Erfahrungen anderer Vergabestellen können in Eignungsprüfung einbezogen werden
vorgestellt von Thomas Ax
OLG Koblenz, Beschluss vom 16.12.2021 – 12 U 1143/21
1. Bei jeder öffentlichen Ausschreibung ist die Eignung der Bieter zu prüfen. Dabei sind anhand der vorgelegten Nachweise die Angebote der Bieter auszuwählen, deren Eignung die für die Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen notwendigen Sicherheiten bieten.
2. Die Feststellung, ob ein Bieter die erforderliche Fachkunde, Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit besitzt, ist das Ergebnis einer fachlich-tatsächlichen Prognose, die die Vergabestelle im Rahmen eines gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraums trifft.
3. Der Vergabestelle ist es nicht verwehrt, die Erfahrungen anderer Vergabestellen mit dem betreffenden Bieter in ihre Erwägungen im Zusammenhang mit der zu treffenden Zuschlagsentscheidung einzubeziehen.
4. Ein Bieter kann wegen fehlender Zuverlässigkeit von einem Vergabeverfahren ausgeschlossen werden, wenn aus Dokumentationen zu anderen von diesem Bieter ausgeführten Arbeiten hervorgeht, dass es zu zahlreichen Mängelrügen und erheblichen Diskussionen (u. a. wegen Bauzeitverzögerungen) gekommen ist.
Bieterreihenfolge ändert sich nicht: Wertungsfehler sind unbeachtlich
VK Sachsen, Beschluss vom 28.03.2022 – 1/SVK/041-21
1. An den Inhalt von Rügen sind im Allgemeinen keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Der rügende Bieter muss aber grundsätzlich – wenn sich der Vergaberechtsverstoß nicht seiner Einsichtsmöglichkeit entzieht – zumindest Anknüpfungstatsachen oder Indizien vortragen, die einen hinreichenden Verdacht auf einen bestimmten Vergaberechtsverstoß.
2. Entzieht sich die Wertung des Auftraggebers – zum Zeitpunkt der Rüge – der Einsichtsmöglichkeit des Antragstellers, darf der Antragsteller im Nachprüfungsverfahren behaupten, was er auf der Grundlage seines nur beschränkten Informationsstands redlicher Weise für wahrscheinlich oder möglich halten darf.
3. Je weniger der Auftraggeber an tatsächlichen Gründen für eine abschlägige Wertung des Angebots in der Bieterinformation preisgibt, desto geringer sind die Anforderungen an die Darlegung einer Rechtsverletzung.
4. Fehler in der Wertung sind unbeachtlich, wenn sich durch diese die Bieterreihenfolge – also die Aussichten auf den Erhalt des Zuschlags – nicht ändert und einem Antragsteller dadurch insoweit kein Schaden entsteht.
5. Ein Auftraggeber darf den Angaben eines Bieters, die er in seinem Angebot gemacht hat, grundsätzlich vertrauen. Nur dann, wenn sich aus dem Angebot Zweifel ergeben, die das Leistungsversprechen eines Bieters als nicht plausibel erscheinen lassen und/oder Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass der Bieter die gesetzten Vorgaben möglicherweise nicht einhalten kann, ist der Auftraggeber gehalten, eine Aufklärung herbeizuführen.
6. An den Prüfungsumfang der materiellen Eignungsprüfung sind im Fall konkreter Eignungskriterien mit jeweils unterschiedlichen (Mindest-)Anforderungen keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Einer umfassenden wertenden Beurteilung bedarf es nicht, wenn festgestellt wird, dass die gestellten Anforderungen inhaltlich erfüllt wurden.
Voraussehbare Verzögerungen begründen keine Dringlichkeit
KG, Beschluss vom 10.05.2022 – Verg 1/22
1. Auch im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb muss ein Mindestmaß an Wettbewerb gewährleistet sein und es müssen zumindest drei Angebote eingeholt werden.
2. Der öffentliche Auftraggeber kann Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben, wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das offene und das nichtoffene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind.
3. Die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dürfen nicht dem öffentlichen Auftraggeber zuzurechnen sein. Das ist anzunehmen, wenn die Verzögerungen voraussehbar waren.
Zwingende, dringliche Gründe, die eine Beschaffung in regulären Vergabeverfahren nicht zulassen, kommen nicht nur bei akuten Gefahren für Leib und Leben in Betracht
OLG Bremen, Beschluss vom 14.12.2021 – 2 Verg 1/21
1. Zwingende, dringliche Gründe, die eine Beschaffung in regulären Vergabeverfahren nicht zulassen, kommen nicht nur bei akuten Gefahren für Leib und Leben in Betracht, sondern auch bei der Gefährdung der Erfüllung anderer dem Staat obliegenden Aufgaben. Insoweit sind die Bedeutung des bedrohten Rechtsguts einerseits und die vergaberechtliche Verpflichtung zur Durchführung eines wettbewerblichen und transparenten Vergabeverfahrens andererseits gegeneinander abzuwägen (Anschluss an BayObLG, IBR 2022, 196).
2. Dem öffentlichen Auftraggeber ist die Dringlichkeit eines Beschaffungsbedarfs zurechenbar – und zugleich der Kausalzusammenhang zwischen unvorhersehbarem Ereignis und Dringlichkeit nicht mehr gegeben -, wenn der Staat unter Berücksichtigung seiner Beschaffungs- und Organisationshoheit bei seiner Aufgabenerfüllung einerseits und des Gebots einer sachgerechten Bedarfsplanung andererseits die Beschaffung eines festgestellten oder offenkundig vorhersehbaren Bedarfs ohne sachlichen Grund hinauszögert.
3. Das Interesse an der Feststellung der Unwirksamkeit des öffentlichen Auftrags nach § 135 Abs. 1 GWB entfällt, wenn der dem Auftrag zu Grunde liegende Beschaffungsbedarf unumkehrbar in einem solchen Umfang gedeckt ist, dass eine anderweitige Vergabe nicht mehr in Betracht kommt. Auch in diesem Fall ist die Fortsetzung eines in zulässiger Weise eingeleiteten Nachprüfungs- bzw. Beschwerdeverfahrens gem. § 178 Satz 4, § 168 Abs. 2 Satz 2 GWB als Fortsetzungsfeststellungsantrag statthaft.
20% Preisabstand löst Aufklärungspflicht aus
VK Sachsen, Beschluss vom 25.05.2022 – 1/SVK/005-22
1. Wann ein ungewöhnlich niedriger Angebotspreis und mithin eine Aufklärungspflicht des öffentlichen Auftraggebers vorliegt, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Der öffentliche Auftraggeber ist jedoch – unabhängig von anderen konkreten Umständen des Einzelfalls – jedenfalls dann verpflichtet, in die Prüfung der Preisbildung einzutreten, wenn der Abstand zwischen dem Angebot des bestplatzierten und dem Angebot des zweitplatzierten Bieters mindestens 20% beträgt.
2. Bezugspunkt für die Berechnung der prozentualen Abweichung der Angebote untereinander ist das nächsthöhere Angebot. Dieses wird mit 100% angesetzt und ausgehend davon der Abstand zum günstigsten Angebot berechnet.
3. Die Vergabekammer hat nicht zu bewerten, ob ein Angebot auskömmlich oder unauskömmlich ist, sondern ob die Entscheidung des Auftraggebers, das Angebot als auskömmlich oder unauskömmlich zu bewerten auf Basis eines zutreffend und hinreichend ermittelten Sachverhaltes und einer gesicherten Erkenntnisgrundlage getroffen wurde und im Ergebnis nachvollziehbar und vertretbar ist. Bei dieser Prognoseentscheidung steht dem Auftraggeber ein Beurteilungsspielraum zu, welcher nur einer eingeschränkten Nachprüfbarkeit durch die Vergabekammer unterliegt.
4. Der Umstand, dass ein Unternehmen einen anderen Auftrag eines komplexen Gesamtbauvorhabens erhalten hat, führt allein nicht zu einer Vorbefassung i.S.d. § 6 EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A 2019.
Eignungsleihe oder Nachunternehmereinsatz?
VK Sachsen, Beschluss vom 24.11.2021 – 1/SVK/032-21
1. Die Vergabestelle muss im Informationsschreiben nach § 134 GWB alle ihr bekannten Gründe für die Nichtberücksichtigung des Angebots benennen, um den effektiven Rechtsschutz des Bieters nicht zu vereiteln. Anderenfalls hätte es die Vergabestelle in der Hand durch taktisches Vorgehen mehrere Rügen des Bieters erforderlich zu machen und zu erreichen, dass der Bieter durch das (versehentliche) Unterlassen einer weiteren Rüge mit seinem Antrag teilweise präkludiert ist.
2. Die Eignungsleihe nach § 6d EU VOB/A 2019 ist vom Nachunternehmereinsatz nach § 36 VgV zu unterscheiden. Im Rahmen der Eignungsleihe bedient sich ein Bieter der Kapazitäten dritter Unternehmen, um seine für die Ausschreibung geforderte Eignung nachzuweisen. Unterauftragsvergabe bedeutet, dass ein Unternehmen ein drittes Unternehmen mit der Ausführung des gesamten Auftrags oder von Teilen davon betraut.
3. Der Bieter hat im Angebot ausdrücklich oder zumindest konkludent, aber vom Empfängerhorizont her unmissverständlich geltend zu machen, dass er sich zum Nachweis der Eignung einer Eignungsleihe bedienen will. Hieran sind keine hohen Anforderungen zu stellen; der Bieter muss nur irgendwie kenntlich machen, dass er die Eignungsleihe zur Nachweisführung seiner Eignung beabsichtigt, damit der Auftraggeber diesem Aspekt im Rahmen seiner Aufklärungspflichten (hier § 15 EU VOB/A 2019) nachgehen kann.
4. Die Aufklärungsmöglichkeit des § 15 EU Abs. 1 VOB/A 2019 erfordert, dass ein klärungsbedürftiger Sachverhalt mit dem Angebot vorgelegt wird, da die Aufklärung anderenfalls zu einer unzulässigen Angebotsänderung führen würde. § 15 EU Abs. 1 VOB/A 2019 muss daher als eng auszulegende Ausnahmevorschrift angesehen werden, deren inhaltliche Reichweite folglich nur in einer klarstellenden Auslegung bzw. ergänzenden Information zum bereits vorgelegten Angebot gesehen werden darf.
Präqualifikation befreit nicht von geforderten Nachweisen
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 08.06.2022 – Verg 19/22
1. Die Teilnahme am Präqualifikationssystem dient der Entlastung des Bieters von der Beibringung der Eignungsnachweise, nicht jedoch ihrer Ersetzung. Die Erleichterung in Bezug auf die Beibringung ändert nichts daran, dass die Erfüllung der Eignungskriterien grundsätzlich vom Bieter nachzuweisen ist.
2. Die inhaltlichen Anforderungen an die Eignung und ihre Nachweise müssen für jeden Bieter gleich sein, unabhängig davon, ob dieser präqualifiziert ist oder nicht. Auch bei einem präqualifizierten Bieter hat der öffentliche Auftraggeber daher zu prüfen, ob die im Präqualifikationsverzeichnis hinterlegten Nachweise, die im konkreten Verfahren geforderten Eignungsangaben und Nachweise abdecken.
3. Fordert der öffentliche Auftraggeber die Angabe dreier mit der zu vergebenden Leistung vergleichbarer Referenzen, kann nur der Bieter die verlangten Angaben allein mit Verweis auf seine Eintragung im Präqualifikationsverzeichnis leisten, für den dort drei Nachweise über mit der ausgeschriebenen Leistung vergleichbare Leistungen hinterlegt sind. Die Eintragung ersetzt insoweit lediglich die Eintragung in der Eigenerklärung Eignung.
Geschwärzter Vortrag wird nicht berücksichtigt
KG, Beschluss vom 18.05.2022 – Verg 7/21
Schriftsätze und sonstige Unterlagen, die Beteiligte im Vergabenachprüfungsverfahren mit der Maßgabe zu den Akten reichen, dass sie ganz oder teilweise den übrigen Beteiligten oder einem Teil von ihnen nicht zur Kenntnis gelangen sollen (sog. “geschwärzte” Unterlagen), werden insoweit weder Gegenstand der Akten der Vergabekammer noch Bestandteil der Gerichtsakten, welcher Entscheidung und Verhandlung zugrunde gelegt erklärten Willen des Beteiligten, der sie eingereicht hat, Einsicht in diese Unterlagen zu gewähren. Im Hinblick auf das Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) der übrigen Beteiligten bleiben diese Unterlagen bei der Verhandlung und Entscheidung der Nachprüfungsinstanzen unberücksichtigt (vgl. auch Senat, Beschluss vom 01.07.2020 – Verg 1001/20).