von Thomas Ax
Es ist umstritten, wie weitgehend der Amtsermittlungsgrundsatz des § 163 Abs. 1 GWB durch die Rügeobliegenheit begrenzt wird. Im Allgemeinen wird die Auffassung vertreten, dass Vergaberechtsfehler dann nicht von Amts wegen berücksichtigt werden dürfen, wenn eine entsprechende Rüge nach § 160 Abs. 3 GWB präkludiert wäre oder ist, da eine Rügepräklusion ihren Sinn verlöre, wenn der Mangel dennoch von Amts wegen eingeführt werden könnte (vgl. OLG Düsseldorf B. v. 23.06.2010 – Verg 18/10; OLG Schleswig B. v. 15.04.2011 – Verg 10/10).
Vielfach ist schon fraglich, ob die von Amts wegen zu berücksichtigenden Verstöße für die ASt überhaupt erkennbar im Sinne des § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 GWB waren. Die Erkennbarkeit muss sich dabei sowohl auf die den Verstoß begründenden Tatsachen als auch auf deren rechtliche Beurteilung beziehen. Der Verstoß muss so offensichtlich sein, dass er einem durchschnittlich erfahrenen Bieter bei der Vorbereitung seines Angebotes auffallen muss.
So können von einem durchschnittlich fachkundigen Bieter vertiefte Rechtskenntnisse, die es erlauben, die Vergaberechtskonformität eines Bewertungssystems zu beurteilen, nicht erwartet werden (vgl. OLG Düsseldorf, B. v. 28.09.2022 – VII-Verg 2/22).
Eine Ausnahme von diesem Grundsatz wird in ganz besonders gelagerten Fällen für gerechtfertigt gehalten, nämlich dann, wenn ein so schwerwiegender Fehler vorliegt, dass eine tragfähige Zuschlagsentscheidung bei einer Fortsetzung des Verfahrens praktisch nicht möglich ist, etwa weil nur willkürliche oder sachfremde Zuschlagskriterien verbleiben oder das vorgegebene Wertungssystem so unbrauchbar ist, dass es jede beliebige Zuschlagsentscheidung ermöglicht (vgl. OLG München, B. v. 10.08.2017 – Verg 3/17).
Diese Voraussetzungen sind gegeben, wenn die Vergaberechtsfehler die Fortsetzung des Vergabeverfahrens unmöglich machen, weil eine vergaberechtskonforme Wertung der vorliegenden Angebote und ein entsprechender Zuschlag auf der Grundlage der vorliegenden Ausschreibung nicht möglich ist (vgl. OLG Celle, B. v. 02.02.2021 – 13 Verg 8/20).