepflicht gemäß § 134 Abs. 1 und 2 GWB besser aufeinander abzustimmen (vgl. RL 2007/66/EU, Erwägungsgrund Nr. 11; Bt.-Drs., a.a.O.).
Die Berechnung der in § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB geregelten 10-Kalendertage-Frist, die ab der Erlangung der Kenntnis vom Vergaberechtsverstoß beginnt, erfolgt entsprechend § 31 VwVfG und §§ 187 ff. BGB (vgl. Carsten Nowak in Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, GWB, 3. Aufl. 2019, § 160 Rn. 65 mwN). Insoweit bestimmt § 188 Abs. 1 BGB, dass eine nach Tagen bestimmte Frist mit dem Ablauf des letzten Tages der Frist endet.
OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15.01.2021 – 15 Verg 11/20
Kann eine Rüge nachgeholt werden?
160Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB lässt sich nicht entnehmen, dass der Bieter in jedem Fall eine Rüge vor Einreichen des Nachprüfungsantrags erheben muss, auch wenn dies zur Verkürzung der ihm zustehenden Rügefrist führt. Über eine Wartefrist nach der Rüge, bis zu der der Nachprüfungsantrag zulässigerweise gestellt werden kann, sagt das Gesetz ebenso wie schon die Vorgängervorschrift des § 107 Abs. 3 GWB nichts. Allein durch die Verwendung des Perfekts in Abs. 3 S. 1 Nr. 1 („gerügt hat“) wird eine verbindliche Wartefrist nicht gesetzlich normiert (vgl. MüKoEuWettbR/Jaeger, 2. Aufl. 2018 § 160 GWB Rn. 64). Auch wenn die Vorschrift intendiert, dass der Vergabestelle die Möglichkeit gegeben wird, etwaige Vergaberechtsverstöße möglichst frühzeitig zu beseitigen und hierdurch im Interesse aller Beteiligten unnötige Nachprüfungsverfahren zu vermeiden, lehnte es die h.M. schon unter Geltung der Vorgängervorschrift des § 107 Abs. 3 GWB, die ebenfalls das Perfekt („gerügt hat“) verwendete, ab, im Hinblick auf das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage eine Wartefrist anzuerkennen (vgl. Senat, Beschluss vom 21.12.2012, 15 Verg 10/12 mwN zu § 107 Abs. 3 GWB a.F.). Auch wenn die Rüge dem Zweck dient, dem öffentlichen Auftraggeber die Möglichkeit zu geben, selbst etwaige Vergaberechtsverstöße auszuräumen, muss dies in Fällen, in denen anderenfalls effektiver Rechtsschutz nicht gewährleistet wird, zurücktreten. § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB bestimmt nämlich weiter, dass der Ablauf der Frist nach § 134 Abs. 2 GWB unberührt bleibt. Die verkürzte Wartefrist nach § 134 Abs. 2 GWB beträgt ebenfalls 10 Kalendertage. Dies kann in Fällen, in denen sich ein möglicher Vergabeverstoß erst aus der Bieterinformation ergibt, zum Ergebnis führen, dass die Rügefrist zum selben Zeitpunkt wie die Wartefrist endet. Mit Blick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes kann jedenfalls dann nicht an dem Erfordernis einer dem Nachprüfungsantrag vorgelagerten Rüge festgehalten werden, wenn der Antragsteller von dem Vergabefehler so spät erfährt, dass zu befürchten ist, dass er seine Rechte infolge der bevorstehenden Zuschlagserteilung nicht mehr geltend machen kann (vgl. Senat, a.a.O.). Denn eine Aussetzung des Vergabeverfahrens gemäß § 169 Abs. 1 GWB kann nicht durch die Rüge, sondern allein durch die Einreichung eines Nachprüfungsantrags erreicht werden (vgl. Reidt in Reidt/Stickler/Glahs, a.a.O., § 160 Rn. 71). Würde man auch in solchen Fällen die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags von einer vorherigen Rüge abhängig machen, könnte der Bieter entweder die ihm vom Gesetzgeber zugestandene Rügefrist von 10 Tagen nicht ausschöpfen oder er würde Gefahr laufen, dass der öffentliche Auftraggeber nach Ablauf der Wartefrist den Zuschlag erteilt und damit keine Überprüfung mehr erfolgt, weil nach Zuschlagserteilung die Unwirksamkeit nur unter den Voraussetzungen des § 135 GWB geltend gemacht werden kann (vgl. Wiese in Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, GWB-Vergaberecht, 5. Aufl. 2020, § 160 Rn. 163; MüKoEuWettbR/Jaeger, a.a.O., § 160 GWB Rn. 64-66).
OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15.01.2021 – 15 Verg 11/20