Interview mit Rechtsanwalt Dr. Thomas Ax
Die Fragen stellte VergabePrax-Redakteur Tobias Schmitt.
Frage: Wenn die sich ausbreitende Corona-Pandemie Auswirkungen auf die Vertragserfüllung hat: Wie ist vertragsrechtlich umzugehen mit Störungen während der Leistungserbringung?
Antwort: Die Corona-Pandemie ist grundsätzlich geeignet, den Tatbestand der höheren Gewalt auszulösen. Höhere Gewalt ist ein unvorhersehbares, von außen einwirkendes Ereignis, das auch durch äußerste, nach der Sachlage zu erwartende Sorgfalt wirtschaftlich vertretbar nicht abgewendet werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit hinzunehmen ist.
Frage: Kann das Vorliegen dieser strengen Voraussetzungen in der jetzigen Ausnahmesituation pauschal angenommen werden?
Antwort: Nein, das muss im Einzelfall geprüft werden. Grundsätzlich muss derjenige, der sich darauf beruft, die die höhere Gewalt begründenden Umstände darlegen und ggf. beweisen. Beruft sich der Unternehmer also auf höhere Gewalt, müsste er darlegen, warum er seine Leistung nicht erbringen kann.
Frage: Wann kann das der Fall sein?
Antwort: Z.B., weil ein Großteil der Beschäftigten behördenseitig unter Quarantäne gestellt ist und er auf dem Arbeitsmarkt oder durch Nachunternehmer keinen Ersatz finden kann, seine Beschäftigten aufgrund von Reisebeschränkungen den Ort der Leistungserbringung nicht erreichen kennen und kein Ersatz möglich ist, er die für die Leistungserbringung notwendige Ausstattung nicht beschaffen kann. Übrigens: Kostensteigerungen sind dabei nicht grundsätzlich unzumutbar.
Frage: Was muss der Auftragnehmer darlegen?
Antwort: Die Darlegungen des Auftragnehmers müssen das Vorliegen höherer Gewalt als überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen, ohne dass sämtliche Zweifel ausgeräumt sein müssen. Auf Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Bescheinigungen und Nachweisen ist mit Blick auf die Überlastung von Behörden und die stark reduzierte Geschäftstätigkeit der Privatwirtschaft Rücksicht zu nehmen. Dies bedeutet, die vom Auftragnehmer geforderten Darlegungen im Einzelfall mit Augenmaß, Pragmatismus und mit Blick auf die Gesamtsituation zu handhaben.
Frage: Was reicht nicht?
Antwort: Der bloße Hinweis auf die Corona-Pandemie und eine rein vorsorgliche Arbeitseinstellung erfüllt den Tatbestand der höheren Gewalt nicht. Dies gilt insbesondere, falls der Auftragnehmer schon bei der bisherigen Leistungserbringung Schwierigkeiten hatte und sich nun auf die Corona-Pandemie beruft.
Frage: Kann höhere Gewalt auch auf Seiten des Auftraggebers eintreten?
Antwort: Ja, absolut. Höhere Gewalt kann auch auf Seiten des Auftraggebers eintreten, beispielsweise, weil die Projektleitung unter Quarantäne gestellt wird. Dabei wäre dann – entsprechend der an die Auftragnehmer gestellten Anforderungen und nach denselben Maßstäben – zu dokumentieren, dass und warum die Projektleitung nicht aus dem Homeoffice erfolgen kann, oder dass und warum keine Vertretung organisiert werden kann.
Frage: Mit welchen rechtlichen Folgen?
Antwort: Falls das Vorliegen höherer Gewalt im Einzelfall angenommen werden kann, verlängern sich Ausführungsfristen automatisch um die Dauer der Behinderung zuzüglich erforderlicher Zeit für die Wiederaufnahme der Leistung. Beruft sich der Auftragnehmer nach den o.g. Maßstäben zu Recht auf höhere Gewalt, entstehen gegen ihn keine Schadens- oder Entschädigungsansprüche.
Frage: Behinderung und Behinderungsfolgen?
Antwort: Bei höherer Gewalt gerät auch der Auftraggeber nicht in Annahmeverzug; die Voraussetzungen des § 642 BGB liegen nicht vor. Ich verweise gerne auf BGH, Urteil vom 20.4.2017- VII ZR 194/13: die dortigen Ausführungen zu außergewöhnlich ungünstigen Witterungsverhältnisses sind – erst recht – auf eine Pandemie übertragbar. Das gilt insbesondere auch für Fallkonstellationen, in denen eine Vorleistung aufgrund höherer Gewalt nicht rechtzeitig erbracht werden kann und nun das nachfolgende Gewerk deswegen Ansprüche wegen Behinderung gegen den Auftraggeber erhebt
Danke für das Interview.