In dem Vergabenachprüfungsverfahren 1 VK 74/19 hat die VK Baden-Württemberg, Beschluss vom 31.01.2020 – 1 VK 74/19, festgestellt, dass die Vergabekammer sich davon überzeugen können muss, dass Aufträge ohne vorherige Bekanntmachung im Amtsblatt der EU hätten vergeben werden dürfen. Die Voraussetzungen dafür müssen feststellbar sein. Dazu muss die vorgelegte Dokumentation hierzu zureichend sein. Dies verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten aus § 97 Abs. 1 Satz 1 GWB (Transparenzgrundsatz).
Nach § 8 Abs. 1 VgV hat der öffentliche Auftraggeber das Vergabeverfahren von Beginn an fortlaufend in Textform zu dokumentieren, soweit dies für die Begründung von Entscheidungen auf jeder Stufe des Vergabeverfahrens erforderlich ist. Dazu gehört zum Beispiel die Dokumentation der Kommunikation mit Unternehmen und interner Beratungen, der Vergabeunterlagen, der Öffnung der Angebote, der Verhandlungen. Davon ist zu unterscheiden der nach § 8 Abs. 2 VgV zu erstellende Vergabevermerk, der entsprechend der gesetzlichen Intention auf diese Vergabedokumentation aufsetzt.
Damit liegt ein schwerer Vergaberechtsverstoß vor, der auch nicht geheilt werden kann, denn es lässt sich nicht mehr feststellen, welche Gründe und Überlegungen zum maßgeblichen Zeitpunkt der Wahl der Verfahrensart vorlagen.
Ausweislich der gesetzlichen Begründung zur Dokumentationspflicht des § 8 Abs. 1 VgV dient diese dazu, die Entscheidungen des öffentlichen Auftraggebers nachvollziehen und rechtlich prüfen zu können. Die Gesetzesbegründung unterscheidet dabei wie der Gesetzestext zwischen der von Beginn des Verfahrens an bestehenden Dokumentationspflicht in Textform § 8 Abs. 1 VgV und dem anschließend zu fertigenden Vergabevermerk nach § 8 Abs. 2 VgV, BT Drucksache, 18/7318 Seite 151 f.
Zur Möglichkeit der Kompensation von Mängeln hat der BGH in seinem Beschluss vom 08.02.2011, X ZB 4/10 Rdnr. 73 ausgeführt:
„Im Übrigen ist mit Blick auf die Dokumentationspflichten im Allgemeinen zu unterscheiden zwischen dem, was nach § 20 Abs. 1 und 2 VOB/A 2009 oder,§ 24 VOL/A¬EG im Vergabevermerk mindestens niederzulegen ist, und Umständen oder Gesichtspunkten, mit denen die sachliche Richtigkeit einer angefochtenen Vergabeentscheidung außerdem nachträglich verteidigt werden soll. Solche vorgetragenen Überlegungen auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen, kann der Vergabestelle schwerlich generell unter dem Gesichtspunkt fehlender Dokumentation verwahrt werden. Der Auftraggeber kann im Nachprüfungsverfahren nicht kategorisch mit allen Aspekten und Argumenten präkludiert werden, die nicht im Vergabevermerk zeitnah niedergelegt worden sind. Vielmehr ist, soweit es die Frage der möglichen Heilung von Dokumentationsmängeln im Vergabevermerk betrifft, einerseits zu berücksichtigen, dass insbesondere die zeitnahe Führung des Vergabevermerks die Transparenz des Vergabeverfahrens schützen und Manipulationsmöglichkeiten entgegenwirken soll (vgl. Thüringer OLG, VergabeR 2010, 96, 100). Andererseits gibt das Gesetz der Vergabekammer – was für die Beschwerdeinstanz entsprechend zu gelten hat – vor, bei ihrer gesamten Tätigkeit darauf zu achten, dass der Ablauf des Vergabeverfahrens nicht unangemessen beeinträchtigt wird (§ 110 Abs. 1 Satz 4 GWB). Mit dieser dem vergaberechtlichen Beschleunigungsgrundsatz verpflichteten Regelung wäre es, wofür ersichtlich auch das vorlegende Oberlandesgericht hält (in diese Richtung auch OLG München, VergabeR 2010, 992, 1006), nicht vereinbar, bei Mängeln der Dokumentation im Vergabevermerk generell und unabhängig von deren Gewicht und Stellenwert von einer Berücksichtigung im Nachprüfungsverfahren abzusehen und stattdessen eine Wiederholung der betroffenen Abschnitte des Vergabeverfahrens anzuordnen. Dieser Schritt sollte vielmehr Fällen vorbehalten bleiben, in denen zu besorgen ist, dass die Berücksichtigung der nachgeschobenen Dokumentation lediglich im Nachprüfungsverfahren nicht ausreichen könnte, um eine wettbewerbskonforme Auftragserteilung zu gewährleisten.“
In Anwendung dieser BGH-Rechtsprechung zur Dokumentation und zum Nachschieben von Gründen und der Heilung von Dokumentationsmängeln ergibt sich für die Vergabekammer, dass auch nach der BGH-Rechtsprechung vorliegend ein Nachschieben von Gründen nicht zulässig wäre.
Im Ausgangspunkt unterscheidet der BGH zwischen dem Mindestinhalt der Dokumentation und sonstigen (darüber hinausgehenden) Erwägungen. Nach dem Verständnis der Vergabekammer können somit bereits nur darüber hinausgehende Erwägungen nachgeschoben werden. Die zitierte BGH-Rechtsprechung ermöglicht keine Nachbesserung der Pflichtinhalte, die hier aber einschlägig wären.
Vorliegend ist der Mindestinhalt betroffen, vgl. § 8 Abs. 2 Nr. 7 in Verb. mit § 8 Abs. 1 Satz 1 VgV, wonach jede Entscheidung, die einer Begründung bedarf, zu dokumentieren ist. Dies entspricht den Erwägungsgründen 126 und speziell 50 zum Begründungserfordernis von Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb der Richtlinie 2014/24/EU vom 26.02.2014.
Auch allgemein zur Thematik der Dokumentation besagt Art. 84 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2014/24/EU vom 26.02.2014 ausdrücklich: „Zu diesem Zweck stellen sie sicher (Hervorhebung nicht im Original), dass sie über ausreichend Dokumentation verfügen, um Entscheidungen in allen Stufen des Verfahrens zu begründen, z. B. sämtlicher interner Beratungen, der Vorbereitung der Auftragsunterlagen….“ Damit begründet die Richtlinie eine Garantieverpflichtung der öffentlichen Auftraggeber für die ausreichende Dokumentation. Insoweit ist bereits der Anwendungsbereich für eine von der BGH-Rechtsprechung eröffnete Nachbesserung nicht eröffnet, denn die Gründe für die Wahl der Verfahrensart tauchen erstmals im jeweiligen Vergabevermerk auf.
Auch soweit in der Rechtsprechung des BGH Verhältnismäßigkeitsaspekte anklingen, werden diese gewahrt. Der Auftraggeber hat hier die am stärksten wettbewerbsbeschränkende Verfahrensform gewählt, sodass eine sorgfältige Dokumentation in besonderer Weise geboten war, nämlich eine Verhandlung mit nur einem Wettbewerber und zusätzlich einer produktspezifischen Festlegung. Angesichts dieses schweren Eingriffs in den Wettbewerb ist – wie auch die oben angesprochenen Erwägungsgründe der Richtlinie ausführen – ein strenger Maßstab bei der zugrunde zu legenden Dokumentation nicht unverhältnismäßig. Dabei war zu berücksichtigen, dass hier kein einzelnes Defizit in der Dokumentation zu betrachten war, sondern ein fast vollständiger Dokumentationsausfall. An dieser Stelle sei ergänzend darauf hingewiesen, dass das im nicht nachgelassenen Schriftsatz erstmalig geltend gemachte Leistungsbestimmungsrecht des öffentlichen Auftragsgebers auch nicht zu Beginn des Verfahrens dokumentiert wurde.
Als weitere Grenze einer Heilung von Dokumentationsmängeln hat der BGH den Ausschluss von Manipulationsmöglichkeiten festgelegt. Danach dürfte die Heilung nur zugelassen werden, wenn die Möglichkeit einer Manipulation auszuschließen wäre.
Das OLG Karlsruhe hat mit Beschluss vom 31.01.2014, 15 Verg 10/13, Seite 19 im Anschluss an die oben zitierte Entscheidung des BGH einer nachträglichen Dokumentation jedoch in bestimmten Fällen enge Grenzen gesetzt. Dies gilt ausdrücklich für situationsbedingt zu treffende Entscheidungen.
„Jedenfalls in Fällen wie dem vorliegenden, in denen nicht auszuschließen ist, dass durch die nachgeschobene Begründung im Nachhinein eine nicht mit den Grundsätzen des Vergaberechts in Einklang stehende Begründung abgesichert werden soll, ist ein Nachschieben von Gründen nicht zuzulassen. Denn nachgeschobene Erwägungen können die im Vergabeverfahren situationsbezogen zu treffenden Entscheidungen nicht begründen, da sie die aus der Situation gewonnene- Einschätzung für die weitere Vorgehensweise im Hinblick auf ein ausgeschriebenes Vergabe- und Verhandlungsverfahren nicht mehr dokumentieren können.“
Damit können nach Ansicht der Vergabekammer auch wegen der nicht auszuschließenden Möglichkeit einer Manipulation die Aspekte des Vergabevermerks nicht mehr wirksam einbezogen und dem Verfahren zugrunde gelegt werden.
Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob die Vergabekammer wie die Antragstellerin von einer Manipulation ausgeht. Diese sieht eine Manipulation darin, dass die im Vergabevermerk vom 04.12.2019 vorgenommene Abgrenzung zwischen Liefer- und Dienstleistungen erst als Reaktion auf die spätere Rüge vom 06.12.2019 erklärbar wäre und sonst im Vergabevermerk nicht auftauchen würde. Entscheidend ist für die Vergabekammer vielmehr die nicht auszuschließende bloße Möglichkeit einer nachträglichen Rechtfertigung mit Gründen und Umständen, die vorher zum relevanten Zeitpunkt bei der Wahl der Verfahrensart den Auftraggeber nicht zu seiner Entscheidung bewogen haben. Damit Hegen keine berücksichtigungsfähigen Gründe für die Wahl der Verfahrensart vor, die die Vergabekammer prüfen könnte. Die gewählte Verfahrensart ist daher als nicht gerechtfertigt anzusehen und kann wegen des Ausnahmecharakters der Vorschrift nicht als zulässig betrachtet werden. Damit liegt ein Vergaberechtsverstoß vor.