Nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV kann der öffentliche Auftraggeber Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben, wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das offene und das nicht offene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind.
Von einem Teilnahmewettbewerb kann nur dann abgesehen werden, wenn die Mindestfristen des Regelverfahrens – in diesem Fall die verkürzten Fristen nach § 17 Abs. 3 und 8 VgV – nicht eingehalten werden können. Gemäß § 15 Abs. 3 VgV beträgt die verkürzte Angebotsfrist beim offenen Verfahren 15 Kalendertage. Bei einem nicht offenen Verfahren beträgt die verkürzte Teilnahmefrist nach § 16 Abs. 3 VgV 15 Tage, die sich daran anschließende Angebotsfrist 10 Tage (vgl. § 16 Abs. 7 VgV). Hinsichtlich des Verhandlungsverfahrens mit Teilnahmewettbewerb gelten dieselben Fristen wie beim nicht offenen Verfahren. Bei allen genannten Verfahrensarten kommt die Frist für die Vorabinformation gem. § 134 Abs. 2 GWB hinzu, welche noch einmal 10 Tage beträgt. Voraussetzung für den Fristenlauf ist jedoch jeweils, dass die entsprechenden Vergabeunterlagen „Ausschreibungsreife“ haben, das heißt dass die Eignungsanforderungen für die Bewerber/Bieter festgelegt wurden, die Zuschlagskriterien und deren Gewichtung ermittelt und die vollständigen Vertragsunterlagen (Leistungsbeschreibung etc.) erstellt sind.
Zu den vorgenannten gesetzlichen Mindestfristen kommen somit noch der für die Ausschreibung notwendige Zeitrahmen hinzu sowie die vorherige Erstellung der hierfür erforderlichen Unterlagen (Vergabevermerk, Bedarfsprüfung, Prüfung/Bereitstellung der Haushaltsmittel sowie Vertragserstellung). Bei den Mindestfristen nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV muss noch Zeit für Bieter-fragen und die Auswertung der Angebote einbezogen werden. Gleiches gilt für die notwendige Rüstzeit für den bezuschlagten Auftragnehmer bezüglich des Ausführungsbeginns.
Nach Erfahrungswerten aus vergleichbaren Fällen ist für eine Vergabe der betreffenden Dienstleistung im offenen Verfahren eine Verfahrensdauer von bis zu einem Jahr einzuplanen.
Grundsätzlich dürfen die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein. Eine Ausnahme hiervon stellt die Interimsvergabe in dem Bereich der Daseinsvorsorge dar.
In der obergerichtlichen Rechtsprechung und Literatur ist überwiegend anerkannt, dass eine Vergabe nach den Grundsätzen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV (Interimsvergabe) dann zulässig ist, wenn es um Beschaffungen geht, welche in einem übergeordneten Interesse notwendig sind.
Dies betrifft solche Leistungen, die im Interesse der Allgemeinheit, insbesondere unter Gesichts-punkten der Daseinsvorsorge, unverzichtbar sind. Eine Vergabe im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb ist bei solchen für die Allgemeinheit unverzichtbaren Leistungen auch dann möglich, wenn die Dringlichkeit auf Versäumnisse der Vergabestelle zurückzuführen ist; der Aspekt der Zurechenbarkeit und Vorhersehbarkeit tritt dann hinter der Notwendigkeit der Kontinuität der Leistungserbringung zurück (vgl. OLG Frankfurt am Main in dem Beschluss vom 24.11.2022 – 11 Verg 5/22; OLG Düsseldorf Beschluss vom 15.02.2023 – VII-Verg 9/22; BayObLG, Beschluss vom 31.10.2022 – Verg 13/22; OLG Frankfurt, Be-schlüsse vom 31.10.2022 – 11 Verg 7/21 und vom 30.1.2014 – 11 Verg 15/13; OLG Celle, Beschluss vom 24.09.2014, 13 Verg 9/14).
In der wert- und insbesondere grundrechtsgebundenen Ordnung des Grundgesetzes und der Unionsverträge, so das OLG Frankfurt am Main in dem Beschluss vom 24.11.2022 – 11 Verg 5/22, muss der Staat immer und unabhängig von früheren Versäumnissen in rechtmäßiger Weise in der Lage sein, auf Notlagen zu reagieren oder sie abzuwenden sowie unverzichtbare Leistungen zu erbringen.
Dies betrifft insbesondere Leistungen zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung einschließlich der Daseinsvorsorge.
Die Interimsvergabe ist dementsprechend eine „Überbrückungsvergabe“ für den Fall, dass eine im Wettbewerb ausgeschriebene Leistung nicht pünktlich vergeben werden kann und ein vertragsloser Zustand droht. Das gilt auch bei unmittelbaren Gefährdungen der Versorgungssicherheit im Bereich der Daseinsvorsorge.
Eine Interimsvergabe kommt demnach zum eigentlichen Vergabeverfahren hinzu.
Die Rechtsprechung begrenzt zulässige Interimsvergaben auf den Zeitraum, der erforderlich ist, um ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren durchzuführen und abzuschließen.
Eine Vertragsdauer von einem Jahr trägt der notwendigen Beschränkung auf den Interimsbedarf Rechnung. Interimsbeauftragungen sind auf den Zeitraum zu befristen, bis ein normales Verfahren bei Ausnutzung aller Möglichkeiten zur Beschleunigung vorbereitet und abgeschlossen sein kann. Sie sind deshalb zeitlich bis zum frühestmöglichen Abschluss des vergaberechtlich vorgeschriebenen europaweiten Vergabeverfahrens befristet. Eine Laufzeit von einem Jahr ist bei einer Interimsvergabe als verhältnismäßig und zulässig anzusehen (VK Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.05.2014, VK 1-7/14 = BeckRS 2015, 15353; VK Arnsberg, Beschl. v. 25.08.2008, VK 14/08 = IBRRS 2008, 2849; VK Sachsen, Beschl. v. 27.04.2015, 1/SVK/012-15 = BeckRS 2015, 16420; OLG Dresden, Beschl. v, 11.11.2008, Verg 006-08; VK Lüneburg, Beschl. v. 03.07.2009, VgK-30/2009).
Die Interimsvergabe stellt an sich bereits das mildeste Mittel dar. Die Rechtsprechung hat durch die Interimsvergabe ein Rechtsinstitut geschaffen, welches auf der einen Seite den Zielen des EU-Vergaberechts gerecht wird und auf der anderen Seite die Gewährleistung der Aufgaben im Bereich der Daseinsvorsorge und die Funktionsfähigkeit erhalten und sicherstellen soll. Dies geht insbesondere daraus hervor, dass nach der Rechtsprechung, zum einen eine Interimsvergabe nur für einen begrenzten Zeitraum zulässig und zum anderen akzessorisch zu einem bereits begonnenen oder anstehenden Vergabeverfahren ist.
Die in Art. 14 AEUV normierte Funktionsgewährleistungspflicht legt fest, dass die Mitgliedstaaten und die Union eine positive Verpflichtung trifft, durch geeignete Gestaltung der Rahmenbedingungen dafür zu sorgen, dass die Träger von Diensten im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse ihren Aufgaben angemessen nachkommen können (Jung in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, AEUV Art. 14 Rn. 22). Der Begriff „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“, entspricht dem der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse in Art. 106 Abs. 2 und Art. 36 der Grundrechtecharta (Calliess/Ruffert/Jung, 6. Aufl. 2022, AEUV Art. 14 Rn. 12; Definitionen auch bei Europäische Kommission, Leistungen der Daseinsvor-sorge in Europa, ABl. 2001 Nr. C 17/4, Anhang II). In Zusammenhang mit Diensten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse wird der Begriff der „Daseinsvorsorge“ in den deutschen Sprachfassungen der offiziellen Doku-mente verwendet (Groeben, von der/Schwarze/Philipp Voet van Vormizeele, AEUV Art. 14 Rn. 8, 9; Jung in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, AEUV Art. 14 Rnrn. 12, 13, Art. 106 Rn. 36).
Somit ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen Art. 32 Abs. 2 lit. C Richtlinie 2014/24/EU und Art. 14 AEUV.
Die Auslegung des Sekundärrechts erfolgt immer im Lichte des höherrangigen Primärrechts. Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU ist deshalb da-hingehend einschränkend auszulegen, dass die höherwiegende Leistungs-erbringung im Bereich der Daseinsvorsorge nach Art. 14 AEUV gewährleistet werden kann (Funktionsgewährleistungspflicht).