von Thomas Ax
Die Pandemie und ihre Auswirkungen sind vielfach im maßgeblichen Zeitpunkt der Einleitung des Vergabeverfahrens nicht vorhersehbar gewesen. Die Grundlagen des Vergabeverfahrens haben sich zudem durch die beschlossenen Corona-Schutzmaßnahmen geändert. Dann muss eine wirksame und rechtmäßige Aufhebung möglich sein.
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Ein öffentlicher Auftraggeber ist aufgrund eines einmal eingeleiteten Vergabeverfahrens nicht zur Zuschlagserteilung verpflichtet. Dies folgt aus § 63 Abs. 1 S. 2 VgV. Da ein Kontrahierungszwang der wirtschaftlichen Dispositionsfreiheit des öffentlichen Auftraggebers zuwiderlaufen würde, kann er jederzeit auf die Vergabe eines Auftrags verzichten, unabhängig davon, ob die gesetzlich normierten Aufhebungsgründe erfüllt sind (Senatsbeschluss vom 17. April 2019 – Verg 36/18 -). Liegen Aufhebungsgründe nicht vor, bleibt der Bieter grundsätzlich auf die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen beschränkt (BGH, Beschluss vom 18. Februar 2003, X ZB 43/02 -; Lischka in Müller-Wrede, VgV/UVgO Kommentar, 2017, § 63 VgV Rn. 22).
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2021 – Verg 23/20
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Nur in Ausnahmefällen kann ein Anspruch auf Fortsetzung des Vergabeverfahrens angenommen werden, insbesondere wenn der Auftraggeber für die Aufhebung der Ausschreibung keinen sachlich gerechtfertigten Grund angegeben hat und sie deshalb willkürlich ist oder die Aufhebung bei fortbestehender Beschaffungsabsicht nur zu dem Zweck erfolgt, Bieter zu diskriminieren (BGH, Beschluss vom 20. März 2014, X ZB 18/13 -; Senatsbeschluss vom 10. November 2010 – Verg 28/10 -; OLG Rostock, Beschluss vom 2. Oktober 2019, 17 Verg 3/19 -; Hofmann/Summa in Heiermann/Zeiss/Summa, jurisPK-Vergaberecht, 5. Auflage 2016, § 63 VgV, Stand: 25.03.2019, Rn. 89).
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2021 – Verg 23/20
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Willkürlich ist Verwaltungshandeln nur dann, wenn es unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass es auf sachfremden Erwägungen beruht. Willkür liegt erst dann vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in eklatanter Weise missgedeutet wird (vgl. BVerfGE 74, 102, 127).
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2021 – Verg 23/20
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Die CORONA-bedingte Aufhebungsentscheidung ist rechtmäßig.
Der öffentliche Auftraggeber kann gemäß § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 VgV ein Vergabeverfahren ganz oder teilweise aufheben, wenn sich die Grundlage des Vergabeverfahrens wesentlich geändert hat. Dabei steht dem öffentlichen Auftraggeber bei seiner Entscheidung ein Ermessen zu („ist berechtigt“), das von den Vergabenachprüfungsinstanzen nur eingeschränkt dahin überprüft werden kann, ob die Vergabestelle ihr Ermessen ausgeübt hat, ob sie das vorgeschriebene Verfahren eingehalten hat, von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist und keine sachwidrigen Erwägungen in die Wertung eingeflossen sind. Schließlich hat die Vergabestelle den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (OLG München, Beschluss vom 4. April 2013, Verg 4/13 -; OLG Celle, Beschluss vom 10. Juni 2010, 13 Verg 18/09 jeweils zu gleichlautenden Vorschriften).
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2021 – Verg 23/20
Nach § 63 Abs. 1 VgV entscheidet der öffentliche Auftraggeber über die Aufhebung des Vergabeverfahrens selbst. Die Entscheidung ist nicht delegierbar (Senatsbeschlüsse vom 16. Oktober 2019 – Verg 6/19 -; vom 29. April 2015 – Verg 35/14 -; OLG München, Beschluss vom 15. Juli 2005, Verg 14/05; OLG München, Beschluss vom 29. September 2009, Verg 12/09 – jeweils für Zuschlagsentscheidungen). Die Beteiligung externer Personen ist nur zulässig, solange die Aufhebungsentscheidung vom öffentlichen Auftraggeber selbst getragen wird.
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2021 – Verg 23/20
Die Begründungspflicht bezweckt eine sachgerechte Information des Bieters. Dieser muss in die Lage versetzt werden, die Rechtfertigung für die Aufhebung nachzuvollziehen und unverzüglich seine Betriebsplanung umzustellen. Es besteht indes keine Pflicht der Vergabestelle, den Bietern bereits in dem Mitteilungsschreiben alle Aufhebungsgründe vollständig und erschöpfend mitzuteilen (OLG Koblenz, Beschluss vom 10. April 2003, 1 Verg 1/03 -; Portz in Kulartz/Kus/Marx/Portz/Prieß, Kommentar zur VgV, 2017, § 63 Rn. 75).
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2021 – Verg 23/20
Die Aufhebung des Vergabeverfahrens ist auch materiell rechtmäßig, wenn sich die Grundlage des Vergabeverfahrens durch die pandemische Verbreitung des neuartigen Corona-Virus wesentlich geändert hat.
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2021 – Verg 23/20
Wesentlich sind Änderungen dann, wenn die weitere Durchführung des Verfahrens auf der Grundlage der bisherigen Vergabebedingungen unter den veränderten Umständen nicht mehr möglich oder für den Auftraggeber oder auch für die Bieter nicht mehr zumutbar ist (Senatsbeschluss vom 3. Januar 2005 – Verg 72/04 -; OLG Rostock, Beschluss vom 2. Oktober 2019, 17 Verg 3/19 -; OLG München, Beschluss vom 4. April 2013, Verg 4/13; Mehlitz in Beck’scher Vergaberechtskommentar, 3. Auflage 2019, § 63 VgV Rn. 35; Herrmann in Ziekow/Völlink, 4. Auflage 2020, § 63 VgV Rn. 30). Bei den eingetretenen Änderungen darf es sich nur um solche handeln, die bis zum Zeitpunkt der Einleitung des Vergabeverfahrens nicht vorhersehbar waren (Senatsbeschluss vom 3. Januar 2005 – Verg 72/04 -).
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2021 – Verg 23/20
Solche Gründe liegen vor, wobei die Rechtmäßigkeitsüberprüfung der Aufhebung nicht auf den Grund beschränkt ist, den die Vergabestelle den Bietern mitgeteilt hat. Das widerspräche dem im Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer und in der Beschwerdeinstanz gleichermaßen geltenden Untersuchungsgrundsatz (§§ 163 Abs. 1 S. 1, 175 Abs. 2,70 Abs. 1 GWB), der zur umfassenden Erforschung des für die geltend gemachte Rechtsverletzung relevanten Sachverhalts verpflichtet. In die Überprüfung der Aufhebungsentscheidung können alle Gründe mit einbezogen werden, die Grundlage der Entscheidung der Vergabestelle gewesen sind (OLG Koblenz, Beschluss vom 10. April 2003, 1 Verg 1/03 -).
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2021 – Verg 23/20
Das ist der Fall, wenn der Beschaffungsbedarf entfällt. Unschädlich ist, wenn der Wegfall des Beschaffungsbedarfs auf einer prognostischen Entscheidung gründet.
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Unschädlich ist, wenn der Aufhebungsgrund erst im Laufe des Vergabenachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer konkretisiert wird. Insoweit liegt weder ein Begründungs- noch ein Dokumentationsmangel vor. Zwar sind nach § 8 Abs. 2 S. 2 Nr. 8 VgV im Vergabevermerk die Gründe, aus denen der öffentliche Auftraggeber auf die Vergabe eines Auftrags verzichtet hat, zu dokumentieren. Die Begründung muss einzelfallbezogen sein.
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2021 – Verg 23/20
Der Dokumentationsmangel kann im Nachprüfungsverfahren geheilt werden. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Senats, dass Begründungs- und Dokumentationsmängel durch nachgeschobenen Vortrag im Nachprüfungsverfahren geheilt werden, solange sich keine Anhaltspunkte für Manipulationen finden und nicht zu besorgen ist, dass die Berücksichtigung der nachgeschobenen Dokumentationen nicht ausreichen könnte, um eine wettbewerbskonforme Auftragserteilung zu gewährleisten (BGH, Beschluss vom 8. Februar 2011, X ZB 4/10 – ; Senatsbeschlüsse vom 21. Oktober 2015 – Verg 28/14 -; vom 12. Februar 2014 – Verg 29/13 -, und vom 7. November 2012 – Verg 24/12 -; OLG Celle, Beschluss vom 12. Mai 2016, 13 Verg 10/15 -). Eine nachträgliche Heilung ist demnach möglich, wenn die Vergabestelle ihre Erwägungen im Laufe des Nachprüfungsverfahrens lediglich ergänzt und präzisiert (Senatsbeschluss vom 23. März 2011 – Verg 63/10; Voppel in Voppel/Osenbrück/Bubert, 4. Auflage 2018, § 8 VgV Rn. 30). Kann eine Vergabeentscheidung hingegen im Nachhinein nicht mehr aufgeklärt werden und ist die Begründung nicht nachvollziehbar, führt der Dokumentationsmangel dazu, dass das Vergabeverfahren ab dem Zeitpunkt, in dem die Dokumentation unzureichend ist, zu wiederholen oder bei schweren Mängeln aufzuheben ist (Müller in Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, 2. Auflage 2018, § 8 VgV Rn. 52). Zur Abgrenzung können auch die anerkannten Grundsätze zum Nachschieben von Gründen im Verwaltungsprozess entsprechend herangezogen werden (Senatsbeschluss vom 8. September 2011 – Verg 48/11 -; Conrad in Gabriel/Krohn/Neun, Handbuch des Vergaberechts, 2. Auflage 2017, § 36 Rn. 50), wonach ein Nachschieben tragender Erwägungen und damit wesentlicher Teile des Streitstoffes unzulässig ist (Riese in Schoch/Schneider, VwGO, Werkstand: 39. EL Juli 2020, § 113 Rn. 37 f. und § 114 Rn. 262).
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Zwar muss der öffentliche Auftraggeber bei seiner Aufhebungsentscheidung dem mit Rücksicht auf die mit der Teilnahme am Vergabeverfahren verbundenen Aufwendungen berechtigten Vertrauen des Bieters Rechnung tragen, dass das Vergabeverfahren im Regelfall durch Zuschlag beendet wird. Je weiter das Vergabeverfahren fortgeschritten ist, desto mehr Gewicht erlangt das Vertrauen des Bieters in dessen Abschluss durch Zuschlagserteilung (BayObLG, Beschluss vom 15. Juli 2002, Verg 15/02 -; Lischka in Müller-Wrede, VgV/UVgO Kommentar, 2017, § 63 VgV Rn. 35; Portz in Kulartz/Kus/Marx/Portz/Prieß, Kommentar zu VgV, 2016, § 63 Rn. 35).
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2021 – Verg 23/20