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Kein nachbarlicher Abwehranspruch bei wechselseitigen Abstandsflächenrechtsverletzungen

Ein Grund­stücks­eigen­tümer kann nicht unter Hinweis auf einen Verstoß gegen Ab­stands­flächen­regelungen gegen eine nachbarliche Baugenehmigung klagen, wenn er in gleicher Weise gegen das Abstandsrecht verstößt.

OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18.06.2020 – 7 A 1510/18
 
Gründe

I.

Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks Gemarkung L. , Flur …, Flurstück … mit der Bezeichnung C. Straße 25 in L. . Das Grundstück ist im östlichen Teil zurC. Straße hin mit einem mehrgeschossigen, denkmalgeschützten Wohn- und Geschäftshaus bebaut. Im hinteren Grundstücksbereich setzt sich die mehrgeschossige Bebauung auf dem nördlichen und westlichen Teil des Grundstücks fort. Das Grundstück umschließt einen Innenhof. Das Grundstück Gemarkung L. , Flur …, Flurstück … mit der postalischen Anschrift C1. Straße 23 grenzt südlich an das Grundstück des Klägers an. Am 15.2.2016 beantragte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung zur Änderung des vorhandenen Wohngebäudes auf dem Grundstück C1. Straße 23 durch An- und Umbau eines Mehrfamilienhauses mit kleiner Büroeinheit. Für das Vorhaben der Beigeladenen erteilte die Beklagte am 28.2.2017 die Baugenehmigung. Nach dem Lageplan zu der Baugenehmigung liegen etwa 80 m² Abstandsflächen, die das Gebäude des Klägers wirft, auf dem Vorhabengrundstück. Zugleich liegen etwa 65 m² der Abstandsflächen, die das Bauvorhaben der Beigeladenen wirft, auf dem Grundstück des Klägers. Die Abstandsflächen beider Gebäude überdecken sich im Bereich des Innenhofs der Hinterhofbebauung.

Der Kläger hat am 10.5.2017 Klage gegen die ihm am 15.4.2017 zugestellte Baugenehmigung erhoben. Zur Begründung hat er im Wesentlichen vorgetragen: Die Baugenehmigung verstoße gegen Abstandsrecht. Die Voraussetzungen für eine Abweichung von § 6 Abs. 2 BauO NRW lägen nicht vor. Die von dem Vorhaben der Beigeladenen ausgelösten Abstandsflächen lägen zu einem erheblichen Teil auf seinem Grundstück. Eine Kompensation der gegenseitigen Abstandsflächenverstöße liege nicht vor. Die Verstöße seien qualitativ und quantitativ nicht vergleichbar. Die Beklagte habe auch ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Sie habe die Auswirkungen des Vorhabens auf Belichtung und Belüftung der Gebäude nicht hinreichend ermittelt und sich bezüglich der gegenseitigen Abstandsflächenverstöße auf einen einfachen Flächenvergleich berufen. Die Beklagte habe zur Belüftung lediglich ausgeführt, es ergebe sich kein negativer Einfluss. Die Erwägungen zur Belichtung seien widersprüchlich. Einerseits werde eine Veränderung eingeräumt, andererseits werde ausgeführt, die Beeinträchtigung sei nicht stärker als im Bestand. Bezüglich der Frage der Besonnung sei nur die Situation im Winter berücksichtigt worden. Eine direkte Besonnung der unteren Geschosse sei schon im Bestand nicht gegeben. Für die Sommerzeit trete durch das Vorhaben eine Verschlechterung ein, die nicht berücksichtigt worden sei. Das Vorhaben der Beigeladenen sei zudem rücksichtslos. Ein sicherheitsrechtliches und gesundheitliches Minimum sei nicht mehr gewahrt. Das geplante Bauvorhaben sei mit der abgerissenen früheren Bebauung im Hinterhof nicht vergleichbar. Insbesondere habe es keinen rückwärtigen Querbau gegeben. Die abgerissene Bebauung genieße im Übrigen keinen Bestandschutz. Mit einer Neuerrichtung habe er, der Kläger, nicht rechnen müssen.

Der Kläger hat beantragt,

die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Beklagten vom 28.2.2017 aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat sie im Wesentlichen vorgetragen: Der Kläger könne sich nach Treu und Glauben nicht auf die Abstandsflächenverstöße der Beigeladenen berufen, da er die Abstandsflächen mindestens in vergleichbarem Umfang selbst nicht einhalte. Der Abstandsflächenverstoß durch das Vorhaben führe gemessen am Schutzzweck der verletzten Vorschrift auch nicht zu untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Beeinträchtigungen. Der Abstandsflächenverstoß durch das Gebäude des Klägers sei sogar größer als der des Gebäudes der Beigeladenen. Auch die qualitativ wertende Betrachtung spreche für die Beigeladene. Zu berücksichtigen sei das gesetzgeberische Ziel der Nachverdichtung, welches auch im Entwurf der neuen Landesbauordnung und der Gesetzesbegründung deutlich zum Ausdruck komme. Die im Bestand bereits vorhandenen Belichtungsdefizite und Besonnungsdefizite würden durch den Neubau nicht erheblich gesteigert. Weiterhin sei zu berücksichtigen, dass die Planung nur Auswirkungen auf die südliche Fassade und die dort vorhandenen Fensteröffnungen habe. Alle Wohneinheiten würden jedoch auch durch die westlichen bzw. östlichen Fenster belichtet. Nach der Stellungnahme des Sachverständigenbüros Peutz würden die Anforderungen der DIN …. an eine Mindestbesonnung der Fassaden für die dort genannten Stichtage eingehalten.

Die Beigeladene hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat im Wesentlichen vorgetragen: Auf dem Grundstück habe sich bereits zuvor eine großzügige Innenhofbebauung befunden. Der Kläger könne sich nach Treu und Glauben nicht auf einen Verstoß des Vorhabens gegen Abstandsrecht berufen, wie die Beklagte zutreffend ausgeführt habe. Das Vorhaben sei auch nicht rücksichtslos.

Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung der Klageabweisung im Urteil vom 27.2.2018 Wesentlichen ausgeführt, der Kläger könne sich nicht auf einen Verstoß gegen § 6 BauO NRW berufen, die Geltendmachung eines solchen Abwehrrechts stelle sich als unzulässige Rechtsausübung dar.

Zur Begründung der vom Senat zugelassenen Berufung macht der Kläger im Wesentlichen geltend: Die Baugenehmigung verstoße gegen § 34 BauGB. Sie verletze das im Merkmal „Einfügen“ enthaltene Gebot der nachbarlichen Rücksichtnahme. Das genehmigte Gebäude füge sich nach der Grundfläche, die überbaut werden solle, nicht in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Die Westseite der C1. Straße sei in diesem Bereich höhergeschossig mit überwiegend fünfgeschossigen Häusern bebaut. Der Bereich hinter dieser straßenseitigen Bebauung sei ausweislich der amtlichen Flurkarte aus dem Jahr 2016 ungeordnet bebaut und nicht Ausdruck eines bestimmten städtebaulichen Konzepts. Die genehmigte Bebauung führe zusammen mit der Bebauung auf dem Flurstück … zu einer selbst für einen innerstädtischen Bereich ungewöhnlichen Verdichtung. Als Freiraum (Innenhof) verbleibe für beide Grundstücke gemeinsam eine Fläche von 16 m mal 7 m über alle Geschosse mit einer gesamten Höhe von immerhin 20 m, die sich in der Örtlichkeit als ein Schacht zwischen hohen Wänden darstelle. Dabei sei auch von Bedeutung, dass der Fußboden des obersten Geschosses des genehmigten Gebäudes etwa 1,90 m über dem Fußboden des vorhandenen obersten Geschosses auf seinem Grundstück liege. Eine solche Anordnung sei in der näheren Umgebung ohne Vorbild. Mit der

§ 34 BauGB nicht entsprechenden Bebauung werde auch zu seinen Lasten das Gebot der Rücksichtnahme verletzt. Das ergebe sich daraus, dass der geforderte Abstand nach § 6 BauO NRW bei weitem nicht eingehalten werde. Dadurch werde insbesondere die Belichtung über die in der Fassade des Hinterhauses befindlichen Fenster erheblich eingeschränkt. Hinzu komme, dass das ebenfalls fünfgeschossige Quergebäude eine Luftzirkulation verhindere, wodurch gesunde Wohnverhältnisse nicht gewährleistet seien. Nach der Rechtsprechung indiziere die mit der Überdeckung von Abstandsflächen einhergehende Unterschreitung der abstandsrechtlich geforderten Gebäudeabstände grundsätzlich, dass die allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohnverhältnisse und Arbeitsverhältnisse nicht gewahrt seien, wenn nicht ein Ausnahmefall vorliege, der durch besondere örtliche Verhältnisse oder eine besondere planerische oder bauliche Situation gekennzeichnet sei. Mit der genehmigten hofseitigen Bebauung werde auch nicht eine frühere Bebauung ersetzt, die die baurechtliche Situation weiterhin nachhaltig präge. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, jedenfalls bis März 2005 habe sich auf dem südlichen Teil des Grundstücks rückwärtig noch eine Hinterhofbebauung befunden, treffe nicht zu. Als er, der Kläger, das Grundstück im Jahr 1998 erworben habe, sei eine rückwärtige Bebauung auf dem Nachbargrundstück nicht mehr vorhanden gewesen, damals sei der Hinterhof zum Abstellen von Kraftfahrzeugen genutzt worden. Das Vorhaben der Beigeladenen verstoße gegen Abstandsrecht. Ihm könne ein eigener Abstandsverstoß nicht vorgehalten werden, weil sein Haus im Zeitpunkt der Errichtung den seinerzeit gebotenen Abstand eingehalten habe; dies stehe nach dem Urteil des 10. Senats des Oberverwaltungsgerichts vom 24.4.2001 – 10 A 1402/98 – einem Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegen. Nachträgliche Änderungen könnten ihm nicht entgegen gehalten werden. Diese seien abstandsrechtlich nach § 6 Abs. 15 BauO NRW a.F. unerheblich. Bei der Beurteilung der objektiven Grundstücksverhältnisse, die das Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit beeinflussten, müsse berücksichtigt werden, dass das Gebäude, welches den nach heutigem Recht erforderlichen Abstand ebenfalls nicht einhalte, unter Denkmalschutz stehe, das Gesetz also eine zur Erhaltung des Abstands notwendige Änderung oder Beseitigung verbiete. Ihm könne als Grundstückseigentümer nicht vorgeworfen werden, dass er die Abstandsvorschriften selbst nicht einhalte, sich also gesetzwidrig verhalte, demgegenüber sei dem Eigentümer des Nachbargrundstücks, d. h. hier der Beigeladenen, die Einhaltung der Abstandsvorschriften auch rechtlich möglich.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie trägt zur Begründung im Wesentlichen vor: Der Kläger könne sich nicht auf einen Verstoß der Beigeladenen gegen Abstandsrecht berufen. Es komme allein auf die objektiven Grundstücksverhältnisse im aktuellen Zustand an. Insbesondere könne er sich nicht darauf berufen, dass sein Gebäude legal errichtet sei. Ungeachtet dessen könne sich der Kläger jedenfalls deswegen nicht auf eine etwaige gesicherte Rechtsposition berufen, weil das Gebäude in abstandsflächenrechtlich relevanter Weise umgestaltet worden sei. Auf dem Dach sei ungenehmigt eine Dachterrasse errichtet worden. Dies dokumentiere ein Luftbild aus 2016. Eine dafür beantragte Genehmigung sei im Jahr 2000 abgelehnt worden. Zudem seien im Innenhof zumindest die Fenster mit balkonartigen Austritten neueren Datums nicht Teil des ursprünglichen Bestands. Das Vorhaben der Beigeladenen füge sich auch nach § 34 BauGB ein. Aus den vom Verwaltungsgericht aufgezeigten Gründen seien auch gesunde Wohnverhältnisse gewahrt.

Die Beigeladene beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie trägt zur Begründung im Wesentlichen vor: Die Baugenehmigung sei nicht nachbarrechtswidrig. Das Vorhaben füge sich nach der überbaubaren Grundfläche in die nähere Umgebung ein. Das Vorhaben führe auch nicht zu einem Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Der Kläger müsse sich entgegenhalten lassen, dass er selbst gegen Abstandsflächenrecht verstoße und sich auf ihren Verstoß nach Treu und Glauben nicht berufen könne. Entgegen seiner Ansicht könne er sich auch nicht auf die zitierte Rechtsprechung des 10. Senats des Oberverwaltungsgerichts berufen. Es komme nicht darauf an, ob sein Haus in Übereinstimmung mit Abstandsflächenrecht zu einem Zeitpunkt vor Inkrafttreten der Bauordnung errichtet worden sei. Es liege nämlich jedenfalls durch nachträgliche ungenehmigte Maßnahmen, etwa die Schaffung einer Dachterrasse und die zum Vorhaben der Beigeladenen ausgerichteten Austritte vor bodentiefen Fenster sowie eine Balkonanlage an der rückwärtigen Fassade des straßenständigen Gebäudeteils, eine abstandsflächenrechtlich maßgebliche nachträgliche Änderung des Bestands vor.

Ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wurde vom Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf das Urteil abgelehnt (2 L 4191/17). Das Vorhaben ist inzwischen verwirklicht. Der Berichterstatter des Senats hat die Örtlichkeit am 13.8.2019 in Augenschein genommen. Wegen der dabei getroffenen Feststellungen wird auf die Terminsniederschrift Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachund Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Vorgänge der Beklagten Bezug genommen.

II.

Der Senat entscheidet über die Berufung des Klägers nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130a VwGO durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

Die Berufung ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, dass die angefochtene Baugenehmigung vom 28.2.2017 gegen Bestimmungen verstößt, die auch seinem Schutz als Nachbar dienen.

Die Baugenehmigung vom 28.2.2017 leidet nicht an einem Verstoß gegen nachbarschützendes Bauordnungsrecht, auf den sich der Kläger berufen kann.

Ein Verstoß gegen nachbarrechtsrelevantes Abstandsrecht gemäß § 6 BauO NRW a. F. liegt allerdings vor, weil das Vorhaben der Beigeladenen Abstandsflächen auslöst, die auf das Grundstück des Klägers fallen.

Das Erfordernis der Einhaltung von Abstandsflächen entfällt nicht im Hinblick auf eine vorhandene geschlossene Bauweise in der maßgeblichen Umgebung nach § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW a. F. bzw. § 6 Abs. 1 Satz 3 BauO NRW 2018 wegen des Vorrangs des Planungsrechts. Soweit – wie hier im rückwärtigen Bereich – nicht an der Grenze, sondern mit Abstand gebaut wird, ist grundsätzlich auch der gesetzlich gebotene Abstand zu wahren.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17.7.2008

– 7 B 195/08 -, BRS 73 Nr. 119 = BauR 2008, 2033.

Das Gebäude der Beigeladenen löst danach im Bereich des Innenhofs eine Abstandsfläche aus, die seitlich auf das Grundstück des Klägers fällt. Dies gilt für den Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung ebenso wie für den Zeitpunkt der Senatsentscheidung.

Nach §6 Abs.1 Satz1 BauO NRW a. F., die im Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung galt, sind vor Außenwänden von Gebäuden Flächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten (Abstandsflächen). Aus dem zum Gegenstand der Baugenehmigung gemachten amtlichen Lageplan ergibt sich, dass die geworfene Abstandsfläche T 5 in einem Umfang von etwa 65 qm auf das Grundstück des Klägers fällt. Diese Beurteilung gilt auch nach Maßgabe des im Zeitpunkt der Senatsentscheidung geltenden Abstandsrechts nach § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW 2018.

Auf diesen Verstoß gegen Abstandsrecht kann sich der Kläger aber nach dem Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben nicht berufen.

Die Geltendmachung eines Abwehrrechts gegen einen nachbarlichen Verstoß gegen Abstandsrecht nach § 6 BauO NRW a. F. bzw. § 6 BauO NRW 2018 stellt sich als unzulässige Rechtsausübung und damit als Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben dar, wenn der Grundstückseigentümer selbst in vergleichbarer Weise gegen Abstandsrecht verstößt. Die Unzulässigkeit der Rechtsausübung ist dabei nicht bezogen auf ein zielgerichtetes Verhalten in der Vergangenheit zu beurteilen, sie knüpft vielmehr an die gegenwärtige Geltendmachung des Abwehrrechts an. Maßgeblich ist, ob der Eigentümer mit der Wahrung von Abstandsflächen die Beachtung einer Vorschrift einfordert, deren Anforderungen er selbst nicht einhält. Das allgemeine Rechtsverständnis billigt es einem Grundstückseigentümer nicht zu, rechtliche Abwehrmaßnahmen gegen eine durch einen Nachbarn hervor gerufene Beeinträchtigung zu ergreifen und zugleich diesem Nachbarn quasi spiegelbildlich dieselbe Beeinträchtigung zuzumuten. Denn der öffentlichrechtliche Nachbarschutz beruht auf einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit, das maßgeblich durch die objektiven Grundstücksverhältnisse geprägt ist. Erst aus der Störung des nachbarlichen Gleichgewichts und nicht schon aus der Abweichung von öffentlichrechtlichen Normen ergibt sich deshalb der Abwehranspruch des Nachbarn.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12.2.2010

– 7 B 1840/09 -, juris und OVG NRW, Urteil vom 26.6.2014 – 7 A 2057/12 -, BRS 82 Nr. 140 = BauR 2014, 1924.

Diese Rechtsprechung steht im Einklang mit verfassungsrechtlichen Vorgaben (Art. 4 Abs. 1 Landesverfassung NRW, Art. 14 GG).

Vgl. VerfGH NRW, Beschluss vom 17.12.2019 – VerfGH 56/19.VB-3 -, BauR 2020, 627.

Die Berufung auf den Verstoß der Beigeladenen gegen Abstandsrecht ist hier eine solche unzulässige Rechtsausübung, weil der Kläger selbst zulasten des Vorhabengrundstücks in erheblicher Weise gegen Abstandsrecht verstößt. Aus dem grün gestempelten Amtlichen Lageplan ergibt sich, dass zumindest eine Abstandsfläche mit einer Ausdehnung von 80 qm vom Gebäude des Klägers geworfen wird und auf das Vorhabengrundstück fällt.

Der Verstoß des Klägers gegen § 6 BauO NRW a. F. bzw. § 6 BauO NRW 2018 ist erheblich, er wiegt bei wertender Gesamtbetrachtung jedenfalls nicht weniger schwer als der Verstoß der Beigeladenen.

Der Verstoß des Klägers gegen § 6 BauO NRW a. F. bzw. § 6 BauO NRW 2018 ist nicht ausnahmsweise unbeachtlich.

Es kommt nicht darauf an, inwieweit der aktuelle Bestand überhaupt genehmigt ist. Dass eine Genehmigung den Verstoß im Nachbarverhältnis nicht unbeachtlich macht, ergibt sich aus der bereits vorstehend zitierten Rechtsprechung des Senats. Die Erteilung einer Genehmigung vermag zwar gegenüber der Behörde Bestandsschutz zu vermitteln; sie ändert jedoch nichts an der faktischen Nichteinhaltung der gesetzlich geforderten Abstandsflächen und hat keinen Einfluss auf die zwischen den Nachbarn bestehende Wechselbeziehung.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12.2.2010 – 7 B 1840/09 – , juris, m. w. N.

und OVG NRW, Urteil vom 26.6.2014 – 7 A 2057/12 -, BRS 82 Nr. 140 = BauR 2014, 1924.

Des Weiteren kommt es nicht darauf an, ob das Gebäude des Klägers, wie er geltend macht, ursprünglich abstandsflächenrechtlich legal errichtet worden ist.

Für eine solche Fallgestaltung wurde allerdings in der Vergangenheit vom 10. Senat des OVG vertreten, dass sich ein Nachbar nicht den Einwand der Treuwidrigkeit entgegen halten lassen muss, wenn sich durch spätere Änderungen der Gesetzeslage objektiv ein Abstandsverstoß ergibt.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 24.4.2001 – 10 A 1402/98 -, BRS 64 Nr. 188 = BauR 2002, 295.

Es kann dahinstehen, ob hier eine legale Errichtung des Gebäudes des Klägers überhaupt angenommen werden kann; eine ursprüngliche Baugenehmigung für das nach dem Vortrag des Klägers 1900, vor Inkrafttreten der vom Kläger benannten abstandsrechtlichen Bestimmungen, errichtete Gebäude ist nicht vorgelegt worden; fehlt der Nachweis einer Baugenehmigung, geht dies prozessual grundsätzlich zulasten dessen, der sich auf ihr Vorliegen beruft.

Vgl. etwa OVG NRW, Urteil vom 24.2.2016 – 7 A 19/14 -, BRS 84 Nr. 100 = BauR 2016, 805juris.

Denn aus den von der Beigeladenen und der Beklagten im Berufungsverfahren aufgezeigten Gründen ist das Gebäude des Klägers in abstandsflächenrechtlich relevanter Weise derart baulich geändert worden, dass er sich auf einen abstandsflächenrechtlichen Bestandsschutz nicht berufen kann.

Wird durch eine Änderung eines Gebäudes die Genehmigungsfrage hinsichtlich bauordnungsrechtlicher Belange erneut aufgeworfen, erlischt dadurch ein etwa vorher gegebener baurechtlicher Bestandsschutz.

Vgl. OVG NRW, Urteile vom 27.1.2015

– 7 A 351/13 -, BRS 83 Nr. 85 = BauR 2015, 1467 und vom 24.4.2001 – 10 A 1402/98 -, BRS 64 Nr. 188 = BauR 2002, 295.

Eine solche abstandsrechtlich erhebliche Änderung ist hier jedenfalls durch die – ungenehmigten – baulichen Maßnahmen der Errichtung einer Dachterrasse und der Umgestaltung zahlreicher Fenster der dem Vorhaben zugewandten Innenhoffassade zu bodentiefen Öffnungen mit vorgebauten Austritten erfolgt, so dass sich die Frage, ob das Gebäude das Abstandsflächenrecht einhält, insgesamt neu stellt.

Die vom Kläger errichtete Dachterrasse ist, wie die Beklagte und die Beigeladene dargelegt haben, von abstandsflächenrechtlicher Relevanz. Diese resultiert nicht nur aus der baulichen Erhöhung durch eine Umwehrung, sondern auch aus der typischen Nutzung einer Dachterrasse für Aufenthaltszwecke, die für die abstandsflächenrechtlichen Belange des Sozialabstands in den Blick zu nehmen ist. Soweit der Kläger ausweislich der Feststellungen im Ortstermin des Berichterstatters des Senats begonnen hat, die Dachterrasse zurückzubauen, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Dies ändert nichts daran, dass die Frage der Einhaltung des Abstandsrechts durch die ungenehmigte Errichtung der Dachterrasse neu aufgeworfen werden kann und dann nach dem im maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Abstandsrecht zu beurteilen ist. Die Austritte vor den bodentief umgestalteten Fenstern zum Innenhof sind ebenfalls abstandsflächenrechtlich relevant, wie die Beklagte und die Beigeladene im Berufungsverfahren dargelegt haben. Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung der beiden Maßnahmen stellt sich die Änderung auch für das Abstandsrecht als erheblich dar. Durch die Umgestaltung der Fenster zu bodentiefen Fenstern mit Austritten in Verbindung mit der Dachterrasse wird in erheblichem Umfang die Möglichkeit geschaffen, das Gebäude insbesondere zum Innenhof hin im Freien unter Reduzierung des bisherigen Sozialabstands zu nutzen.

Auf § 6 Abs. 15 BauO NRW a. F. bzw. § 6 Abs. 11 BauO NRW 2018 kann sich der Kläger in diesem Zusammenhang nicht berufen. Der Senat teilt nicht seine Ansicht, dass die in Rede stehenden Änderungen von diesen Regelungen gedeckt sind und sich deshalb die Frage der Einhaltung des Abstandsflächenrechts nicht neu stellt. Bauliche Eingriffe, die das Gebäude – wie hier – so erheblich verändern, dass das geänderte Gebäude nicht mehr mit dem alten, ursprünglich bestandsgeschützten Gebäude identisch ist, sind durch § 6 Abs. 15 BauO NRW a. F. grundsätzlich nicht mehr gedeckt.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 27.1.2015 – 7 A 351/13 -, BRS 83 Nr. 85 = BauR 2015, 1467.

Für das neue Abstandsrecht gilt nicht Anderes. Im Übrigen erscheint zweifelhaft, ob hinsichtlich der Dachterrasse eine Zulassung nach § 6 Abs. 15 Satz 2 BauO NRW a. F. bzw. § 6 Abs. 11 Satz 2 BauO NRW 2018 beansprucht werden könnte, wie der Kläger vorgetragen hat. Ebenso erscheint im Übrigen zweifelhaft, ob die Ausstritte in Verbindung mit der bodentiefen Umgestaltung der Fenster, die sich als Vergrößerung bestehender Öffnungen (vgl. § 6 Abs. 15 Satz 1 Nr. 3 BauO NRW a. F. bzw. § 6 Abs. 11 Satz 1 Nr. 3 BauO NRW 2018) darstellt, danach abstandsflächenrechtlich zulassungsfähig sind; dass sie den Voraussetzungen des § 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 3 BauO NRW a. F. bzw. § 6 Abs. 6 Nr. 2 BauO NRW 2018 genügen, erscheint im Übrigen fraglich; nach den vorliegenden Fotos und Zeichnungen sind etwa im 2. Obergeschoss auf der ca. 16,50 m langen Innenhoffassade an vier Fenstern 1,20 m breite Austritte, an einem Fenster ein etwa 0,80 m breiter Austritt und in der Nähe der rückwärtigen Fassade des straßenständigen Gebäudeteils auf einer Tiefe von knapp 3 m eine Balkonanlage vorhanden.

Danach bedarf es im Übrigen keiner weiteren Vertiefung, welche Bedeutung der genehmigten Errichtung rückwärtiger Balkone (Altane) am straßenständigen Gebäudeteil sowie dem genehmigten Umbau des Dachgeschosses zu Wohnzwecken für die Frage der Einhaltung des Abstandsrechts durch das Gebäude insgesamt zukommt.

Entgegen der im Berufungsverfahren vom Kläger vertretenen Auffassung kommt es für die Relevanz des Abstandsverstoßes nach Auffassung des Senats nicht darauf an, dass das Gebäude des Klägers denkmalrechtlich geschützt ist.

Ein nachbarrechtlich relevanter Verstoß gegen § 34 BauGB liegt nicht vor.

Hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung kommt es insoweit allein darauf an, ob ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme festgestellt werden kann.

Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 22.10.2013 – 10 B 1023/13 -, juris.

Dies ist aus den vom Verwaltungsgericht aufgezeigten Gründen, die durch das Berufungsvorbringen nicht erschüttert werden, weder hinsichtlich der vorhabenbedingten Einschränkung der Besonnung bzw. Belichtung noch hinsichtlich der geltend gemachten Einschränkung der Belüftung des Grundstücks und Gebäudes des Klägers der Fall.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 162 Abs. 3 VwGO; es entspricht der Billigkeit, dem Kläger auch die im Berufungsverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen; sie hat im Berufungsverfahren einen Sachantrag gestellt und sich damit selbst dem Risiko ausgesetzt, Kosten des Klägers übernehmen zu müssen (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO); angesichts dessen erscheint es billig, den Kläger mit ihren außergerichtlichen Kosten zu belasten.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe im Sinne von § 132 Abs. 2 VwGO nicht ersichtlich sind.