Interview mit Rechtsanwalt Dr. Thomas Ax
Thomas Ax fordert nicht weniger als eine Rundumerneuerung des deutschen Vergaberechts, Unterstützung der Auftraggeber und Bieter und Fortbildung. Tenor: Unsicherheiten sind zu beseitigen. Klarstellungen sind vorzunehmen. Hindernisse sind aus dem Weg zu räumen. Das Vergaberecht muss wieder zur Beschaffungswirklichkeit passen. In jüngerer Zeit haben sich Marktsegmente entwickelt, bei denen die Markteilnehmer feste Leistungsmodelle entwickelt haben, die von Anbieter zu Anbieter nicht mehr 1:1 verglichen werden können. Vielfach werden Leistungsgegenstände nur Online vermarktet. Hier besteht in vielen Fällen nicht das Interesse der Anbieter, individuelle Angebote zu erstellen, sich einer Eignungsprüfung zu unterziehen oder auf die Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen zu verzichten. Dieses neue Markgeschehen korrespondiert nicht mit den Verfahrensregeln des Vergaberechts. Soweit Vergaben auf die Nutzung elektronischer Medien gerichtet sind, stellt das die Vergabestellen vor neue Herausforderungen. Im Bereich der sog. social media, wie z.B. Facebook, Twitter oder Instagram bestehen von den Anbietern vorgegebene Leistungspakete, von denen sie nicht abzuweichen bereit sind. Typischerweise geben solche Marktteilnehmer keine Angebote in einem Vergabeverfahren ab. Das aktuelle Vergaberecht bietet keine Handhabe, um auf diese Beschaffungsgegenstände adäquat und flexibel zu reagieren. Aufgrund aktueller Entwicklungen ist im Bereich Verteidigung und Sicherheit eine Änderung an den bestehenden Regelungen erforderlich geworden, um den Bedarf für Einsätze bzw. einsatzgleiche Verpflichtungen der Bundeswehr schneller zu decken. Die militärischen und die zivilen Sicherheitsbehörden stehen vor neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Die Notwendigkeit, kurzfristig und effektiv auf sicherheitsrelevante Entwicklungen sowohl im In- als auch im Ausland reagieren zu können, gewinnt immer größere Bedeutung. Dabei werden die Herausforderungen vielfältiger und reichen von internationalem Krisenmanagement über die Abwehr terroristischer Gefahren bis zu Fragen der Cybersicherheit und der asymmetrischen Kriegsführung. Ziel muss es sein, bessere Möglichkeiten für eine beschleunigte Beschaffung zu schaffen, die vergaberechtlichen Regularien im Falle kurzfristiger Anforderungen an die Beschaffung noch besser zu nutzen und die vergaberechtlichen Spielräume für eine schnelle Beschaffung konsequenter zu nutzen. Kurzum: Es besteht erheblicher gesetzgeberischer Verbesserungsbedarf. Ein neues, modernes und dynamisches VergabeRecht für Deutschland!
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Frage: Welche wirtschaftliche Bedeutung haben öffentliche Aufträge?
Antwort: Bundesweit macht das jährliche Beschaffungsvolumen öffentlicher Institutionen geschätzt mehr als zehn Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts oder mindestens 300 Mrd. Euro aus. Neben Ausgaben für den laufenden Betrieb der öffentlichen Hand sind Aufträge für öffentliche Investitionen ein besonders wichtiger Teil dieser Beschaffungen. Beispiele für öffentliche Aufträge sind der Ausbau des Schienenpersonennahverkehrs, der Bau von Straßen oder die Ausstattung von Kindergärten, Schulen und Universitäten. Immer öfter entscheidet sich zudem die öffentliche Hand dafür, bestimmte Leistungen durch Private über die Vergabe von Konzessionen anbieten zu lassen, wie etwa den Betrieb von Freizeiteinrichtungen oder Parkhäusern. Für beides – öffentliche Aufträge wie Konzessionen – gilt: Die öffentliche Hand soll im Interesse des Steuerzahlers immer dem wirtschaftlichsten Angebot – gemessen am Preis-Leistungs-Verhältnis – den Vorzug geben. Das Vergaberecht legt fest, wie Bund, Länder und Kommunen vorgehen müssen, um Güter am Markt einzukaufen oder Bau- und Dienstleistungen in Auftrag zu geben. Es soll sicherstellen, dass Haushaltsmittel wirtschaftlich und in einem wettbewerblichen, transparenten und nicht-diskriminierenden Verfahren eingesetzt werden. Je effizienter die Verfahren ablaufen, umso wirtschaftlicher fallen die öffentlichen Investitionen aus. Umgekehrt können schwerfällige Verfahren und komplexe Regelwerke Investitionen verteuern oder verhindern.
Frage: Wird das Vergaberecht richtig angewendet?
Antwort: Vielfach: Nein.
Eine Auswertung der Entscheidungen von unseren Nachprüfungsverfahren hat Folgendes ergeben: Soweit im Sinne der Antragsteller entschieden wurde, bestanden die vergaberechtlichen Verstöße überwiegend in handwerklichen Fehlern des jeweiligen Auftraggebers, insbesondere bei der Erstellung der Leistungsbeschreibungen, im Rahmen der Eignungsprüfung sowie der Wertung der Angebote. Darüber hinaus wurde in einigen Fällen wegen mangelhafter Dokumentation gegen das Transparenzgebot verstoßen. Ferner haben einige Auftraggeber bei der Eignungsprüfung der Unternehmen und Wertung der Angebote das Vergaberecht unverhältnismäßig eng ausgelegt. Kleine und mittlere Unternehmen sind über die rechtlichen Möglichkeiten des Vergaberechtsschutzes häufig nicht hinreichend informiert und scheitern an den prozessualen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Nachprüfungsantrag.
Frage: Sind das einfache Verstöße?
Antwort: Vielfach: Nein.
Folgende gravierende Beispiele:
- De-facto-Vergabe von Laboruntersuchungen (Vergabekammer Berlin, Entscheidung vom 27.05.2019, B 1 – 43/19, https://www.berlin.de/sen/wirtschaft/wirtschaft/wirtschaftsrecht/assets/43_19-hauptsachebeschluss-anonymisiert.pdf; KG, Beschluss vom 08.06.2020, Verg 1002/20, nicht veröffentlicht),
- Wiederholte, fortgesetzte Verlängerung eines Versicherungsvertrags (Rechnungshof von Berlin, Jahresbericht 2019, S. 260, https://www.berlin.de/rechnungshof/_assets/jahresbericht-2019.pdf),
- De-facto-Vergabe an ein Beratungsunternehmen, (Rechnungshof von Berlin, Jahresbericht 2020, S. 186, https://www.berlin.de/rechnungshof/_assets/jahresbericht-2020.pdf),
- Anklage wegen Bestechung bei Auftragsvergabe: Mit der am 3. September 2019 zum Landgericht Berlin – Wirtschaftsstrafkammer – erhobenen Anklage legt die Staatsanwaltschaft dem ehemaligen Geschäftsführer einer landeseigenen Gesellschaft zur Last, für den Erhalt von 250.000,- Euro Schmiergeld veranlasst zu haben, dass die vom Geldgeber vertretene Firma den Zuschlag für die Erneuerung der firmeninternen Telefonanlage mit einem Gesamtvolumen von insgesamt 5,1 Mio. Euro erhielt (Tätigkeitsbericht der Zentralstelle „Korruptionsbekämpfung“ 2019: https://www.berlin.de/generalstaatsanwaltschaft/_assets/ueber-uns/zentralstellen/korruption/taetigkeitsberichte/2019_taetigkeitsbericht_korruption.pdf)
Frage: Was sind die Ursachen einer falschen Rechtsanwendung oder Rechtsunsicherheit bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen?
Antwort: Als häufigste Ursachen von Rechtsunsicherheit und falscher Rechtsanwendung nennen die von uns betreuten Auftraggeber die Komplexität und die als wenig anwenderfreundliche empfundene Struktur des Vergaberechts. Auch die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe bereite Schwierigkeiten, dies betreffe insbesondere solche Begriffe, die noch nicht durch die Rechtsprechung ausgeformt sind. Die kasuistische Rechtsprechung und immer kürzere „Erneuerungszyklen“ der Vorschriftenwerke mache es in der Praxis schwierig, stets basierend auf dem aktuellen Sach- und Rechtsstand rechtssicher Vergabeverfahren durchzuführen. Es bestehe hoher Fortbildungs- und Beratungsbedarf, eine Vielzahl von Vergabestellen sei bei Oberschwellenvergaben auf die Hilfe Dritter angewiesen. Verschärft werde dies dadurch, dass sich die Personalsituation in den staatlichen Behörden und den Kommunen nicht positiv entwickelt habe.
Frage: Welche Konkreten Fehlerquellen werden genannt?
Antwort: Als konkrete Fehlerquelle nennen unsere Auftraggeber-Mandanten die Bestimmung von Auftragswerten (insb. bei Bau- und Planungsleistungen) sowie die Abgrenzung von Bau- und Lieferleistungen, die Wahl der Verfahrensart (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV), das Dilemma zwischen Produktneutralität und eindeutiger Leistungsbeschreibung, die Verwendung der CPV-Nomenklatur (insb. bzgl. Informations- und Kommunikationstechnologie, Forschungsgeräten, sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen), die Nachforderung von Unterlagen (§ 56 Abs. 2 VgV), die Eignungs- und Zuschlagskriterien, Dokumentations- und Begründungsmängel, die Bildung von Teillosen (§ 97 Abs. 4 Satz 2 GWB), die Verpflichtung zur Festlegung einer Höchstmenge der abrufbaren Leistung nach § 21 Abs. 1 VgV bei der Vergabe von Rahmenvereinbarungen, Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit, die Veröffentlichung von Bekanntmachungen (§ 37 VgV), die Anwendbarkeit des Beschaffungsübereinkommens (GPA), die Einheitliche Europäische Eigenerklärungen (EEE) sowie die rechtskonforme elektronische Übermittlung von Informationen über die E-Vergabe-Plattform gem. § 134 GWB, § 162 Abs. 1 VgV und die Einhaltung der strikten elektronischen Kommunikation über die Vergabeplattform (§ 9 Abs. 1 VgV; § 11 Abs. 1 VOB/A EU).
Frage: Leisten rechtliche Vorgaben bestimmten Umsetzungsproblemen Vorschub?
Antwort: Unsere Auftraggeber sehen die bestehenden hohen rechtlichen Vorgaben als Ursache dafür, dass die Anzahl zuschlagsfähiger Angebote immer mehr abnimmt, insbesondere wenn Umwelt- und Sozialvorgaben eine Rolle spielen. Die als sehr groß empfundene Diskrepanz zwischen den Schwellenwerten im Liefer- und Dienstleistungsbereich auf der einen und dem Baubereich auf der anderen Seite seien nicht vermittelbar. Zudem seien die sehr langen Fristen des EU-Vergaberechts ein Hindernis, flexibel auf Bedarfe und Marktsituationen zu reagieren.
Frage: Ist Vergaberecht noch zeitgemäß?
Antwort: Nur bedingt.
Aufgrund aktueller Entwicklungen ist im Bereich Verteidigung und Sicherheit eine Änderung an den bestehenden Regelungen erforderlich geworden, um den Bedarf für Einsätze bzw. einsatzgleiche Verpflichtungen der Bundeswehr schneller zu decken. Die militärischen und die zivilen Sicherheitsbehörden stehen vor neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Die Notwendigkeit, kurzfristig und effektiv auf sicherheitsrelevante Entwicklungen sowohl im In- als auch im Ausland reagieren zu können, gewinnt immer größere Bedeutung. Dabei werden die Herausforderungen vielfältiger und reichen von internationalem Krisenmanagement über die Abwehr terroristischer Gefahren bis zu Fragen der Cybersicherheit und der asymmetrischen Kriegsführung. Ziel muss es sein, bessere Möglichkeiten für eine beschleunigte Beschaffung zu schaffen, die vergaberechtlichen Regularien im Falle kurzfristiger Anforderungen an die Beschaffung noch besser zu nutzen und die vergaberechtlichen Spielräume für eine schnelle Beschaffung konsequenter zu nutzen.
Frage: Hat die Corona-Pandemie die Bedeutung der öffentlichen Beschaffung verdeutlicht?
Antwort: Ja. Aber auch die Grenzen aufgezeigt.
Durch zeitweise Engpässe bei Gütern wie Atemschutzmasken, Medikamenten und medizinischen Hilfsmitteln wurde die zentrale Rolle funktionierender Beschaffungsprozesse zur akuten Bewältigung der Krise sichtbar. Unter dem Eindruck der COVID-19-Pandemie sind Vereinfachungen im Vergabeprozess eingeführt worden, die über Gebühr und unsachgemäß angewendet worden sind.
Beispiel:
Ein Auftrag der nordrhein-westfälischen Landesregierung an die Modefirma van Laack beschäftigte die VK Rheinland. Das Mönchengladbacher Unternehmen van Laack hatte im Zuge der Corona-Pandemie mehrere Aufträge für Schutzausrüstung erhalten. Vor allem die Bestellung von zehn Millionen Schutzkitteln sorgte für Debatten, weil bekannt wurde, dass Johannes «Joe» Laschet, der Sohn von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), den Kontakt zu der Firma hergestellt hatte. Neben den Kitteln hatte die Textilfirma auch zwei Aufträge der NRW-Polizei über je 1,25 Millionen sogenannter Alltagsmasken aus Stoff bekommen.
Frage: Gab es auch Entscheidungen?
Antwort: Ja.
Beispiel:
Coronapandemie als Rechtfertigung für die Aufhebung eines Vergabeverfahrens?
VK Bund, Beschl. vom 07.05.2020 (Az.: 2-31/20)
Frage: Was wird benötigt?
Antwort: Unsicherheiten sind zu beseitigen. Klarstellungen sind vorzunehmen. Hindernisse sind zu beseitigen.
Beispiel 1
Obergrenze bei Rahmenvereinbarungen (EuGH 19.12.2018, C-216/17)
Hinsichtlich des o.g. Urteils des EuGH besteht Unsicherheit, inwieweit die derzeitige Rechtslage bei der Vergabe von Rahmenvereinbarungen in der Bekanntmachung oder den Vergabeunterlagen die Angabe einer Obergrenze erfordert. Derzeit wird deshalb teilweise der geschätzte Auftragswert in den Vergabeunterlagen als Obergrenze genannt und mit einer Option im Sinne des § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 GWB verbunden. Es stellt sich die Frage, ob die Erhöhung der Obergrenze durch eine quantitative Leistungserweiterungsoption im Sinne § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 GWB dem Zweck des Missbrauchsverbots von Rahmenvereinbarungen entgegensteht. Die praktische Handhabbarkeit bereitet Schwierigkeiten. Zudem ist zwischenzeitlich ein neues Vorabentscheidungsverfahren (EuGH, C-23-20) anhängig. Bis zur Entscheidung wird davon ausgegangen, dass eine Übertragbarkeit der Rechtsprechung zur alten Vergaberichtlinie möglich ist.
Beispiel 2
Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit (§ 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 GWB)
Nach dem Wortlaut des § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 GWB ist die Auftragsänderung in den dort genannten Fällen ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens zulässig, wenn der Wechsel des Lieferanten aus wirtschaftlichen und technischen Gründen nicht erfolgen kann und mit erheblichen Schwierigkeiten oder beträchtlichen Zusatzkosten verbunden wäre. Es besteht Unsicherheit darüber, inwieweit sich der Meinung in der Literatur angeschlossen werden kann, dass es sich um redaktionelles Versehen handelt und das Wort „und“ als „oder“ zu lesen ist und somit ein alternatives Vorliegen von Tatbestandsmerkmalen ausreichend ist. § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 GWB regelt nicht, inwieweit zusätzliche Leistungen, die nicht zur Erfüllung der Vertragsleistung erforderlich sind, und die nach Nr. 1.4.2. des Leitfadens 510 des VHB ausschreibungspflichtig sind, einen Bezug zur ausgeschriebenen Leistung haben müssen, damit kein gesondertes Vergabeverfahren durchgeführt werden muss. Gewünscht wird eine Klarstellung, ob ggf. eine separate Ausschreibung erforderlich ist und ob und inwieweit ein sachlicher Zusammenhang mit der beauftragten Leistung des Hauptauftrages erforderlich ist.
Beispiel 3
Bereitstellung der Vergabeunterlagen (§ 41 Abs. 1 VgV)
Fraglich ist, ob auch bei zweistufigen Vergabeverfahren (nicht offene Verfahren mit Teilnahmewettbewerb, Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb) sämtliche Vergabeunterlagen, d.h. auch die Unterlagen für die Angebots- bzw. Verhandlungsphase, die sich dem Teilnahmewettbewerb anschließt, bereits mit der Bekanntmachung des Teilnahmewettbewerbs veröffentlicht werden müssen. Hierzu existieren unterschiedliche Rechtsmeinungen (vgl. OLG München, Beschluss vom 13. März 2017, Verg 15/16 – NZBau 2017, 371 und OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17. Oktober 2018, VII-Verg 26/18 – NZBau 2019, 129 ff., Rn 45).
Beispiel 4
Auslegung der Regelung § 3 Abs. 6 VgV zur Auftragswertberechnung bei Bauaufträgen
Unsicherheit besteht darüber, inwieweit bei der Auftragswertbetrachtung die Architekten- und Ingenieurleistungen zu den geschätzten Baukosten (abzgl. Umsatzsteuer) hinzuzurechnen sind.
Beispiel 5
Bekanntmachung der Vergabeunterlagen oberhalb der EU-Schwellenwerte (§§ 37, 38 VgV, § 12 EU VOB/A)
Hier wird die Einführung einer Öffnungsklausel in Bezug auf die Verpflichtung, die Vergabeunterlagen zum Zeitpunkt der Vorinformation oder der Bekanntmachung bereits vollständig, unmittelbar und uneingeschränkt bereitzustellen, vorgeschlagen.
Beispiel 6
Nachforderung von Unterlagen (§ 56 Abs. 2 VgV)
Es bestehen Rechtsunsicherheiten bei allen Liefer- und Dienstleistungsaufträgen und allen Verfahrensarten, wie weit das Nachreichen fehlerhafter unternehmensbezogener Unterlagen sowie die Ergänzung von Referenzen ausgelegt werden kann.
Beispiel 7
§ 120 Abs. 4 GWB
Nach § 120 Abs. 4 GWB können zentrale Beschaffungsstellen für andere öffentliche Auftraggeber öffentliche Aufträge vergeben oder vermitteln. In der Auftragsbekanntmachung muss der öffentliche Auftraggeber die zuständige Nachprüfungsinstanz angeben und er kann auch angeben, ob der Auftrag von einer zentralen Beschaffungsstelle vergeben wird. Die Übermittlung des Nachprüfungsantrags erfolgt in der Regel an den dort genannten öffentlichen Auftraggeber, was nicht unbedingt zutreffend sein muss. Denn im Falle einer zentralen Beschaffungsstelle sind zwei oder mehrere öffentliche Auftraggeber beteiligt, wobei sich erst aus dem Innenverhältnis ergibt, wer die Leistungen tatsächlich vergibt bzw. die Verträge letztendlich schließt. Die Verantwortlichkeit für die Rechtmäßigkeit der Vergabe ergibt sich deshalb erst aus dem Innenverhältnis, das bei Einleitung des Nachprüfungsverfahrens nicht bekannt ist. Dies hat zwei Auswirkungen: Es lässt sich nicht erkennen, ob der Nachprüfungsantrag an den richtigen Auftraggeber zugestellt worden ist und das Zuschlagsverbot ausgelöst wurde. Es lässt sich nicht erkennen, welche Vergabekammer für die Nachprüfung zuständig ist, wenn mehrere öffentliche Auftraggeber tätig werden (Beispiel: Straßen NRW und neue Autobahn GmbH). Es sollte aus der Bekanntmachung klar erkennbar sein, wer der öffentliche Auftraggeber ist.
Beispiel 8
§ 124 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 7 GWB
Die Anwendung der Tatbestandsmerkmale bereitet den öffentlichen Auftraggebern offensichtlich erhebliche Schwierigkeiten, die dann in die Nachprüfungsverfahren getragen werden. Hier geht es insbesondere darum, dass die Vergabekammern innerhalb eines Nachprüfungsverfahrens außervergaberechtliche Streitigkeiten im Rahmen einer sogenannten Inzidentkontrolle mitentscheiden sollen, obwohl das so nicht vorgesehen ist und auch nicht sein sollte. Wann hat ein Unternehmen im Rahmen einer beruflichen Tätigkeit nachweislich eine schwere Verfehlung begangen? Oft stehen ordnungsbehördliche Erlaubnisse dahinter, die nicht verlängert werden, oder strafrechtliche Ermittlungsverfahren, die nicht abgeschlossen sind. Die vorzeitige Beendigung eines Vertragsverhältnisses aufgrund Schlechterfüllung bereitet erhebliche Probleme in der Praxis. Muss die „Beendigung“ unstreitig vorliegen oder reicht es aus, wenn Klagen bei den Zivilgerichten vorliegen bzw. geplant sind? Was ist eine vergleichbare Rechtsfolge?
Beispiel 9
§ 65 Abs. 5 Satz 1 VgV
Die Regelung befindet sich im Abschnitt 3 als Besondere Vorschrift für die Vergabe von sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen. Unter diese Vorschrift fallen nach Anhang XIV der Richtlinie 2014/24/EU auch Sicherheitsdienstleistungen beispielsweise in Flüchtlingsunterkünften oder in öffentlichen Einrichtungen und dem ÖPNV mit dem CPV-Code 79700000 etc.. Die Regelung eröffnet den Vergabestellen die Möglichkeit, die Referenzen des Bieters oder die Referenzen des vom Bieter eingesetzten Personals auf der Ebene der Zuschlagsentscheidung zu berücksichtigen und stellt somit eine Erweiterung des § 58 Abs. 2 Satz 2 Nr.2 VgV dar, der lediglich die Einbeziehung der Qualitätskontrolle bei dem Personal vorsieht, das tatsächlich für den zukünftigen Auftrag eingesetzt werden soll (sog. Projektteams bei Architektenwettbewerben usw.). Diese Vorschrift mag zwar sinnvoll im Bereich von arbeitsmarktpolitischen Dienstleistungen sein, aber nicht bei anderen unter Anhang XIV fallenden Dienstleistungen. Die Vergabekammer Westfalen hat deshalb eine Ausschreibung eines öffentlichen Auftraggebers vollständig aufgehoben, weil die Regelung nach ihrer Auffassung europarechtskonform anzuwenden ist. Die Leistungen des Bieters (Unternehmensreferenzen) dürfen deshalb nicht auf der 4. Wertungsstufe (erneut) berücksichtigt werden. Eine entsprechende Klarstellung wird angeregt.
Beispiel 10
Nachweisführung durch Gütezeichen, § 34 VgV
Die Regelung des § 34 VgV löst Rechtsunsicherheiten aus, da nicht klar ist, ob allein die Forderung des Gütezeichens ausreicht oder aber die einzelnen Anforderungen zu benennen sind.
Beispiel 11
Anforderungen an die ausführenden Personen, § 46 VgV
Für öffentliche Auftraggeber hat die Qualifikation und die Erfahrung des ausführenden Personals erhebliche Bedeutung. Eine ausdrückliche Erwähnung erfahren die ausführenden Personen lediglich unter § 46 Abs. 3 Nr. 2 VgV. Es spricht jedoch vieles dafür, die Anforderungen an die ausführen den Personen auch in § 46 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 VgV hineinlesen zu können. Mangels ausdrücklicher Regelung bedeutet diese Einordnung allerdings Rechtsunsicherheiten.
Beispiel 12
Nachforderung von Unterlagen, § 56 VgV
Bzgl. des ausführenden Personals: Korrespondierend mit den Ausführungen zu den Anforderungen an die ausführenden Personen stellt sich die Frage, ob es sich um unternehmensbezogene bzw. leistungsbezogene Unterlagen oder keine der beiden Alternativen handelt. Sofern man es unter § 46 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 VgV subsumieren würde, wären die Anforderungen als unternehmensbezogene Unterlagen einzuordnen. Dieser Aspekt bedeutet eine weitere Rechtsunsicherheit. Entscheidungsspielräume der Auftraggeber bzgl. der Anwendung der Alternativen des § 56 Abs. 2 VgV: Dem öffentlichen Auftraggeber steht gem. § 56 Abs. 2 S. 1 VgV ein Ermessen bei der Nachforderung von Unterlagen zu. Es stellt sich daher die Frage, ob er ein solches Ermessen auch vorab bei der Festlegung gem. § 56 Abs. 2 S. 2 VgV ausüben kann oder nur ein Verzicht auf jegliche Form der Nachforderung möglich ist.
Beispiel 13
Auslegung von § 135 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB
Gem. § 135 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB tritt die Unwirksamkeit nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB nicht ein, wenn der öffentliche Auftraggeber der Ansicht ist, dass die Auftragsvergabe ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union zulässig ist. Sofern die weiteren Voraussetzungen nach den Nr. 2 und 3 vorliegen, stellt sich die Frage, ob für die Ausnahme von der Unwirksamkeit die Rechtsauffassung des öffentlichen Auftraggebers („der Ansicht ist“) ausreicht.
Frage: Welchen Herausforderungen ist wie zu begegnen?
Antwort: Es besteht erheblicher gesetzgeberischer Verbesserungsbedarf.
Beispiel 1
In jüngerer Zeit haben sich Marktsegmente entwickelt, bei denen die Markteilnehmer feste Leistungsmodelle entwickelt haben, die von Anbieter zu Anbieter nicht mehr 1:1 verglichen werden können. Vielfach werden Leistungsgegenstände nur Online vermarktet. Hier besteht in vielen Fällen nicht das Interesse der Anbieter, individuelle Angebote zu erstellen, sich einer Eignungsprüfung zu unterziehen oder auf die Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen zu verzichten. Dieses neue Marktgeschehen korrespondiert nicht mit den Verfahrensregeln des Vergaberechts. Zunächst wären kleinteilige Gegenstände zu nennen, die nahezu nur noch Online erhältlich sind. Soweit hier größere Mengen zu beschaffen sind, könnte der Schwellenwert überschritten werden. In diesem Bereich entfällt dem öffentlichen Auftraggeber aufgrund der starren Vergabevorschriften ein komplettes Marktsegment, welches möglicherweise zu wirtschaftlicheren Ergebnissen führen würde. Insofern wäre eine flexiblere Handhabung in den gennannten Bereichen beispielsweise die Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebots durch andere Mittel als die der Ausschreibung, beispielsweise durch Preisvergleich wünschenswert. Zu nennen sind auch Abonnements von Fotodatenbanken, die Teilnahme an social-media-Kanälen, Öffentlichkeitsarbeit durch klassische Medien (Radiosender, Fernsehen, Zeitungen) oder die Beschaffung von Computerlizenzen. Soweit Vergaben auf die Nutzung elektronischer Medien gerichtet sind, stellt das die Vergabestellen vor neue Herausforderungen. Im Bereich der sog. social media, wie z.B. Facebook, Twitter oder Instagram bestehen von den Anbietern vorgegebene Leistungspakete, von denen sie nicht abzuweichen bereit sind. Typischerweise geben solche Marktteilnehmer keine Angebote in einem Vergabeverfahren ab. Auch gibt es im Bereich der sozialen Medien keine vergleichbaren Marktteilnehmer. Bestimmte Anbieter webbasierter Medien verfügen quasi über eine Monopolstellung und sind alternativlos zu beauftragen. Um die Bevölkerung flächendeckend zu erreichen, muss wegen des unterschiedlichen Nutzungsverhaltens zudem an mehrere Anbieter vergeben werden. Das aktuelle Vergaberecht bietet keine Handhabe, um auf diese Beschaffungsgegenstände adäquat und flexibel zu reagieren.
Beispiel 2
Eine Ausnahmebestimmung zu Fallkonstellationen, in denen keine wirtschaftliche Fortfüh rung einer bestehenden Leistung außerhalb des bisherigen Vertragspartners erzielt werden kann, wäre wünschenswert. Die Bedingungen des Art. 72 Abs. 1 Buchst. b) i)) und ii)) der RL 2014/24/EU könnten als Maßstab angelegt werden, unter deren Voraussetzung eine Verlängerung der Rahmenvereinbarungslaufzeit in eine unbefristete oder sehr langfristige Laufzeit zulässig ist. In der IT kann dies regelmäßig ein Zeitraum von 10 Jahren sein, nach dem die technischen Novellierungen zu einer Neuaufstellung der Anwendung führen können. Das Ergebnis der derzeitigen Verfahrensweise ist das Risiko des Auftraggebers (hier der Behörde) die in Nutzung befindliche IT-Leistung zur gesetzlichen Aufgabenerfüllung künftig nicht fortgeführt zu erhalten. Denn es besteht das Risiko, dass im Rahmen
eines Vergabeverfahrens aus den vorgenannten Gründen keine Angebote abgegeben werden.
Beispiel 3
Im Bereich der Universitätskliniken ergeben sich aufgrund des § 67 Abs. 1 VgV besondere Herausforderungen. Nach § 67 Abs. 1 VgV sind unter anderem bei der Beschaffung energieverbrauchsrelevanter Waren, technischer Geräte oder Ausrüstungen die in § 67 VgV genannten, besonderen Anforderungen an die Energieeffizienz zu berücksichtigen. In der Leistungsbeschreibung sollen nach § 67 Abs. 2 VgV im Hinblick auf die Energieeffizienz insbesondere folgende Anforderungen gestellt werden: (1.) das höchste Leistungsniveau an Energieeffizienz und, (2.) soweit vorhanden, die höchste Energieeffizienzklasse im Sinne der Energieverbrauchskennzeichnungsverordnung. Ein höchstes Leistungsniveau an Energieeffizienz kann dabei nicht für alle durch ein Universitätsklinikum zu beschaffenden Beschaffungsgegenstände/zu beschaffenden Systeme – dies betrifft vor allem hochkomplexe medizintechnische Großgeräte wie z.B. MRT-Geräte, Linearbeschleuniger, Geräte zur MRT-geführten Strahlentherapie (MR-LINAC), aber ausdrücklich nicht alle durch ein Universitätsklinikum zu beschaffenden Leistungen – ermittelt und folglich auch nicht festgelegt werden. Ebenso wenig ist für entsprechende Systeme eine Kennzeichnung nach der Energieverbrauchskennzeichnungsverordnung (keine produktspezifische Energieeffizienzklassifizierung) vorgeschrieben bzw. vorhanden. Entsprechende Anforderungen nach § 67 Abs. 2 VgV können dementsprechend in diesen Fällen nicht gestellt werden.
Frage: Hilft Fortbildung?
Antwort: Ja. Aber bitte nicht undifferenziert und mit der Gießkanne. Beschaffung ist nicht einfach gleich VgV oder UVgO. Jeder Beschaffungsgegenstand in seinem speziellen Beschaffungskontext erfährt eine andere Behandlung. Das betrifft die Markterkundung oder die Bestimmung der Eignungs- und Auswahl- und Zuschlagskriterien, die Festlegung der Verfahrensart oder der zu beschaffenden Leistung. Stadtwerke haben anders gelagerte Beschaffungsbedarfe als ein Universitätsklinikum. Eine Gemeinde ist anders unterwegs als ein Bundesministerium. Nicht alle haben die gleichen Probleme: Bei der Ausgestaltung und Ausrichtung der Inhalte ist folgende Binnendifferenzierung vorzunehmen und sind die jeweils unterschiedlichen Bedarfs-/ Bedürfnislagen in den Blick zu nehmen: Spezial- und Vertiefungsthemen VgV/ UVgO für Gemeinden, Städte, Kreise, Bezirke, für Bundesländer und Bund, für Hochschulen, Fortbildungseinrichtungen, für Universitätsklinika, Krankenhäuser, für Forschungseinrichtungen, für Messen, Theater, Kultureinrichtungen, für kommunale Betriebe, Stadtwerke, Verkehr, ÖPNV, Wasser, Abwasser, Gas, Strom, für kommunale Bäder, Freibäder, Hallenbäder, Freizeit.
Frage: Kommen auch organisatorische Fragen in Betracht?
Antwort: Ja. Organisatorische Maßnahmen dienen der Zentralisierung von vergaberechtlichen Kenntnissen und Erfahrungen sowie der Korruptionsbekämpfung. Dazu zählen insbesondere die für Behörden und Einrichtungen des Landes zuständigen zentralen Beschaffungsstellen für die Beschaffung von Waren und Dienstleistungen, Bauleistungen und Standard-IT-Leistungen. Mit der grundsätzlichen Trennung von Bedarfs- und Vergabestellen wird die vergaberechtliche Kompetenz gebündelt.
Herr Dr. Ax wir danken für das Gespräch.
Die Fragen stellte VergabePrax-Redakteur T. Schmitt.