Ax Vergaberecht

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Gesamtvergabe darf überhaupt nur bei Vorliegen eines objektiv zwingenden Grundes erfolgen

von Thomas Ax

Nach § 97 Abs. 4 Satz 2 GWB sind Leistungen in Losen zu vergeben.
Hiervon kann nach Satz 3 nur dann abgesehen werden, “wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies
erfordern”. Mit dieser Regelung sollte der Mittelstandsschutz gestärkt werden; es sollten die
Nachteile der mittelständischen Wirtschaft gerade bei der Vergabe großer Aufträge mit einem Volumen, das die
Kapazitäten mittelständischer Unternehmen überfordern könnte, ausgeglichen werden. Deshalb sollte von dem
Gebot der Losvergabe nur in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden können (BT-Drs. 16/10117,
Seite 15).
Dieses klare Regel-Ausnahme-Verhältnis bedeutet nicht, dass eine Gesamtvergabe überhaupt nur bei Vorliegen eines objektiv zwingenden Grundes erfolgen darf. Allerdings ergibt sich aus der klaren Wertung des Gesetzgebers, dass es nicht ausreicht, wenn der Auftraggeber
anerkennenswerte Gründe für die Gesamtvergabe vorbringen kann. Erforderlich ist vielmehr, dass sich der
Auftraggeber im Einzelnen mit dem grundsätzlichen Gebot der Fachlosvergabe einerseits und den im konkreten
Fall dagegen sprechenden Gründen auseinandersetzt und sodann eine umfassende Abwägung der
widerstreitenden Belange trifft, als deren Ergebnis die für eine zusammenfassende Vergabe sprechenden
technischen und wirtschaftlichen Gründe überwiegen müssen.

Innerhalb dieser im Rahmen des § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB vorzunehmenden Interessenabwägung steht
dem öffentlichen Auftraggeber ein Beurteilungsspielraum zu (Kus in Kulartz/Kus/Portz/Prieß, Kommentar zum
GWB-Vergaberecht, 4. Aufl., § 97 Rn. 184; Frenz, GewArch 2018, 95, 96; Stickler in Kapellmann/
Messerschmidt, VOB-Kommentar, 6. Aufl., VOB/A § 5 Rn. 26 a.A. Antweiler in: Burgi/Dreher, Beck’scher
Vergaberechtskommentar, 3. Aufl., § 97 Abs. 4 Rn. 38). Die Frage, ob technische oder wirtschaftliche Gründe
es im Sinne des Gesetzes „erfordern“, von einer Losbildung abzusehen, setzt eine Bewertung voraus. Es
entspricht der ständigen Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Düsseldorf, dass dem Auftraggeber wegen
der dabei anzustellenden prognostischen Überlegungen eine „Einschätzungsprärogative“ zusteht und der
Maßstab der rechtlichen Kontrolle beschränkt ist. Die Entscheidung des Auftraggebers ist von den
Vergabenachprüfungsinstanzen nur darauf zu überprüfen, ob sie auf vollständiger und zutreffender
Sachverhaltsermittlung und nicht auf einer Fehlbeurteilung, namentlich auf Willkür, beruht (vgl. OLG
Düsseldorf, Beschluss vom 1. August 2012, VII-Verg 10/12 „Warnsysteme“, Rn. 52 juris m.w.N.; Beschluss vom
25. April 2012, VII-Verg 100/11 „EDV-Hard- und Software“, Rn. 16 juris; Beschluss vom 21. März 2012, VII-Verg
92/11 “Gebietslose“, Rn. 23 juris; Beschluss vom 11. Januar 2012, VII-Verg 52/11 „Glasreinigung II“, Rn. 17
juris).

Aus der Formulierung, die Norm räume der Vergabestelle kein Ermessen ein, sondern es
handele sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, ergibt sich nichts anderes. Denn in der
verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung sind Beurteilungsspielräume auch bei unbestimmten
Rechtsbegriffen, insbesondere bei Prognoseentscheidungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. April 2002, 9 CN
1/01, Rn. 27 juris), anerkannt. Ob einer hoheitlich tätigen Stelle im Rahmen der Anwendung eines
unbestimmten Rechtsbegriffs eine Beurteilungsermächtigung eingeräumt ist mit der Folge, dass die
Entscheidungen dieser Stelle gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar sind, richtet sich nach dem im Einzelfall
maßgeblichen materiellen Recht und ist, wenn eine ausdrückliche gesetzliche Aussage dazu fehlt, durch
Auslegung entsprechend dem Sinn und Zweck der jeweiligen Vorschrift und unter Berücksichtigung der
Eigenart der einschlägigen Verwaltungsmaterie zu ermitteln (BVerwG, Urteil vom 7. November 1985, 5 C
29/82, BVerwGE 72, 195/199 m.w.N.).
Sinn und Zweck des § 97 Abs. 4 GWB und die Besonderheiten des Vergaberechts sprechen für einen
Beurteilungsspielraum des öffentlichen Auftraggebers. Es überzeugt darauf abzustellen, dass § 97 Abs. 4 GWB im Kontext der primären Ziele des Vergaberechts auszulegen ist, zu denen
insbesondere auch die Wirtschaftlichkeit der Beschaffung gehört. Dabei sind auch die weiteren Grundsätze des
Vergaberechts (Wettbewerb, Transparenz, Gleichbehandlung und Verhältnismäßigkeit) sowie die vom
Gesetzgeber nunmehr in § 97 Abs. 3 GWB normierten strategischen Ziele (Qualität, Innovation, soziale und
umweltbezogene Aspekte) im Blick zu behalten. Das
Vergaberecht soll eine wirtschaftliche und den vom öffentlichen Auftraggeber gestellten Anforderungen
entsprechende Leistungsbeschaffung gewährleisten (Kus a.a.O., Rn. 186). Basiszweck jeder Auftragsvergabe
besteht darin, einen durch die Erfüllung bestimmter Verwaltungsaufgaben hervorgerufenen Bedarf zu decken.
Andererseits unterliegt die Bestimmungsfreiheit des öffentlichen Auftraggebers vergaberechtlichen Grenzen,
die eingehalten sind, sofern die Bestimmung
durch den Auftragsgegenstand sachlich gerechtfertigt ist, vom Auftraggeber dafür nachvollziehbare objektive
und auftragsbezogene Gründe angegeben worden sind und die Bestimmung folglich willkürfrei getroffen
worden ist, und schließlich solche Gründe auch tatsächlich vorhanden (festgestellt und nachgewiesen) sind.
Dies spricht dafür, das Beschaffungsbestimmungsrecht des Auftraggebers im Rahmen der Abwägung bzw. der
Tatbestandsvoraussetzungen einer Losvergabe oder ausnahmsweise erfolgenden Gesamtvergabe zu
berücksichtigen, ohne dass dadurch das Regel-Ausnahme-Verhältnis ins Gegenteil verkehrt würde (Kus a.a.O.
Rn. 176 f.). Die Beschaffungsautonomie ist kein Freibrief für eine Gesamtvergabe. Auch bei komplexen
Projekten genügt es in aller Regel nicht (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 14. Mai 2018, 11 Verg 4/18
„Straßenbetriebsdienst“, Rn. 64 juris), einen einheitlichen Beschaffungsgegenstand zu definieren, ohne sich im
Einzelnen mit dem grundsätzlichen Gebot der Fachlosvergabe auseinanderzusetzen (s.o. Ziffer 2.2.1.1.).
In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte ist die Entscheidung des
Auftraggebers (für eine Gesamtlosvergabe) somit nach Ansicht des Senats darauf zu überprüfen, ob sie auf
vollständiger und zutreffender Sachverhaltsermittlung und nicht auf einer Fehlbeurteilung, namentlich auf
Willkür, beruht (OLG Frankfurt, Beschluss vom 14. Mai 2018, 11 Verg 4/18 „Straßenbetriebsdienst“, Rn. 73
juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. April 2012, VII-Verg 100/11 „EDV-Hard- und Software“, Rn. 16 juris;
Beschluss vom 11. Januar 2012, VII-Verg 52/11 „Glasreinigung II“, Rn. 17 juris).
Grundsätzlich vermag ebenso wenig wie ein erhöhter Koordinierungaufwand die Vermeidung von
„Gewährleistungsschnittstellen“ bzw. von Problemen bei der Mängelbeseitigung eine Gesamtvergabe zu
rechtfertigen. Etwas anders gilt jedoch, wenn diese Gründe mit konkret projekt- bzw. auftragsbezogenen
Gründen einhergehen (Kus a.a.O. 185). So hat es das Oberlandesgericht Brandenburg (Beschluss vom 27.
November 2008, Verg W 15/08, Rn. 74 juris) als ein legitimes Anliegen des öffentlichen Auftraggebers
angesehen, vermeidbare Sicherheitsrisiken bei einem bedeutsamen Verkehrsinfrastrukturprojekt, das als
Flughafen Drehscheibe für viele Millionen Passagiere im Jahr sein solle, auch zu vermeiden, weil nur so die
Sicherheitstechnik mit den geringstmöglichen Sicherheitsrisiken erlangt werden könne.
OLG München, Beschluss vom 25.03.2019, Verg 10 / 18