von Thomas Ax
Gem. § 60 Abs. 1 VgV verlangt der öffentliche Auftraggeber vom Bieter Aufklärung, wenn der Preis oder die Kosten eines Angebots im Verhältnis zu der zu erbringenden Leistung ungewöhnlich niedrig erscheinen. Wann letzteres der Fall ist, entscheidet der öffentliche Auftraggeber vor der eigentlichen Aufklärung auf Grundlage eines ihm zukommenden, von den Nachprüfungsinstanzen nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraums (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 02.05.2018, VII-Verg 3/18). Der Beurteilungsspielraum ist von den Nachprüfungsinstanzen nur darauf hin überprüfbar, ob der öffentliche Auftraggeber den Sachverhalt vollständig ermittelt, die Entscheidung nachvollziehbar begründet und nicht willkürlich getroffen hat (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.12.2017, Verg 8/17). Für seine Beurteilung kann er die ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen wie die Angebotssummen anderer Bieter, eine ordnungsgemäß aufgestellte Kostenschätzung und/oder Daten aus früheren Ausschreibungen als Vergleichsmaßstab heranziehen (VK Westfalen, Beschluss vom 24.11.2021, VK 1 – 49/21 m. w. N.).
Die Festlegung einer starren, internen Aufgreifschwelle, die sich nicht an der Angebotsstruktur im konkreten Vergabeverfahren orientiert, verstößt gegen das Transparenz- und Nichtdiskriminierungsgebot, wenn sie erst nach Ablauf der Angebotsfrist festgelegt wird. Dürfte ein Auftraggeber erst nach Angebotsabgabe, also in Anbetracht der Angebotssummen anderer Bieter, eine starre Aufgreifschwelle, die sich nicht an der Angebotsstruktur im konkreten Vergabeverfahren orientiert, festlegen, so würde hiermit der Möglichkeit Tür und Tor geöffnet, gezielt Angebote, die im Gefüge der konkreten Angebotsstruktur keine Anhaltspunkte für einen ungewöhnlich niedrigen Preis bieten, durch die nachträgliche Festlegung einer starren Aufgreifschwelle, dennoch einer Preisprüfung zu unterziehen. Nachweisbar wäre dies im Einzelfall nicht. Dass eine intern gebildete Aufgreifschwelle den Bietern nach der Rechtsprechung nicht vorab mitgeteilt werden muss (vgl. VK Bund, Beschluss vom 15.10.2014 – VK 2-83/14), steht dem Erfordernis einer Festlegung und entsprechenden Dokumentation vor Angebotsöffnung nicht entgegen.
Bezugspunkt für die prozentuale Abweichung ist nach der Rechtsprechung das nächst höhere Angebot. Dieses ist nach der obergerichtlichen Rechtsprechung regelmäßig mit 100 % anzusetzen (OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. Juli 2022 – 11 Verg 4/22 -; OLG Düsseldorf Beschluss v. 30.4.2014 – Verg 41/13). Setzt man das Angebot der Beigeladenen mit 100 % an, ergibt sich ein Preisabstand zur Antragstellerin von unter 16 %.
Bei der Ermittlung der Vergleichsangebote, dürfen Angebote von Bietern, die aufgrund von Ausschlussgründen mit kalkulationserheblicher Bedeutung auszuschließen sind, wie etwa bei einer Änderung der Vergabeunterlagen, nicht berücksichtigt werden (Ziekow/Völlink/Steck, 4. Aufl. 2020, VgV § 60 Rn. 3). Umgekehrt darf der Auftraggeber bei der Ermittlung des Bezugsangebots solche Angebote nicht unberücksichtigt lassen, die lediglich aus Gründen ausgeschlossen wurden, welche sich auf die Seriosität der Preisbildung nicht auswirken. Denn auch diese Angebote spiegeln das aktuelle Preisniveau am Markt wider.
Ließe man diese bei der Betrachtung außer Acht, so würde ein Angebot je nach Stand des Vergabeverfahrens möglicherweise an unterschiedlichen Bezugsangeboten gemessen. Es könnte je nach Bezugsangebot mal unangemessen niedrig und mal nicht erscheinen. Zur Beantwortung der Frage, ob das niedrigere Angebot unangemessen niedrig ist, ist ein solcher Ansatz ungeeignet.
Zwar steht die Wahl eines geeigneten sachgerechten Bezugspunkts für die Annahme eines unangemessen niedrigen Angebots dem Auftragsgeber grundsätzlich frei (OLG Frankfurt, Beschluss vom 28.07.2022 – 11 Verg 4/22). Der zulässige Rahmen wird jedoch hierbei von § 60 Abs. 1 VgV vorgegeben. Anlass zur Aufklärung müssen demnach der Preis oder die Kosten eines Angebots im Verhältnis zur erbringenden Leistung sein. Kalkulationsfehler in einem früheren Vergabeverfahren – wenn sie auch eingeräumt wurden – lassen per se keinen Rückschluss auf einen ungewöhnlich niedrigen Preis in einem neuen Vergabeverfahren zu.
Noch vor Einleitung der Preisprüfung ist eine Feststellung des öffentlichen Auftraggebers erforderlich, dass das Angebot ungewöhnlich niedrig ist (OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. Juli 2022 – 11 Verg 4/22). Der Auftraggeber muss zunächst das Angebot anhand der vorliegenden Unterlagen prüfen. Erst und wenn sich das Angebot nicht mit den vorhandenen Unterlagen beurteilen lässt, ist der Bieter zur Aufklärung aufzufordern. Enthält das zu prüfende Angebot bereits eine ausführliche Kalkulationstabelle zur Zusammensetzung des SVS, aus der sich die Höhe der vom Bieter getätigten Zuschläge bereits entnehmen lässt, liegen die Kalkulationsgrundlagen insofern bereits offen. Bei der Entscheidung der Frage, ob das Angebot ungewöhnlich oder unangemessen niedrig ist, kommt dem öffentlichen Auftraggeber im Rechtssinn kein Beurteilungsspielraum zu (OLG Düsseldorf Beschl. v. 30.4.2014 – VII-Verg 41/13). Die genannten Prüfungskriterien stellen unbestimmte Rechtsbegriffe dar. Unbestimmte Rechtsbegriffe lassen nur eine richtige Deutung zu, unter die der Sachverhalt zu subsumieren ist (OLG Düsseldorf, aaO).
Auch nach Durchführung der Preisaufklärung darf der öffentliche Auftraggeber ein Angebot nur auf feststehender, tatsächlich gesicherter Tatsachengrundlage ausschließen, insbesondere müssen die Zweifel an der Auskömmlichkeit des Angebots plausibel sein und auf einer tragfähigen Grundlage beruhen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 6. August 2014 – 15 Verg 7/14). Den Erwägungen des Auftraggebers muss sich dem entsprechend mit der gebotenen Gewissheit entnehmen lassen, dass der angebotene Preis nicht die Kosten deckt. Dem genügt es nicht, wenn der Auftraggeber zu zahlreichen Einzelpositionen nur eine eigene Kalkulation gegen die des Bieters setzt, ohne dass nachvollziehbar wird, dass er die Grenze der Auskömmlichkeit berechnet hat (OLG Karlsruhe, aaO).
Nicht zuletzt muss sich die Bewertung, dass die Aufklärung nicht zu einer zufriedenstellenden Erläuterung des Angebotspreises geführt hat, im Rahmen des eingeräumten Beurteilungsspielraums halten (OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. Juli 2022 – 11 Verg 4/22 -, Rn. 81 – 97; OLG Düsseldorf Beschl. v. 30.4.2014 – VII-Verg 41/13; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 6. August 2014 – 15 Verg 7/14). Wenn auf gesicherter Grundlage feststeht, dass ein Unterkostenangebot vorliegt, muss vom öffentlichen Auftraggeber eine Prognoseentscheidung getroffen werden, ob trotz des niedrigen Angebotspreises eine ordnungs- und vertragsgemäße Leistungserbringung zu erwarten ist (OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. Juli 2022 – 11 Verg 4/22 -). Hierbei hat der öffentliche Auftraggeber eine Preisprüfung im Rechtssinn vorzunehmen (vgl. OLG Düsseldorf Beschl. v. 30.4.2014 – VII-Verg 41/13). Diese muss sich auf den Gesamtpreis und die Einzelpreise des Angebots, die Auskömmlichkeit der Preise und den Gewinn der Bieterin beziehen (OLG Düsseldorf, aaO). Zu prüfen ist, ob die Gefahr besteht, dass der Bieter versucht ist, den Auftrag aufgrund des niedrigen Preises so unaufwändig wie möglich und damit auch nicht vertragsgerecht zu erfüllen (OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. Juli 2022 – 11 Verg 4/22). Die Feststellung unterliegt dabei der wertenden Entscheidung des Auftraggebers (OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. Juli 2022 – 11 Verg 4/22 -). Hierbei ist auch das Verhältnis der ggf. ungedeckten Kosten etwa zum Gesamtumsatz des Bieters zu berücksichtigen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 6. August 2014 – 15 Verg 7/14). Die Prognoseentscheidung des Auftraggebers ist nur eingeschränkt überprüfbar. (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 28.07.2022 – 11 Verg 4/22; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30.04.2014 – VII-Verg 41/13; VK Sachsen, Beschluss vom 25.05.2022 – 1/SVK/005-22).