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Akuter Naturkatastrophen und schnelle Vergabe

von Thomas Ax

Im Fall akuter Naturkatastrophen wie dem Hochwasser im Westen und Süden Deutschlands 2021 sind damit die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV bzw. bei Bauleistungen des § 3a Abs. 3 Nr. 4 VOB/A EU für den Einkauf von Leistungen über Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb gegeben, wenn sie der kurzfristigen Bewältigung der schlimmsten und akuten Auswirkungen der Flut dienen. Dies wird z.B. anzunehmen sein für – die Absicherung von standsicherheitsgefährdeten Bauwerken / Infrastrukturbauwerken, – die Beschaffung von Notstromaggregaten, Schlammsaugern, Bautrocknern, – die Beschaffung von Unterkunftsräumen (z.B. Containern), – die Bereitstellung von Behelfsbrücken, – die provisorische Bereitstellung von digitaler Infrastruktur. Diese Aufzählung ist aber nicht abschließend.

Insbesondere im Lichte der Notwendigkeit des schnellen Einkaufs stellt sich die Frage, ob und inwieweit ein durchzuführendes Vergabeverfahren beschleunigt werden kann. Sofern der Anwendungsbereich des Kartell- oder Haushaltsvergaberechts eröffnet ist, hat dies in nahezu allen Fällen die Notwendigkeit der Durchführung eines Vergabeverfahrens zur Folge. Dabei gibt es nicht „das“ Vergabeverfahren. Vielmehr kennt das Vergaberecht sehr verschiedene Vergabeverfahren mit jeweils unterschiedlichen Abläufen und Anforderungen, die nicht frei miteinander kombinierbar sind („Typenzwang“).
Der Ablauf eines Beschaffungsvorgangs hängt vom konkreten Vergabeverfahren ab. Das GWB kennt verschiedene Vergabeverfahrensarten, insbesondere das offene Verfahren, das nicht offene Verfahren, das Verhandlungsverfahren und den wettbewerblichen Dialog (vgl. § 119 Absatz 1 GWB).16 Nach § 119 Absatz 2 Satz 2 GWB besteht dabei im Kartellvergaberecht eine grundsätzliche Nachrangigkeit des Verhandlungsverfahrens gegenüber dem offenen und dem nicht offenen Verfahren.

Insbesondere vor dem Hintergrund einer möglichst kurzfristigen Beschaffung kommt dem Verhandlungsverfahren, welches nach § 119 Absatz 5 GWB sowohl mit als auch ohne vorgeschalteten Teilnahmewettbewerb durchgeführt werden kann, besonders in der Variante „ohne Teilnahmewettbewerb“ eine zentrale Rolle zu. Das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach § 119 Absatz 5 GWB in Verbindung mit §§ 14 Absatz 4, 17 VgV beziehungsweise bei Bauleistungen in Verbindung mit § 3a Absatz 3 Nr. 4 VOB/A EU zeichnet sich dadurch aus, dass der jeweilige öffentliche Auftraggeber etwaige Vertragspartner selbst ohne vorheriges förmliches Verfahren auf Basis seiner Marktkenntnis auswählen und sodann frei mit diesen verhandeln kann.
Damit entfällt im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb die Pflicht der EU-weiten Auftragsbekanntmachung. Der Wettbewerb kann hier demgemäß von vornherein nur zwischen den Unternehmen stattfinden, die der öffentliche Auftraggeber zur Abgabe von Erstangeboten direkt auffordert. Da hierbei allerdings die grundlegenden Vergaberechtsprinzipien des transparenten Wettbewerbs (§ 97 Absatz 1 GWB) und der Gleichbehandlung (§ 97 Absatz 2 GWB) fundamental eingeschränkt werden, sind die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb besonders streng. So besteht weitgehend Einigkeit, dass grundsätzlich mindestens drei Bewerber zur Angebotsabgabe aufzufordern sind, um dem weiter geltenden Wettbewerbsgrundsatz Rechnung zu tragen. Zudem gilt für den Angebotseingang im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb der allgemeine vergabeverfahrensrechtliche Grundsatz der angemessenen Fristsetzung. Insofern kann auch dieses vergleichsweise flexible Vergabeverfahren nicht mit einer gänzlich formlosen Direktbeauftragung gleichgesetzt werden.

Nach § 14 Absatz 4 Nr. 3 VgV dürfen Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb (sogenannte Dringlichkeitsvergabe) etwa dann vergeben werden, wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das offene und das nicht offene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind; die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dürfen dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein. Die Gründe müssen zwingend sein. Dafür ist eine Abwägung zwischen den bedrohten Rechtsgütern einerseits und der vergaberechtlichen Pflicht zur Durchführung eines wettbewerblichen und transparenten Vergabeverfahrens (§ 97 Abs. 1 und 2 GWB) vorzunehmen. Die bedrohten Rechtsgüter müssen so wichtig sein, dass es unmöglich ist, den Beschaffungsvertrag erst dann abzuschließen, wenn ein Verfahren mit Teilnahmewettbewerb oder ein offenes Verfahren (an dem sich alle interessierten Unternehmen beteiligen können) durchgeführt wurde. Ohne vorherigen Teilnahmewettbewerb darf ein Auftrag sofort ohne irgendwelche Fristen nur vergeben werden, wenn es um besonders hochrangige Rechtsgüter (Leben, körperliche Unversehrtheit, hohe Vermögenswerte, existentielle Daseinsvorsorge) geht und deren Beeinträchtigung unmittelbar (d.h. mit hoher Wahrscheinlichkeit in allernächster Zeit) bevorsteht bzw. schon eingetreten ist.

Eine besondere Dringlichkeit der Vergabe besteht im Kontext der Bewältigung der Notlage bei Katastrophenfällen. Starkregen und Hochwasser waren und sind weder von der beschaffenden Stelle verursacht noch war und ist für diese vorhersehbar, an welchen Stellen welche Schäden auftreten (werden). Sie haben ganze Landstriche verwüstet, (Landes-)Liegenschaften erheblich beschädigt und Infrastruktur zerstört, die dringend wiederhergestellt werden müssen. Im Fall akuter Naturkatastrophen wie dem Hochwasser im Westen und Süden Deutschlands 2021 sind damit die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV bzw. bei Bauleistungen des § 3a Abs. 3 Nr. 4 VOB/A EU für den Einkauf von Leistungen über Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb gegeben, wenn sie der kurzfristigen Bewältigung der schlimmsten und akuten Auswirkungen der Flut dienen. Dies wird z.B. anzunehmen sein für – die Absicherung von standsicherheitsgefährdeten Bauwerken / Infrastrukturbauwerken, – die Beschaffung von Notstromaggregaten, Schlammsaugern, Bautrocknern, – die Beschaffung von Unterkunftsräumen (z.B. Containern), – die Bereitstellung von Behelfsbrücken, – die provisorische Bereitstellung von digitaler Infrastruktur. Diese Aufzählung ist aber nicht abschließend.

Angebote können im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb formlos und ohne die Beachtung konkreter Fristvorgaben eingeholt werden. Für Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb kann der Auftraggeber somit auch eine kürzere Angebotsfrist wählen, solange diese angemessen ist (vgl. § 20 VgV). Aufgrund seines besonderen Ausnahmecharakters sind damit beim Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach Würdigung der Gesamtumstände im Dringlichkeitsfall auch sehr kurze Fristen (bis hin zu 0 Tagen) denkbar.
Zwar empfiehlt es sich im Sinne einer effizienten Verwendung von Haushaltsmitteln, nach Möglichkeit mehrere Unternehmen zur Angebotsabgabe aufzufordern. Auch nach der Rechtsprechung ist im Rahmen der §§ 14 Abs. 4 Nr. 3, 17 Abs. 5 VgV grundsätzlich so viel Wettbewerb wie möglich zu eröffnen; ein völliger Verzicht auf Wettbewerb kommt nur als ultima ratio in Betracht (vgl. OLG Rostock, Beschluss vom 9.12.2020, 17 Verg 4/20, Sollten es die Umstände – wie in der akuten Hochwassernotlage – aber erfordern, kann auch nur ein Unternehmen angesprochen werden. § 51 Abs. 2 VgV, der für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb die Ansprache von mindestens drei Unternehmen vorsieht, ist in diesem Kontext nicht anwendbar. So ist die direkte Ansprache nur eines Unternehmens dann möglich, wenn nur ein Unternehmen in der Lage sein wird, den Auftrag unter den durch die zwingende Dringlichkeit auferlegten technischen und zeitlichen Zwängen zu erfüllen.“

Auch die Europäische Kommission hatte bereits im Zuge der COVID-19-Pandemie – mithin einer vergleichbar unvorhersehbaren Dringlichkeitssituation – im April 2020 eigene „Leitlinien zur Nutzung des Rahmens für die Vergabe öffentlicher Aufträge in der durch die COVID-19-Krise verursachten Notsituation“ veröffentlicht. Darin wird zunächst auf die Möglichkeit verwiesen, im Fall besonderer Dringlichkeit die Fristen für die Beschleunigung offener oder nichtoffener Verfahren erheblich zu verkürzen. Weiterhin könnte ein Verhandlungsverfahren ohne Veröffentlichung – beziehungsweise im deutschen Recht „ohne Teilnahmewettbewerb“ – in Betracht gezogen werden, wenn die dadurch ermöglichte Flexibilität nicht ausreichen sollte. Im Rahmen dessen könnte gemäß diesen EU-Leitlinien sogar eine „Direktvergabe“ an einen vorab ausgewählten Wirtschaftsteilnehmer zulässig sein, sofern dieser als einziger in der Lage wäre, die erforderlichen Lieferungen innerhalb der durch die äußerste Dringlichkeit bedingten technischen und zeitlichen Zwänge durchzuführen.