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VK Südbayern zur Auftragswertschätzung, die ganz knapp unter den EU-Schwellenwerten liegt

VK Südbayern zur Auftragswertschätzung, die ganz knapp unter den EU-Schwellenwerten liegt

vorgestellt von Thomas Ax

Eine Auftragswertschätzung, die ganz knapp unter den EU-Schwellenwerten liegt und in einem Verfahren erfolgt, in dem der Auftraggeber ein großes Interesse daran hat, unterhalb der Schwellenwerte zu bleiben, bedarf einer besonders sorgfältigen Dokumentation. Dokumentiert der Auftraggeber zwar die Positionen, welche in die Schätzung des Auftragswerts eingeflossen sind, fehlen aber wichtige Erläuterungen dazu, welche Annahmen er bei den ausgewiesenen Beträgen zugrunde gelegt hat, ist die Auftragswertschätzung nicht nachvollziehbar. Fehlt es an einer ordnungsgemäßen oder plausiblen Auftragsschätzung, muss die Vergabekammer im Nachprüfungsverfahren den Auftragswert selbst anhand der eingegangenen Angebote schätzen. Leistungen des öffentlichen Auftraggebers, die zu entsprechenden Einsparungen oder Aufwandsminderungen beim Auftragnehmer führen, stellen einen geldwerten Vorteil dar, der bei der Kostenschätzung zu berücksichtigen ist.

VK Südbayern, Beschluss vom 08.12.2022 – 3194.Z3-3_01-22-23

Gründe:

I.

Am 31.03.2022 beauftragte die Antragsgegnerin die Beigeladene im Wege einer Direktvergabe mit der Bereitstellung eines Softwaresystems zur standardisierten Notrufabfrage (SNA) für die integrierte Leitstelle (ILS) M… Der Auftrag umfasste unter anderem den Erwerb von 27 Lizenzen der von der Beigeladenen vertriebenen Software nebst Schulung sowie die Implementierung einer Schnittstelle zum Einsatzleitsystem (ELS) “ELDIS3by”. Der Vertrag wurde geschlossen, ohne dass die Antragsgegnerin zuvor eine Auftragsbekanntmachung im EU-Amtsblatt veröffentlicht hatte. Auch eine öffentliche Bekanntmachung des vergebenen Auftrags erfolgte nicht. Ausweislich eines Vermerks über die Auftragswertberechnung nach § 3 VgV schätzte die Antragsgegnerin den Auftragswert auf 210.600 Euro. In einer Vormerkung vom 24.03.2022 zur Auftragsvergabe führte die Antragsgegnerin folgendes aus:

“Aktuell steigen die Corona-Fallzahlen rasant an und damit die Ausfallzahlen in den kritischen Infrastrukturen, wie Feuerwehr und Polizei. Die Einsatzkräfte, die sich noch im Einsatz befinden, sind damit stärkeren Belastungen ausgesetzt, einer Abhilfe durch aktiven Schutz dem entgegen zu wirken, jedoch nicht. Das problematische Thema wird durch die Ukraine-Situation weithin verschärft. Damit menschliche Fehler nicht überhand nehmen und die personelle Lage nicht unter der jetzigen Situation leidet, muss schnellst möglich und ohne weitere Verzögerung ein IT gestützter Hilfeservice eingekauft und bereit gestellt werden.

Bei mehreren Feuerwehren in Ländern mit hohen Coronafallzahlen der Omikronvariante. wie in London und Amsterdam gibt es mittlerweile Personalausfallquoten, die im kritischen Bereich liegen, um eine adäquate Hilfe leisten zu können. Sollte die Krankheitsquote in der BD ansteigen, würde bei der ILS im Extremfall nicht genug Personal vorhanden sein, um alle Notrufe annehmen zu können – die Durchhaltefähigkeit wäre gefährdet.

Um die Durchhaltefähigkeit der Integrierte Leitstelle M… (ILS) zu unterstützen, strebt die Branddirektion M… eine außerplanmäßige Beschaffung einer Software zur standardisierten Notrufabfrage mit Qualitätsmanagementmodul an. Mittels dieser Software wird die/der Mitarbeiter*in der ILS bei der Abarbeitung des Notrufs unterstützt, wodurch bei hohen Ausfallquoten im Personalbereich, eine größere Anzahl zusätzlicher Mitarbeiter deutlich schneller und effizienter als ohne die Software für die Notrufabfrage qualifiziert werden können. Dies ermöglicht es, auch bei hohem Personalausfall durch Covid-19, die schnelle Erreichbarkeit der 112 in M… durchgehend gewährleisten zu können. Die Software führt den Benutzer anhand von fachbezogenen Fragen effizient und strukturiert zum optimalen Notrufergebnis, zu dem das passende Rettungsmittel alarmiert werden kann.

Ziel der Beschaffung ist eine zügige Bereitstellung der Software, die über eine Schnittstelle an der Einsatzleitsoftware angebunden wird. Die Beschaffung muss deshalb bei einem Lieferanten erfolgen, die nicht nur der Software, sondern auch der Schnittstelle zu ELDIS3by sofort zur Verfügung stellen kann und ggf. die Initial-Datenversorgung des Systems teils automatisiert unterstützen kann. …”


Bereits Anfang des Jahres 2021 plante die Branddirektion der Antragsgegnerin die Beschaffung eines Systems für die standardisierte Notrufabfrage und meldete einen entsprechenden Bedarf bei der zuständigen Vergabestelle an. Ende des Jahres 2021 überarbeitete die Antragsgegnerin die Vergabeunterlagen. Im Februar 2022 übersandte die Antragsgegnerin der Beigeladenen einen Katalog mit technischen und fachlichen Anforderungen an die zu beschaffende Leistung. Hierin war in einer Randbemerkung zu Anforderung Nr. 28 betreffend die Schnittstelle zum Einsatzleitsystem unter anderem folgendes vermerkt:

“Die Kommunikation zwischen dem ELS und der SNA erfolgt über eine zu erstellende Schnittstelle. Die Schnittstelle von der SNA zum ELS muss überwacht werden. Dem Disponenten muss erkennbar gezeigt werden, ob eine Verbindung zum ELS besteht (z.B. Ampelanzeige). Der Bieter muss in Absprache mit dem Hersteller des ELS eine bidirektional funktionierende Schnittstelle bereitstellen. Ferner sind alle mit der Schnittstelle verbundenen Kosten, auch die des Herstellers des Einsatzleitsystems (Zertifizierung, Anpassung, Funktionstests), vom Bieter zu tragen und im Angebot darzustellen.”

Mit Schreiben vom 26.04.2022 rügte die Antragstellerin vertreten durch ihre Verfahrensbevollmächtigten die Direktvergabe einer standardisierten Notrufabfrage ohne Wettbewerb an die Beigeladene und forderte sie auf, den Zuschlag aufzuheben und ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren durchzuführen. Sie machte geltend, dass der Wert des ausgeschriebenen Auftrags bei ordnungsgemäßer Schätzung gemäß § 3 VgV über dem EU-Schwellenwert von 215.000 Euro liege. Damit seien die Regelungen des vierten Teils des GWB sowie der VgV zu beachten. Der Auftrag habe im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht werden müssen. Eine Ausnahme von der Bekanntmachungspflicht sei nicht erkennbar.

Mit Schreiben per E-Mail vom 02.05.2022 antwortete die Antragsgegnerin der Antragstellerin, dass die Vergabe des Auftrags an die Beigeladene vor allem auf den Erfahrungen und Informationen im Zusammenhang mit der Ausbreitung der Omikron-Variante beruhe. Einzelne Großstadtfeuerwehren erlebten derzeit dramatische Personalausfälle, die im absolut kritischen Bereich lägen. Sollte eine ähnliche Krankheitsquote auch die Berufsfeuerwehr der Antragsgegnerin ereilen, stünde der Leitstelle im Extremfall nicht ausreichend Personal zur Verfügung, um alle Notrufe annehmen zu können. Die Sicherheit der M… Bürgerinnen und Bürger wäre somit akut gefährdet. Die Entscheidung der Antragsgegnerin sei einzig auf dem akuten Druck getroffen worden, die Software schnellstmöglich in der Leitstelle einzurichten, zumal der weitere Verlauf des Pandemie-Geschehens unberechenbar sei und in diesem Zusammenhang auch nicht erkennbar sei, wann und in welcher Intensität die nächste Pandemiewelle eintreffe. Die Software müsse über eine Schnittstelle an die vorhandene Einsatzleitsoftware angebunden werden. Die Beschaffung habe deshalb bei einem Anbieter erfolgen müssen, der nicht nur die Software, sondern auch die Schnittstelle zu “ELDIS3by” sofort zur Verfügung stellen könne. Aufwendige Programmierungen und Anpassungen hätten aufgrund der zeitlichen Dringlichkeit nicht anfallen dürfen. Der Hersteller der Schnittstelle “ELDIS3by” habe die Schnittstellenkompatibilität der Software der Auftragnehmerin bestätigt und gleichzeitig betont, dass die Software zum aktuellen Zeitpunkt die einzige sei, welche eine Schnittstelle an “ELDIS3by” besitze.

Aufgrund eines Informationsaustausches mit einer anderen Berufsfeuerwehr in Bayern und den der Antragsgegnerin vorliegenden Erkenntnissen, sei sie auf einen Netto-Auftragswert von 200.000 bis 210.000 Euro gekommen. Beschaffungen von Liefer- und Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Corona-Krise dürften nach den derzeitigen Regelungen für Vergaben unterhalb des Schwellenwerts im Wege einer Verhandlungsvergabe mit oder ohne Teilnahmewettbewerb vergeben werden. Die Notwendigkeit zur Beschaffung der Software liege in der Corona-Krise begründet.

Nachdem der Rüge der Antragstellerin nicht abgeholfen wurde, stellte diese mit Schreiben vom 17.05.2022 einen Nachprüfungsantrag gem. § 160 Abs. 1 GWB.

Zur Begründung führt die Antragstellerin aus, dass sie Anbieterin moderner Software zur standardisierten Notrufabfrage mit Qualitätsmanagement sei und Interesse an dem streitgegenständlichen Auftrag habe. Die Antragsgegnerin habe nach eigenen Angaben in Kalenderwoche 13 die Beigeladene im Wege der Direktvergabe mit der Bereitstellung eines Systems für die standardisierte Notrufabfrage für die Leitstelle M… beauftragt. Der Vertrag sei geschlossen worden, ohne dass die Antragsgegnerin zuvor eine Auftragsbekanntmachung im EU-Amtsblatt veröffentlicht habe.

Der Nachprüfungsantrag sei zulässig; insbesondere sei der für die Anwendbarkeit des vierten Teils des GWB erforderliche Schwellenwert überschritten. Dies erschließe sich durch einen Blick auf vergebene Aufträge anderer Leitstellen der letzten Jahre, die Systeme wie das streitgegenständliche zum Gegenstand gehabt hätten. Der marktübliche Preis eines Einsatzleitplatzes liege bei etwa … Euro; jener für einen Sonderleitplatz bei … Euro. Aus Erfahrungen der Antragstellerin, welche als Marktführerin in diesem Bereich für deutsche Systeme die Preise gut einschätzen könne, würden die Wartungskosten im Monat für eine Leitstelle der Größe M… mindestens … Euro betragen. Hinzu kämen Schulungskosten von etwa … Euro je Disponent, Dienstleistungen für Projekttage zur Projektumsetzung von … Euro pro Tag sowie der Preis für die Schnittstelle zum Einsatzleitsystem ELDIS3by in Höhe von etwa … Euro. Ausgehend von den benötigten Lizenzen für 20 Einsatzleitplätze und 10 Sonderleitplätze, einem Wartungsumfang von 48 Monaten, der Schulung von 150 Disponenten und vier Projekttagen zur Projektumsetzung betrage der Auftragswert nach Berechnung der Antragstellerin insgesamt 381.200 Euro.

Entgegen der Ansicht der Beigeladenen sei ein Rückgriff auf den Auftragswert bzw. die Preise durchgeführter Vergaben in anderen Leitstellen zur Schätzung des Auftragswerts im konkreten Vergabeverfahren möglich. Die Antragsgegnerin habe selber auf die Erfahrungen der Feuerwehr N… zurückgegriffen und deren Vergabeunterlagen als Basis für ihre eigene Kalkulation verwendet. Für die Schätzung des Auftragswerts müssten aufgrund der Vorgaben des § 3 Abs. 2 VgV neben den Lizenzen auch die dazugehörigen Schulungen berücksichtigt werden; erst die Schulung ermögliche den Gebrauch der Software.

Der Nachprüfungsantrag sei auch begründet, da die Antragsgegnerin trotz Überschreitens des maßgeblichen Schwellenwerts von derzeit 215.000 Euro netto den Auftrag ohne vorherige Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben habe. Es läge auch keine Ausnahme von der Pflicht zur unionsweiten Bekanntgabe vor. Insbesondere könne sich die Antragsgegnerin nicht auf eine Dringlichkeit nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV stützen, da die von der Antragsgegnerin angeführten Gründe die strengen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Ausnahmetatbestandes nicht erfüllten. Ein etwaiger auftretender Personalausfall könne durch die Software nicht ersetzt werden, denn auch diese müsse bedient und neue Mitarbeiter entsprechend geschult werden. Der zeitliche Vorteil, den die Antragsgegnerin durch den Einsatz der Software sehe, sei verschwindend gering. Zudem sei die von der Antragsgegnerin beschriebene Situation im Hinblick auf den drohenden Personalausfall aufgrund der Ausbreitung der Omikron-Variante zum jetzigen Zeitpunkt nicht nachvollziehbar. Es erschließe sich nicht, warum in einem Moment, in dem sich die allgemeine Pandemie-Situation entspanne, eine besondere Dringlichkeit gegeben sein solle. Ungeachtet dessen sei die Situation für die Antragsgegnerin jedenfalls vorhersehbar gewesen und ein akuter Zeitdruck damit auf eine Untätigkeit der Antragsgegnerin zurückzuführen. Auch hätte die Antragsgegnerin den Kreis der aufzufordern Unternehmen auf eine angemessene Zahl festlegen müssen, um ein Mindestmaß an Wettbewerb zu gewährleisten.

Die Antragsgegnerin könne sich auch nicht auf § 14 Abs. 4 Nr. 2 b) VgV berufen. Seit Dezember 2021 sei öffentlich bekannt, dass auch zum System der standardisierten Notrufabfrage der Antragstellerin eine Schnittstelle zu ELDIS3 entwickelt werde. Der hierfür nötige Zeitaufwand betrage insgesamt maximal 15 Manntage. Die Schnittstelle zu ELDIS3by ähnele sehr der bereits existierenden Schnittstelle der Software der Antragstellerin zum ELDIS in Schleswig-Holstein. Soweit die Beigeladene mit ihrem Vortrag den Eindruck vermittle, dass allein sie dazu in der Lage wäre, den streitgegenständlichen Auftrag auszuführen, sei dem entschieden zu widersprechen. Die Antragsgegnerin habe nach Angaben der Beigeladenen diese am 10.01.2022 um ein Angebot für die Ausstattung der Leitstelle M… mit einer standardisierten Notrufabfrage-Software gebeten und erst mit Schreiben vom 31.03.2022 mit der Lieferung einer solchen beauftragt. In dieser Zeit hätte ohne weiteres eine derartige Schnittstelle zwischen der Software der Antragstellerin zu ELDIS3by entwickelt werden können. Zudem sei zu erwarten, dass eine Schnittstelle zu ELDIS3by aufgrund der Einführung eines neuen ELS in Bayern alsbald hinfällig werde. Soweit vorgebracht werde, dass bei einer Beauftragung der Beigeladenen eine Datenübernahme aus der ILS N… möglich sei, wodurch erheblicher Zeitaufwand bei der Datenpflege entfallen würde, sei darauf hinzuweisen, dass die Antragstellerin aufgrund ihrer personellen und fachlichen Ausstattung dazu in der Lage sei, die angesprochenen Datenpflegearbeiten innerhalb von maximal 20 Manntagen durchzuführen.

Letztlich liege ein Verstoß gegen § 6 VgV vor, da ein freiberuflich verantwortlicher Projektleiter der Beigeladenen vor und während des Verfahrens für die Antragsgegnerin tätig gewesen sei. Der Geschäftsführer der Antragstellerin sei hingegen – entgegen etwaigem anderslautenden Vortrag – kein Angestellter der Berufsfeuerwehr M… Die Akteneinsicht habe gezeigt, dass diverse Unstimmigkeiten in der Auftragswertberechnung bestünden. Gegenüber der ursprünglichen Planung sei der Leistungsumfang deutlich reduziert worden; es seien im März 2022 rund neun Lizenzen weniger für eine Regel-Leitstelle (ELP) beauftragt worden als noch im Dezember 2021 vorgesehen. Lizenzen für Sonder-Leitplätze (ANA) und Schulungsplätze seien komplett weggefallen. Auch habe man im Dezember 2021 noch Schulungen für 150 Disponenten für erforderlich gehalten, ausgeschrieben habe die Antragsgegnerin aber lediglich Schulungen für insgesamt 46 Disponenten. Zudem weise die Auftragswertberechnung im Bereich der Schulungen bezüglich der rechnerischen Zusammensetzung des Gesamtpreises Unstimmigkeiten auf, was belege, dass die Antragsgegnerin keine ordnungsgemäße qualifizierte Schätzung des Auftragswerts nach den Anforderungen des § 3 Abs. 1 VgV vorgenommen habe. Weiterhin falle auf, dass die Berechnung der Wartungskosten von insgesamt … Euro unplausibel sei. Wartungskosten würden üblicherweise 15 bis 25 Prozent des Lizenzpreises ausmachen. Die Antragsgegnerin habe dagegen lediglich 0,39% der Lizenzkosten als Servicepauschale veranschlagt. Die Kosten für die Wartung und Software-Pflege der ELDIS3by-Schnittstelle fehlten komplett, obwohl eine solche üblicherweise mit abgeschlossen werde, um die volle Funktionsfähigkeit der Schnittstelle zu gewährleisten. Diese Leistungen beliefen sich auf etwa … Euro pro Jahr.

Aus der zur Einsicht überlassenen internen Korrespondenz der Vergabestelle der Antragsgegnerin gehe hervor, dass der Bedarf zur Beschaffung eines Systems zur standardisierten Notrufabfrage für die ILS M… bereits weitaus länger bestanden habe als erst seit Anfang des Jahres 2022. Der Beschaffungsauftrag sei bereits im Januar 2021 ausgestellt worden. Als Beschaffungszeitpunkt sei der 01.10.2021 angegeben. Wie aus der freigegebenen Korrespondenz der Antragsgegnerin hervorgehe, habe sich diese erst im November 2021 intensiver mit dem Beschaffungsvorgang beschäftigt. Es sei vor dem Hintergrund des Pandemiegeschehens schwer nachvollziehbar, warum die Antragsgegnerin den Beschaffungsvorgang offenbar nahezu zehn Monate ruhen ließ. Auch falle auf, dass die Antragsgegnerin bis mindestens Dezember 2021 noch von einer Ausschreibung ausgegangen sei, welche am 10.01.2022 in der eVergabe veröffentlicht werden sollte. Als Anfang des Jahres 2022 die Entscheidung getroffen worden sei, dass der Auftrag im Rahmen einer Direktvergabe an die Beigeladene vergeben werden soll, sei der Leistungsumfang des Auftrags um nahezu die Hälfte der Leistungen gekürzt worden, um die Direktvergabe zu ermöglichen. Die E-Mail der Antragsgegnerin vom 23.03.2022 lege nahe, dass vorrangiger Grund für die Eilbedürftigkeit der Beauftragung nicht die behauptete Situation aufgrund der Pandemie gewesen sei, sondern die bis zum 31.03.2022 begrenzte Gültigkeit der Sonderregelung für Coronabezogene Vergaben, welche eine Direktvergabe solcher Aufträge erleichterte. Jedenfalls sei jegliche Dringlichkeit der Beschaffung von der Antragsgegnerin selbst verschuldet, indem sie über lange Zeit hinweg untätig geblieben sei. Die Antragsgegnerin hätte innerhalb der rund 11 Monate, in denen der Vorgang offenbar ruhte, ein reguläres europaweites Vergabeverfahren durchführen können. Die Antragsgegnerin habe jedenfalls im Januar 2021 um die Personalsituation sowie um die damit verbundenen Herausforderungen der Corona-Pandemie gewusst. Dennoch habe die Antragsgegnerin offenbar keinen Grund gesehen, die Vergabe entsprechend zügig voranzutreiben.


Die Antragstellerin beantragt

1. gegen die Antragsgegnerin das Nachprüfungsverfahren einzuleiten;

2. die Feststellung der Unwirksamkeit des an die Beizuladenden vergebenen öffentlichen Auftrags nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB;

3. die Antragsgegnerin zu verpflichten, bei fortbestehender Beschaffungsabsicht den öffentlichen Auftrag über eine standardisierte Notrufabfrage für die Leitstelle M… in einem europaweiten Vergabeverfahren nach den Vorschriften des 4. Teils des GWB und der VgV auszuschreiben;

4. der Antragstellerin Akteneinsicht gem. § 165 GWB zu gewähren;

5. die Hinzuziehung des Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin für notwendig zu erklären;

6. der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin aufzuerlegen.


Die Antragsgegnerin beantragt

1. Die Anträge Ziff. 1 – 4 vom 17.05.2022 werden zurückgewiesen;

2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.


Zur Begründung führt die Antragsgegnerin aus, dass der Nachprüfungsantrag unzulässig sei. Die Branddirektion der Antragsgegnerin habe den Auftragswert nach bestem Wissen und Gewissen geschätzt. Die Ausschreibung sei unter den aktuellen Zwängen einer extrem angespannten Haushaltslage erfolgt, so dass der Leistungsumfang auf das absolut Notwendige zu reduzieren gewesen sei. Basis für die Kalkulation seien Vergabeunterlagen der Feuerwehr N… gewesen. Das dort angenommene Angebot sei um alle Leistungen und Komponenten reduziert worden, welche die Antragsgegnerin selbst erbringen könne. Sowohl die Schätzung des Auftragswertes als auch das Angebot der Beigeladenen lägen nicht weit auseinander. Entgegen dem Vortrag der Antragstellerin seien in der Berechnung des Auftragswerts sowohl die Lizenzen für die SNA-Software als auch Schulungen für Anwender, Multiplikatoren und Administratoren enthalten. Ebenso sei die Wartung und Pflege gemäß EVB-IT-AGB im Auftrag enthalten. Kosten für Hardwarekomponenten seien nicht in die Auftragswertberechnung aufzunehmen gewesen, da die nötige Hardware bei der Antragsgegnerin vorhanden sei.

Die Reduktion der Anzahl an zu beschaffenden Lizenzen basiere auf dem Umstand, dass anders als ursprünglich angenommen eine Beschaffung von Lizenzen für die Not-Leitstelle nicht notwendig sei, da diese vollständig als Rückfallebene zu betrachten sei. Bei den beschafften Lizenzen handle es sich um ein “Concurrent-User-Modell”. Die reduzierte Anzahl an Schulungen sei dem Umstand geschuldet, dass die Antragsgegnerin über sehr erfahrene Trainer im Bereich der Leitstelle verfüge und deshalb Multiplikatorenschulungen und Anwenderschulungen für einen Teil der Disponenten ausreichten. Die von der Antragstellerin beanstandeten Unstimmigkeiten im Hinblick auf die geschätzten Kosten für die Schulungen basierten lediglich auf einem Formatierungsfehler; die ausgewiesene Zwischensumme sei zutreffend. Bei ihrer Schätzung sei die Antragsgegnerin davon ausgegangen, dass die Kosten für den Systemservice in der Gesamtsumme der Lizenzen enthalten sind. Die in der Auftragswertberechnung ausgewiesene Position für Wartung und Pflege beziehe sich auf darüber hinausgehende Ausgaben wie beispielsweise Weiterentwicklungen im Rahmen des sog. “Customizing”. Wie beim Systemservice sei auch die Software-Pflege im Rahmen der Schnittstelle verrechnet worden. Der im Beschaffungsauftrag ausgewiesene Betrag von 400.000 Euro habe keine Aussagekraft, da es sich hierbei nur um eine grob geschätzte Größenordnung handle und der Bedarfsträger kein umfassendes Wissen hinsichtlich des erforderlichen Leistungsumfangs gehabt habe.

Der Nachprüfungsantrag sei zudem unbegründet. Sowohl der von der Antragsgegnerin kalkulierte Leistungsumfang als auch das von der Beigeladenen erstellte Angebot erreiche den maßgeblichen Schwellenwert von derzeit 215.000 Euro nicht. Demnach sei die Leistung weder europaweit auszuschreiben noch eine Bekanntgabe im Amtsblatt der Europäischen Union erforderlich gewesen. Bei unterschwelligen Auftragswerten sei eine Direktvergabe aufgrund einer Pandemiebedingten Ausnahmeregelung möglich.

Ungeachtet dessen sei die Entscheidung der Antragsgegnerin durch eine Situation absoluter Dringlichkeit veranlasst gewesen. Die rasant um sich greifende Omikron-Variante habe dazu geführt, dass die Zahl der infizierten Personen im Februar/März europaweit exponentiell auf einen Höchststand angestiegen sei. In Anbetracht dieser akuten Bedrohung und des Umstands, dass bereits anderen Leitstellen in Europa aufgrund Omikronbedingter personeller Engpässe die Handlungsunfähigkeit gedroht habe, habe sich die Antragsgegnerin im März dieses Jahres dazu gezwungen gesehen, unverzüglich zu handeln. Die Annahme der Antragstellerin, der Vorteil eines beschleunigten Schulungsvorgangs sei verschwindend gering, sei nicht nachvollziehbar. Mit Hilfe der standardisierten Notrufabfrage könne die Schulungsdauer bei neuem Personal von bisher fünf bis sechs Wochen auf eine Woche reduziert werden. Dass die Antragsgegnerin die Beigeladene bereits am 10.01.2022 aufgefordert habe, ein Angebot abzugeben, sei unzutreffend. Der entsprechende Vortrag der Antragstellerin basiere offenbar auf einer Fehlinterpretation der Aussage der Beigeladenen. Die Anfrage eines Angebots habe erst am 17.02.2022 stattgefunden. Im Jahr 2021 sei noch keine zwingende Notwendigkeit zur Einführung einer standardisierten Notrufabfrage gesehen und der Beschaffungsvorgang aufgrund fehlender Priorisierung auf Leitungsebene zunächst nicht weiter verfolgt worden. Erst die Omikron-Variante, die seinerzeit nicht vorhersehbar und deren Wirkung auf das Ansteckungsgeschehen nicht bekannt gewesen sei, habe die Antragsgegnerin zu einem schnellen Handeln gezwungen.

Ein weiterer Grund für die Direktvergabe an die Beigeladene sei die hiermit verbundene Möglichkeit einer umfangreichen Stammdatenübernahme aus dem System der Leitstelle N… gewesen. Auch hieraus habe sich in Anbetracht des Zeitdrucks eine erhebliche Zeitersparnis ergeben. Soweit die Antragstellerin vortrage, dass sie derzeit an der Entwicklung einer Schnittstelle zu “ELDIS3by” arbeite, sei anzumerken, dass neben der Programmierung Anpassungen beim Lieferanten der Schnittstelle vorzunehmen seien und die Schnittstelle zudem ausführlich getestet werden müsste. Um eine schnelle Implementierung und Inbetriebnahme zu ermöglichen, müsse der Auftragnehmer zum Einführungszeitpunkt über eine funktionierende Schnittstelle zum Einsatzleitsystem verfügen. Der Hersteller der Schnittstelle habe der Antragsgegnerin seinerzeit bestätigt, dass nur die Beigeladene über eine fertig programmierte Schnittstelle verfüge. Der von der Antragstellerin angegebene Zeitaufwand für die Entwicklung der Schnittstelle gelte allenfalls für die Basisentwicklung. Die Antragstellerin lasse insbesondere unberücksichtigt, dass auch bei der Antragsgegnerin umfangreiche Tests durchgeführt werden müssten. Es treffe zwar zu, dass die Einführung eines neuen Einsatzleitsystems geplant sei. Mit dem Beginn des Regelbetriebs im Jahr 2023 sei jedoch nicht zu rechnen. Für die Anpassung der Schnittstelle an das neue Einsatzleitsystem seien zudem in der Auftragswertberechnung Entwicklungskosten berücksichtigt worden.

Die Annahme der Antragstellerin, dass die Datenpflege innerhalb von 20 Personentagen durchgeführt werden könne, sei unrealistisch. Die Datenversorgung der Leitstelle N… habe über sechs Monate in Anspruch genommen und an diesem Prozess seien mehrere erfahrene Disponenten beteiligt gewesen.

Der von der Antragstellerin benannte freiberufliche Projektleiter sei schon seit ca. zwei Jahren nicht mehr für die Beigeladene tätig und habe an dem Vergabeverfahren nicht mitgewirkt.

Mit Beschluss vom 11.07.2022 wurde die Zuschlagsprätendentin zum Verfahren beigeladen.

Die Beigeladene stellt keine Anträge. Zur Sache teilt die Beigeladene mit, dass sie im Rahmen eines früheren Auftrags zur Lieferung einer standardisierten Notrufabfragesoftware die notwendige Schnittstelle zum bayernweit eingesetzten Einsatzleitsystem habe entwickeln lassen. Da die Module der Abfragesoftware entsprechend dem Bedarf in Umfang und Menge lizenziert würden, ließen sich die Preise nicht von einer Leitstelle auf die andere übertragen. Auch vereinten nicht alle Leitstellen dieselben Aufgaben in ihrem Tätigkeitsbereich. Der Aufwand für technischen und fachlichen Support werde regelmäßig kundenorientiert und zielgerichtet nach Notwendigkeit und Umfang der Softwareausstattung berechnet. Wartungsverträge würden auf Basis der EVB-IT monatsweise oder jahresweise abgeschlossen. Wegen der hohen Systemstabilität sei der Aufwand hierfür bei der Beigeladenen gering; in der Regel fielen Servicekosten weit unter den von der Antragstellerin angegebenen 15 bis 25 Prozent an. Der Aufwand bei der Schnittstellenwartung sei minimal.

Nach einer kurzen Anwenderschulung könnten unerfahrene Mitarbeiter sicher mit der Software der Beigeladenen umgehen. Über ein Multiplikatoren-Schulungsmodell würden Trainer der Leitstelle ausgebildet, die dann selbstständig die Anwenderschulungen vor Ort vornehmen könnten. Die Beigeladene sei nach Inbetriebnahme der Notrufabfragesoftware in der ILS N… am 10.01.2022 von der Antragsgegnerin um ein Angebot zur Lieferung einer standardisierten Notrufabfragesoftware gebeten und mit Schreiben vom 31.03.2022 beauftragt worden. Das verwendete Einsatzleitsystem ELDIS-3-BY unterscheide sich erheblich von dem auf dem Markt ebenfalls befindlichen Einsatzleitsystem ELDIS-3. Durch die vorhandene Schnittstelle hätten aufwändige Entwicklungsarbeiten mit einer Dauer von mehr als einem Jahr – diesen Zeitraum habe die Entwicklung und Realisierung der Schnittstelle der Beigeladenen zum Einsatzleitsystem ELDIS BY beansprucht – erspart werden können. Die Schnittstelle der Beigeladenen sei universell und daher auch für ein zukünftiges Einsatzleitsystem in den bayerischen Leitstellen vorbereitet. Aufgrund der vereinbarten Datenübernahme aus der ILS N… entfielen zusätzlich wochen- bzw. monatelange Datenpflegearbeiten. Diese könnten nicht von Lieferanten übernommen werden, da hierin die Alarm- und Ausrückeordnungen bestimmt würden.

Der von der Antragstellerin benannte Projektleiter sei nicht als freiberuflich tätiger Projektleiter für die Beigeladene tätig. Er habe in der Vergangenheit über sein selbstständiges Ingenieurbüro Aufträge für die Beigeladene erledigt; dies liege bereits mehrere Jahre zurück. Der Geschäftsführer der Antragstellerin sei langjähriger Mitarbeiter der Leitstelle M… und Angestellter der Branddirektion.

Am 04.10.2022 fand in den Räumen der Regierung von Oberbayern die mündliche Verhandlung statt. Die Sach- und Rechtslage wurde erörtert. Die Verfahrensbeteiligten hatten Gelegenheit zum Vortrag. Die Antragsgegnerin kündigte auf Nachfrage an, einen Kriterienkatalog für die technischen und fachlichen Anforderungen nachzureichen, den sie am 22.02.2022 zur Beantwortung an die Beigeladene übersandt hatte. Die Antragstellerin beantragte Akteneinsicht sowie Schriftsatznachlass.

Mit Beschluss vom 18.10.2022 gewährte die Vergabekammer der Antragstellerin Einsicht in die von der Antragsgegnerin nachgereichten Unterlagen. Mit nachgelassenem Schriftsatz vom 28.10.2022 wiederholte und vertiefte die Antragstellerin ihre bereits erhobenen Beanstandungen hinsichtlich der Auftragswertschätzung. Ergänzend führte sie aus, dass die Antragsgegnerin die Kosten für die Wartung der ELDIS-Schnittstelle des Anbieters des Einsatzleitsystems zu Unrecht nicht bei der Auftragswertschätzung berücksichtigt habe. Die Höhe der Wartungskosten betrage 20% der Schnittstellensoftware. Ebenso seien die Kosten der Entwicklung der Schnittstelle sowie für den Aufwand zur Implementierung der Schnittstelle auf Seiten des Anbieters der ELS-Software dem Auftragswert hinzuzurechnen, da es keinen Unterschied mache, ob die Schnittstelle bereits existiere oder nicht. Das Leistungsverzeichnis schließe zwar die Schnittstellenkosten des ELS-Herstellers aus. Diese Kosten würden jedoch sicher anfallen und seien daher in die Auftragswertschätzung vollumfänglich einzustellen.

Die Beteiligten wurden durch den Austausch der jeweiligen Schriftsätze informiert. Auf die ausgetauschten Schriftsätze, die Verfahrensakte der Vergabekammer, die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 04.10.2022 sowie auf die Vergabeakten, soweit sie der Vergabekammer vorgelegt wurden, wird ergänzend Bezug genommen.


II.

Die Vergabekammer Südbayern ist für die Überprüfung des streitgegenständlichen Vergabeverfahrens zuständig.

Die sachliche und örtliche Zuständigkeit der Vergabekammer Südbayern ergibt sich aus §§ 155156 Abs. 1, 158 Abs. 2 GWB i. V. m. §§ 1 und 2 BayNpV.

Gegenstand der Vergabe ist ein Lieferauftrag i. S. d. § 103 Abs. 2 GWB. Der Antragsgegner ist Auftraggeber gemäß §§ 9899 Nr. 1 GWB. Eine Ausnahmebestimmung der §§ 107 – 109 GWB liegt nicht vor.

1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig. Insbesondere überschreitet der geschätzte Gesamtauftragswert den gemäß § 106 GWB maßgeblichen Schwellenwert in Höhe von 215.000 Euro.

1.1. Bei der Auftragswertschätzung ist der öffentliche Auftraggeber gehalten, in der Sache eine seriöse Schätzung durchzuführen, die den Vorgaben zur Ermittlung des Auftragswertes aus § 3 VgV entspricht. Denn nur, wenn nach einer Schätzung nach diesen Vorgaben der Schwellenwert nicht überschritten ist, wird ein öffentlicher Auftraggeber nach § 106 Abs. 1 Satz 1 GWB von der Anwendung der Vorschriften des GWB und damit einer europaweiten Ausschreibung frei. Daher ist diese Schätzung auch nach den Vorgaben des § 8 VgV zu dokumentieren, damit sie der Überprüfung durch die Nachprüfungsinstanzen überhaupt zugänglich sein kann (vgl. VK Südbayern, Beschluss vom 05.08.2019 – Z3-3-3194-1-14-05/19).

Gem. § 3 Abs. 1 VgV ist bei der Schätzung des Auftragswerts vom voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer auszugehen. Zudem sind etwaige Optionen oder Vertragsverlängerungen zu berücksichtigen. Die Schätzung des Auftragswerts setzt eine realistische, vollständige und objektive Prognose voraus, die sich an den Marktgegebenheiten orientiert (OLG Celle, Beschluss vom 29.06.2017 – 13 Verg 1/17; OLG Schleswig, Beschluss vom 28.01.2021 – 54 Verg 6/20 m. w. N.). Der Auftraggeber muss eine Methode wählen, die ein wirklichkeitsnahes Schätzergebnis ernsthaft erwarten lässt, und der Schätzung zutreffende Daten zugrunde legen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13.03.2019 – Verg 42/18). Ein pflichtgemäß geschätzter Auftragswert ist jener Wert, den ein umsichtiger und sachkundiger öffentlicher Auftraggeber nach sorgfältiger Prüfung des relevanten Marktsegments und im Einklang mit den Erfordernissen betriebswirtschaftlicher Finanzplanung bei der Anschaffung der vergabegegenständlichen Sachen veranschlagen würde (OLG Brandenburg, Beschluss vom 29.01.2013 – Verg W 8/12; OLG Celle, Beschluss vom 19.08.2009 – 13 Verg 4/09; OLG Frankfurt, Beschluss vom 08.05.2012 – 11 Verg 2/12).

1.2. Die Antragsgegnerin hat vorgetragen, dass sie zur Ermittlung des Auftragswerts maßgeblich auf die Vergabeunterlagen der Feuerwehr N… abgestellt habe. Das von N… angenommene Angebot sei um alle Leistungen und Komponenten reduziert worden, welche die Antragsgegnerin selbst erbringen könne. Dabei sei die Ausschreibung unter den aktuellen Zwängen einer extrem angespannten Haushaltslage erfolgt, so dass der Leistungsumfang auf das absolut Notwendige zu reduzieren gewesen sei.

Nach Ansicht der Vergabekammer genügt die vorgenommene Schätzmethode nicht den Anforderungen an eine pflichtgemäße Auftragswertschätzung. Zunächst ist festzuhalten, dass die in der dokumentierten Auftragswertberechnung aufgeführten Positionen nicht mit den Positionen des Leistungsverzeichnisses übereinstimmen, welches Gegenstand des Angebots der Beigeladenen ist. Dies ist jedoch grundsätzlich Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Auftragswertschätzung (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13.03.2019 – Verg 42/18). Hinzu kommt, dass die dokumentierte Auftragswertberechnung zwar die Positionen benennt, welche in die Schätzung des Auftragswerts eingeflossen sind. Erläuterungen dazu, welche Annahmen die Antragsgegnerin bei den ausgewiesenen Beträgen zugrunde legte, fehlen jedoch. Auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung konnte die Antragsgegnerin nur oberflächlich erläutern, welche Erwägungen sie zu den angenommenen Schätzgrößen geführt haben.

Soweit die Antragsgegnerin vorträgt, dass sie zur Ermittlung des geschätzten Auftragswerts maßgeblich auf das Angebot der Beigeladenen in N… abgestellt habe, fehlt es auch insoweit an einer hinreichenden Dokumentation. So kann die Vergabekammer insbesondere nicht beurteilen, ob die Orientierung an den Preisen des Auftrags für die standardisierte Notrufabfragesoftware der integrierten Leitstelle N… geeignet war, ein wirklichkeitsnahes Schätzergebnis erwarten zu lassen. Dagegen spricht, dass nach dem Vortrag der Beigeladenen die Module der Abfragesoftware entsprechend dem Bedarf in Umfang und Menge lizenziert werden und sich dieser von Leitstelle zu Leitstelle unterscheidet. Die Vergabekammer kann auch nicht beurteilen, ob die Antragsgegnerin hinreichende Zuschläge berücksichtigt hat, um etwaige Preissteigerungen seit der Zuschlagserteilung in N… Anfang des Jahres 2020 einzupreisen. Die Antragsgegnerin hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung lediglich erläutert, dass sie die Lizenzkosten des Referenzauftrags der ILS N… aufgerundet habe.

1.3. Fehlt es an einer ordnungsgemäßen oder plausiblen Auftragsschätzung, muss die Vergabekammer im Nachprüfungsverfahren den Auftragswert selbst anhand der eingegangenen Angebote schätzen (vgl. OLG Schleswig, Beschluss vom 28.01.2021 – 54 Verg 6/20; VK Südbayern, Beschluss vom 05.08.2019 – Z3-3-3194-1-14-05/19 m. w. N.).

Vorliegend kommt die Vergabekammer zu dem Ergebnis, dass ein ordnungsgemäß geschätzter Gesamtauftragswert den nach § 106 GWB maßgeblichen Schwellenwert von 215.000 Euro übersteigt. Zwar liegt die Netto-Summe des Angebots der Beigeladenen knapp unterhalb des maßgeblichen Schwellenwerts. Das Angebot der Beigeladenen ist jedoch nicht geeignet, die Richtigkeit der Auftragswertschätzung der Antragsgegnerin zu indizieren, da es nicht sämtliche Preisbestandteile umfasst, die bei dem im Rahmen der Auftragswertschätzung gemäß § 3 Abs. 1 VgV zu ermittelnden Gesamtwert zu berücksichtigen sind.

Der Gesamtwert bestimmt sich nach der Summe aller Kosten der nachgefragten Leistungen (BGH Urteil vom 20.11.2012 – X ZR 108/10; OLG München Beschluss vom 07.03.2013 – Verg 36/12) unter Berücksichtigung jeglicher Geldströme (OLG Brandenburg Beschluss vom 12.01.2016 – Verg W4/15; OLG Düsseldorf Beschluss vom 10.12.2014 – Verg 24/14). Sieht der öffentliche Auftraggeber Prämien oder Zahlungen an den Bewerber oder Bieter vor, sind auch diese gem. § 3 Abs. 1 Satz 3 VgV zu berücksichtigen. Die Schätzung muss insoweit alle geldwerten Vorteile einbeziehen, die ein zukünftiger Vertragspartner aus dem Auftrag ziehen kann (MüKoEuWettbR/Fülling, 4. Aufl. 2022, VgV § 3 Rn. 11).

Wie der Randbemerkung zur Anforderung Nr. 28 des Kriterienkatalogs mit den technischen Anforderungen zu entnehmen ist, sollten alle mit der Schnittstelle verbundenen Kosten, auch die des Herstellers des Einsatzleitsystems (ELS) wie Zertifizierung, Anpassung und Funktionstests, vom Bieter zu tragen und im Angebot darzustellen sein. Das Angebot der Beigeladenen enthält aber die Kosten für die ELS-seitige Implementierung der Schnittstelle gerade nicht. Auch die Kosten, welche auf Seiten des ELS-Anbieters für die Wartung der Schnittstelle anfallen, sind nicht Gegenstand des Angebots der Beigeladenen, da nach Angaben der Antragsgegnerin die Wartung im Rahmen eines Wartungsvertrages der Antragsgegnerin mit dem Anbieter der ELS-Software abgewickelt wird. Leistungen des öffentlichen Auftraggebers, die zu entsprechenden Einsparungen oder Aufwandsminderungen beim Auftragnehmer führen, stellen jedoch einen geldwerten Vorteil dar, der bei der Kostenschätzung zu berücksichtigen ist (für den speziellen Fall einer Bauleistung vgl. MüKoEuWettbR/Fülling, 4. Aufl. 2022, VgV § 3 Rn. 25). Denn es kann für die Ermittlung des Gesamtwerts eines Auftrags keinen Unterschied machen, ob der Auftraggeber dem Auftragnehmer eine Zahlung zur Minderung seines Aufwands zukommen lässt oder den vom Bieter zu tragenden Aufwand durch eine andere Form der Leistungserbringung kompensiert (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.12.2014 – Verg 24/14; konkret zu Betriebs- und Wartungskosten vgl. VK Südbayern, Beschluss vom 23.08.2017 – Z3-3-3194-1-24-05/17). Somit sind die von der Antragsgegnerin übernommenen Kosten für die ELSseitige Implementierung und Wartung der Schnittstelle bei der Schätzung des Auftragswerts zu berücksichtigen.

Ausweislich des von der Antragstellerin vorgelegten Angebots des ELS-Anbieters belaufen sich die Kosten für Implementierung und Wartung der Schnittstelle bezogen auf einen Zeitraum von vier Jahren auf einen niedrigen fünfstelligen Betrag. Unter Berücksichtigung dieser Kosten überschreitet das Angebot der Beigeladenen den maßgeblichen Schwellenwert von 215.000 Euro. Ebenfalls nicht Bestandteil des Angebots der Beigeladenen sind die Kosten für das sog. “Customizing”, welches ausweislich der Auftragswertberechnung einen optionalen Leistungsbestandteil bildet und dementsprechend gem. § 3 Abs. 1 Satz 2 VgV bei der Ermittlung des Gesamtwerts der Leistung zu berücksichtigen ist. Wie die Antragsgegnerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung erläuterte, sollte mit dieser Position ein Budget reserviert werden, um individuelle Anpassungen und Weiterentwicklungen der Software finanzieren zu können. Allein die Hinzurechnung dieser optionalen Leistungsposition zum Angebotspreis der Beigeladenen führt zu einer Überschreitung des Schwellenwerts.

Ob die Antragsgegnerin den Leistungsumfang des Auftrags darüber hinaus in der Absicht reduziert hat, ihn dem Anwendungsbereich der Bestimmungen des vierten Teils des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zu entziehen, bedarf vor diesem Hintergrund keiner Entscheidung.

1.4. Der Nachprüfungsantrag ist auch im Übrigen zulässig.

Gemäß § 160 Abs. 2 GWB ist ein Unternehmen antragsbefugt, wenn es sein Interesse am Auftrag, eine Verletzung in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB und zumindest einen drohenden Schaden darlegt.

Die Antragstellerin hat ihr Interesse am Auftrag durch die Einreichung des Nachprüfungsantrags nachgewiesen. Zwar wird das für die Antragsbefugnis erforderliche Interesse am Auftrag in der Regel durch die Abgabe eines Angebots dokumentiert. Werden jedoch angebotshindernde Vergaberechtsverstöße geltend gemacht, bedarf es eines Angebots nicht; vielmehr wird das Interesse am Auftrag in diesen Fällen durch die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens belegt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28.6.2017 – Verg 2/17). Die Antragstellerin hat ausgeführt, dass sie mangels Kenntnis von der beabsichtigten Vergabe keine Möglichkeit hatte, sich um den Auftrag zu bewerben. Es ist nicht erkennbar, dass sie mit diesem Nachprüfungsantrag einen anderen Zweck verfolgt, als den, den strittigen Auftrag (nach einer etwaigen Neuausschreibung) zu erhalten. Die Antragstellerin hat eine Verletzung in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB geltend gemacht. Sie hat insbesondere dargelegt, dass der Auftragswert der streitgegenständlichen Vergabe über dem maßgeblichen EU-Schwellenwert liegt und der Auftrag nicht im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht worden ist, obwohl dies geboten gewesen wäre.

Der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags steht auch keine Rügepräklusion nach § 160 Abs. 3 Satz 1 GWB entgegen, da gem. § 160 Abs. 3 Satz 2 GWB bei einem Feststellungsantrag nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB keine Rügeobliegenheit besteht (vgl. BayObLG, Beschluss vom 29.07.2022 – Verg 13/21).

Der Nachprüfungsantrag ist auch rechtzeitig innerhalb der Frist von 30 Kalendertagen nach der Information über den Abschluss des Vertrags gem. § 135 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 GWB gestellt worden. Ausweislich der Vorgabe in Art. 2f Abs. 1 lit. a Gedankenstrich 1 der RL 89/665/EWG des Rates vom 21.12.1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge in der durch die RL 2014/23/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.02.2014 geänderten Fassung (Rechtsmittelrichtlinie) muss die Information über den Abschluss des Vertrags eine Zusammenfassung der einschlägigen Gründe gemäß Art. 55 Abs. 2 der RL 2014/24/EU enthalten. Ohne eine solche Information beginnt die Frist des § 135 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 GWB nicht zu laufen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 22.02.2019 – 15 Verg 9/18). Ausweislich der Erwägungsgründe Nr. 6 und 7 der Rechtsmittelrichtlinie handelt es sich bei den mitzuteilenden Gründen um Informationen, die unerlässlich sind, um eine wirksame Nachprüfung zu beantragen. Wie die Antragstellerin vortrug, habe sie erst mit der E-Mail der Antragsgegnerin vom 02.05.2022 Kenntnis vom Auftragswert erlangt sowie den verschiedenen Gründen, auf welche die Antragsgegnerin die Direktvergabe stützte. Erst mit dieser Information sei es ihr möglich gewesen, zuverlässig zu beurteilen, ob im Rahmen der Auftragsvergabe durch die Antragsgegnerin gegen vergaberechtliche Vorschriften verstoßen wurde. Dem ist die Antragsgegnerin nicht entgegengetreten.

2. Der Nachprüfungsantrag ist auch begründet.

Die Antragsgegnerin hat den streitgegenständlichen Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben, ohne dass dies aufgrund Gesetzes gestattet ist. Hierdurch wurde die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt.

2.1. Da der geschätzte Gesamtauftragswert den gemäß § 106 GWB maßgeblichen Schwellenwert für öffentliche Lieferaufträge in Höhe von 215.000 Euro überschreitet, unterfällt der Auftrag dem Anwendungsbereich des vierten Teils des GWB. Die gem. §§ 3740 VgV grundsätzlich gebotene Auftragsbekanntmachung ist unterblieben.

Die Antragsgegnerin kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass im Rahmen eines EU-weiten Vergabeverfahrens die Veröffentlichung der Auftragsbekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union gemäß §§ 37 Abs. 1 Satz 2, 17 Abs. 5 VgV nicht erforderlich gewesen wäre, denn die Voraussetzungen für die Wahl eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb gemäß § 14 Abs. 4 VgV lagen im Zeitpunkt der Auftragsvergabe nicht vor.

Wie der Wortlaut der Vorschrift verdeutlicht, handelt es sich bei § 14 Abs. 4 VgV um eine Ermessensvorschrift (vgl. OLG München, Beschluss vom 28.09.2020 – Verg 3/20). Die Anwendung der dort normierten Ausnahmetatbestände hängt somit davon ab, dass die Vergabestelle auf Basis des ihr eingeräumten Ermessens eine Entscheidung dahingehend trifft, einen Auftrag im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben.

Bereits hieran fehlt es im vorliegenden Fall. Die Antragsgegnerin war ersichtlich der Auffassung, den Auftrag auf Basis der zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe in Bayern gültigen Vorschriften für die Vergabe von Aufträgen im kommunalen Bereich im Wege einer beschränkten Ausschreibung ohne Teilnahmewettbewerb vergeben zu können, sofern sich ein Bezug zur Corona-Pandemie herstellen ließe. Mangels gegenteiliger Angaben in der Vergabedokumentation hat sich die Antragsgegnerin mit dem Vorliegen der Tatbestandvoraussetzungen einer Direktvergabe aufgrund eines Alleinstellungsmerkmal gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 2 b) VgV oder einer Dringlichkeitsvergabe gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV nicht auseinandergesetzt. Selbst wenn man zugunsten der Antragsgegnerin annehmen wollte, dass sie dies nach Auftragsvergabe, insbesondere im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens, noch nachholen könnte (so OLG Dresden, Beschluss vom 21.09.2016 – Verg 5/16), bleibt ihr die Anwendung der Ausnahmevorschrift verwehrt, da die Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt sind.

Gem. § 14 Abs. 4 Nr. 2 b) VgV ist die Wahl des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb zulässig, wenn zum Zeitpunkt der Aufforderung zur Abgabe von Angeboten der Auftrag nur von einem bestimmten Unternehmen erbracht oder bereitgestellt werden kann, weil aus technischen Gründen kein Wettbewerb vorhanden ist. Dies gilt gem. § 14 Abs. 6 VgV jedoch nur dann, wenn es keine vernünftige Alternative oder Ersatzlösung gibt und der mangelnde Wettbewerb nicht das Ergebnis einer künstlichen Einschränkung der Auftragsvergabeparameter ist. Ausweislich des Erwägungsgrunds Nr. 50 der RL 2014/24/EU bedarf es einer Situation der objektiven Ausschließlichkeit, bei der die Ausschließlichkeitssituation nicht durch den öffentlichen Auftraggeber selbst mit Blick auf das anstehende Vergabeverfahren herbeigeführt wurde. Ob ein Alleinstellungsmerkmal i.S.v. § 14 Abs. 4 Nr. 2 b) VgV besteht, hängt damit maßgeblich von der Leistungsbestimmung des Auftraggebers ab.

Vorliegend hat die Antragsgegnerin zwar angeführt, dass der Auftragnehmer zum Einführungszeitpunkt über eine funktionierende Schnittstelle zum Einsatzleitsystem habe verfügen müssen, um eine schnelle Implementierung und Inbetriebnahme zu ermöglichen. Wie der Randbemerkung zu Anforderung Nr. 28 des an die Beigeladene vorab versandten Kriterienkatalogs zu entnehmen ist, war das Vorhandensein der Schnittstelle kein technisches (Ausschluss-) Kriterium der Leistung; hier ist vielmehr von einer zu erstellenden Schnittstelle die Rede. Auch das Leistungsverzeichnis beinhaltet keine Vorgabe dahingehend, dass die Schnittstelle zu “ELDIS3by” bereits vorhanden sein muss, sondern fragt im Gegenteil in den Positionen 3.1 sowie 3.2 Kosten für die Implementierung und Realisierung der Schnittstelle ab. Da es der Antragstellerin unstreitig möglich ist, die geforderte Schnittstelle zu erstellen, sind die von der Antragsgegnerin angeführten Gründe für die Beschränkung des Wettbewerbs auf die Beigeladene ausschließlich im Lichte der Dringlichkeit der Beschaffung i.S.v. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV zu beurteilen.

Gem. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV kann ein öffentlicher Auftraggeber Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben, wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das offene und das nicht offene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind, wobei die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein dürfen. Als Ausnahmevorschrift ist § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV eng auszulegen (vgl. VK Südbayern, Beschluss vom 21.10.2020 – 3194.Z3-3_01-20-31). Dringliche und zwingende Gründe kommen nur bei akuten Gefahrensituationen und höherer Gewalt in Betracht, die zur Vermeidung von Gefahren und Schäden für Leib und Leben ein sofortiges, die Einhaltung von Fristen ausschließendes Handeln erfordern (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.12.2019 – Verg 18/19 m.w.N.). Unvorhersehbar sind Ereignisse, mit denen auch bei Anlegung eines hohen objektiven Sorgfaltsmaßstabs nicht gerechnet werden konnte (Ziekow/Völlink/Völlink, 4. Aufl. 2020, VgV § 14 Rn. 60). Zwischen dem unvorhersehbaren Ereignis und den sich daraus ergebenden dringlichen, zwingenden Gründen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.06.2015 – Verg 39/14; EuGH, Urteil vom 15.10.2009 – C-275/08). Zudem sind auch im Rahmen einer Dringlichkeitsvergabe die Grundsätze des Wettbewerbs und der Verhältnismäßigkeit gem. § 97 Abs. 1 GWB zu beachten, so dass der Auftrag in Umfang und Dauer auf das zur vorübergehenden Bedarfsdeckung erforderliche Maß zu begrenzen ist (vgl. Ziekow/Völlink/ Völlink, 4. Aufl. 2020, VgV § 14 Rn. 65 f. m. w. N.).

Vorliegend ist schon nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin den Auftrag auf das zur Gefahrenabwehr erforderliche Maß begrenzt hätte. Die Reduktion der ursprünglich vorgesehenen Anzahl an zu beschaffenden Lizenzen hatte nach dem Vortrag der Antragsgegnerin seinen Grund darin, dass man erkannt hatte, wegen des “Concurrent”-Lizenzmodells separate Lizenzen für die Notfall-Leitstelle nicht zu benötigen. Hinzu kommt, dass der Beschaffungsbedarf für die standardisierte Notrufabfrage bereits Anfang des Jahres 2021 vorhanden war und jedenfalls Ende des Jahres 2021 die Erwartung bestand, alle Unterlagen am 10.01.2022 veröffentlichen zu können; also zu einem Zeitpunkt, an dem bereits mit einer schlagartigen Erhöhung der Infektionsfälle aufgrund der Omikron-Variante zu rechnen war (vgl. wöchentlicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 vom 30.12.2021, S. 3). Die Vergabekammer geht vor diesem Hintergrund davon aus, dass es der Antragsgegnerin möglich gewesen wäre, die Leistung bis zum 31.03.2022 auch im Rahmen eines beschleunigten offenen Verfahrens nach § 15 Abs. 3 VgV zu vergeben, was die Wahl eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb gem. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV von vorneherein ausschließt (vgl. VK Südbayern, Beschluss vom 12.08.2016 – Z3-3-3194-1-27-07-16).

2.2. Die Antragstellerin ist durch die vergaberechtswidrig unterbliebene Auftragsbekanntmachung auch in ihren Rechten verletzt.

Bei einem Verstoß im Sinne des § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB genügt es für die Annahme eines entstandenen oder drohenden Schadens, dass die Antragstellerin in vergaberechtswidriger Weise nicht am Verfahren beteiligt wurde. Dies stellt eine Verschlechterung der Zuschlagsaussichten und damit einen potentiellen Schaden dar (vgl. BayObLG, Beschluss vom 29.07.2022 – Verg 13/21). Eine Rechtsverletzung der Antragstellerin scheidet vorliegend auch nicht deswegen aus, weil die von ihr vertriebene Software weder vor noch im Zeitpunkt der Zuschlagserteilung über eine Schnittstelle zu ELDIS3by verfügte, da sich die Antragsgegnerin nach den in Abschnitt 2.1. dargelegten Gründen insoweit nicht auf das Vorliegen eines Alleinstellungsmerkmals berufen kann.

3. Kosten des Verfahrens

Die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer hat gemäß § 182 Abs. 3 S. 1 GWB derjenige zu tragen, der im Verfahren vor der Vergabekammer unterlegen ist. Dies ist vorliegend die Antragsgegnerin.

Die Gebührenfestsetzung beruht auf § 182 Abs. 2 GWB. Diese Vorschrift bestimmt einen Gebührenrahmen zwischen 2.500 Euro und 50.000 Euro, der aus Gründen der Billigkeit auf ein Zehntel der Gebühr ermäßigt und, wenn der Aufwand oder die wirtschaftliche Bedeutung außergewöhnlich hoch sind, bis zu einem Betrag vom 100.000 Euro erhöht werden kann.

Die Höhe der Gebühr richtet sich nach dem personellen und sachlichen Aufwand der Vergabekammer unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Bedeutung des Gegenstands des Nachprüfungsverfahrens.

Die Antragsgegnerin ist als Gemeinde von der Zahlung der Gebühr nach § 182 Abs. 1 S. 2 GWB i. V. m. § 8 Abs. 1 Nr. 3 VwKostG (Bund) vom 23. Juni 1970 (BGBl. I S. 821) in der am 14. August 2013 geltenden Fassung befreit.

Von der Antragstellerin wurde bei Einleitung des Verfahrens ein Kostenvorschuss in Höhe von 2.500 Euro erhoben. Dieser Kostenvorschuss wird nach Bestandskrafterstattet.

Die Entscheidung über die Tragung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin beruht auf § 182 Abs. 4 S. 1 GWB. Die Zuziehung eines anwaltlichen Vertreters wird als notwendig i. S. v. § 182 Abs. 4 S. 4 GWB i. V. m. Art. 80 Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 2 BayVwVfG angesehen. Die anwaltliche Vertretung war erforderlich, da die zweckentsprechende Führung eines vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahrens die rechtlichen Kenntnisse eines durchschnittlichen mittelständischen Unternehmens weit überschreitet. Für Bieter ist im Vergabenachprüfungsverfahren die Zuziehung eines anwaltlichen Vertreters regelmäßig erforderlich. Zur Durchsetzung ihrer Rechte war die Antragstellerin hier zudem aufgrund der komplexen Rechtsmaterie in Bezug auf die Feststellung der Unwirksamkeit einer Zuschlagserteilung auf anwaltliche Vertretung angewiesen.

Auch wenn die Beigeladene keine Anträge gestellt hat, muss die Vergabekammer von Amts wegen über die Aufwendungen der Beigeladenen entscheiden.

Die Entscheidung über die Tragung der zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beigeladenen beruht auf § 182 Abs. 4 S. 3, S. 2 GWB. Danach sind Aufwendungen der Beigeladenen nur erstattungsfähig, wenn die Vergabekammer sie als billig erachtet. Dabei setzt die Erstattungsfähigkeit jedenfalls voraus, dass die Beigeladene sich mit demselben Rechtsschutzziel wie der obsiegende Verfahrensbeteiligte aktiv am Nachprüfungsverfahren beteiligt hat (OLG Brandenburg, Beschluss vom 09.02.2010 – Verg W 10/09). Dafür muss eine den Beitritt eines Streithelfers vergleichbare Unterstützungshandlung erkennbar sein, an Hand derer festzustellen ist, welches (Rechtsschutz-) Ziel eine Beigeladene in der Sache verfolgt (OLG Celle, Beschluss vom 27.08.2008 – 13 Verg 2/08). Ist eine solche nicht ersichtlich, handelt es sich bei den entstandenen Aufwendungen der Beigeladenen nicht um solche zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung (VK Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.02.2010 – 1 VK 76/10).

Die Beigeladene hat mit ihrem Vortrag zur Sachverhaltsklärung beigetragen, jedoch keine Anträge gestellt und sich die Rechtsposition der Antragsgegnerin auch nicht zu eigen gemacht. Sie war ersichtlich bestrebt, kein Kostenrisiko auf sich zu nehmen; sie trägt ihre Aufwendungen selbst.

(…)

TFMoptimize2024 – bringen Sie Ihr Technisches Facility Management auf den neuesten Stand

TFMoptimize2024 - bringen Sie Ihr Technisches Facility Management auf den neuesten Stand

von Thomas Ax

Vorhaben TFMoptimize2024

Mit TFMoptimize2024 werden umfassende Leistungen des technischen Facility Managements, d. h. der Instandsetzung und Instandhaltung, des Energieverbrauchsmengenmanagements sowie der Objektbetreuung und -dokumentation auf einen privaten Auftragnehmer übertragen. Ggf. werden weitere Leistungen des infrastrukturellen Gebäudemanagements in die Ausschreibung integriert. Gegenstand der Leistungserbringung sollen dabei eines oder mehrere Ihrer Objekte (Bündelung mehrere Objekte in einer Ausschreibung). Mit einer Markterkundung geben wir in Ihrem Auftrag potentiellen Marktanbietern einen Einblick in das geplante TFMoptimize2024 nebst Informationen zur Risikoverteilung und zum Ablauf eines möglichen Vergabeverfahrens. Die Teilnehmer werden von uns in Ihrem Auftrag anhand konkreter Fragen zur Abgabe einer Markteinschätzung aufgefordert.

Der Leistungsumfang definiert sich zum einen aus seiner allg. Betreiberverantwortung und zum anderen aus der Übertragung der Leistungen des technischen Facility Managements. Wir nehmen in Ihrem Auftrag mit den Vergabeunterlagen eine Einordnung des Gebäudes in sog. Zustandsklassen vor und machen eine entsprechende zeitliche Vorgabe im Sinne einer Frist zur Erreichung einer Verbesserung der Zustandsklassen. Darüber definieren wir einzelne Maßnahmen (Instandsetzung und ggf. auch Modernisierung), die ebenfalls binnen einer bestimmten Zeitspanne durch den Auftragnehmer umzusetzen sind. Der Auftragnehmer kann die Maßnahmen innerhalb der formulierten Vorgaben nach seinen Vorstellungen bündeln und so Effizienzvorteile in der Koordination, Vergabe und Umsetzung erreichen. Der Auftragnehmer soll mit einem Mitarbeiter im Objekt vertreten sein. Es kann in Erwägung gezogen werden, weitere Leistungen des infrastrukturellen Gebäudemanagements in die Ausschreibung zu integrieren.

Nachfolgend werden die wesentlichen Eckpunkte des Konzeptes TFMoptimize2024 hinsichtlich Leistungsumfang, Risikoverteilung, Vergütung, Kündigungsregelung, Bestandsdokumentation und Vergabeverfahren skizziert.

Leistungsumfang

Der Leistungsumfang des Auftragnehmers definiert sich zum einen aus seiner allg. Betreiberverantwortung und zum anderen aus der Übertragung der Leistungen des technischen Facility Managements. Der Auftraggeber nimmt mit den Vergabeunterlagen eine Einordnung des Gebäudes in sog. Zustandsklassen vor und macht eine entsprechende zeitliche Vorgabe im Sinne einer Frist zur Erreichung einer Verbesserung der Zustandsklassen. Darüber hinaus wird er einzelne Maßnahmen (Instandsetzung und ggf. auch Modernisierung) definieren, die ebenfalls binnen einer bestimmten Zeitspanne durch den Auftragnehmer umzusetzen sind. Der Auftragnehmer kann die Maßnahmen innerhalb der formulierten Vorgaben nach seinen Vorstellungen bündeln und so Effizienzvorteile in der Koordination, Vergabe und Umsetzung erreichen.

Der Auftragnehmer soll mit einem Mitarbeiter im Objekt vertreten sein. Es kann in Erwägung gezogen werden, weitere Leistungen des infrastrukturellen Gebäudemanagements in die Ausschreibung zu integrieren.

Risikoverteilung, Vergütung und Kündigungsregelungen

Dem Auftragnehmer soll mit dem TFMoptimize2024 Vertrag die umfassende Betreiberverantwortung für eine Laufzeit von 5 bis 15 Jahren übertragen werden.

Dem Auftragnehmer sollen, soweit alle Bestandsrisiken übertragen werden, die für den sach- und fachkundigen Baufachmann aus den vorliegenden Bestandsunterlagen und Gutachten erkennbar waren. Den Bietern werden im Rahmen des Verfahrens mehrfach Möglichkeiten zur Objektbegehung sowie die Möglichkeit zur Einforderung weiterer Gutachten eingeräumt.

Es wird erwartet, dass der Auftragnehmer ein pauschaliertes Entgelt zur Umsetzung der vorgegebenen Instandsetzungsarbeiten wie auch zur Erreichung der vorgegeben Zustandsklassen anbietet. Die Reaktion auf Not- und Störfälle soll ebenfalls pauschaliert erfolgen. Die Regelung von Reaktions- und Behebungszeiten erfolgt über sog. Service Level Agreements auf Bauteilebene.

Der Auftragnehmer soll Verbrauchsmengengarantien für Medienverbräuche (ausgenommen Nutzerstrom) abgeben. Eine Witterungsbereinigung wird entsprechend berücksichtigt, das Risiko der Preisentwicklung trägt der Auftraggeber.

Wir stellen in Ihrem Auftrag eine umfangreiche Bestandsdokumentation mit den Vergabeunterlagen zur Verfügung.

Für die Vergütung der Leistungen kommen verschiedene Modelle in Frage. Laufende Leistungen (z. B. Bedienung und Wartung) sollen im Wege eines konstanten Entgeltes vergütet werden. Für Instandsetzungsarbeiten wird eine Linearisierung (z. B. über 5 Jahre oder über die gesamte Vertragslaufzeit) in Verbindung mit einem Instandhaltungsreservekonto oder eine Vergütung nach tatsächlichem Kostenverlauf bzw. eine Kombination der Strukturen (lineares Entgelt für wiederkehrende Leistungen und Entgelt nach tatsächlichem Kostenverlauf für Instandsetzungsleistungen) erwogen.

Schlecht- oder Nichtleistungen werden über ein an die Zustandsklassen (Service Level Agreements) gekoppeltes Malus-System in Form einer Entgeltkürzung sanktioniert. Es wird erwogen, einen Mechanismus festzulegen, der in Abhängigkeit von der Häufigkeit der Sanktionierung zu einer Verschärfung der Fristen führt.

Es wird erwogen, zu definierten Zeitpunkten (z. B. 5 Jahre) Teilkündigungsmöglichkeiten im Vertrag vorzusehen.

Fragen zur Markteinschätzung

Wir konfrontieren im Rahmen einer Markterkundung Marktteilnehmer mit unserem Projekt und bitten um eine kurze Einschätzung und Stellungnahme zu den nachstehend formulierten Fragen:

1) Bitte geben Sie uns eine Einschätzung zur geplanten Vertragslaufzeit (5 bis 15 Jahre)? Welche wirtschaftlichen Vorteile gehen mit einer längeren Laufzeit einher?

2) Wie bewerten Sie die Einräumung von Teilkündigungsmöglichkeiten zu vorab definierten Zeitpunkten?

3) Wie bewerten Sie eine Integration weiterer Leistungen des infrastrukturellen Gebäudemanagements (z. B. Reinigung, Kontrolle der Reinigung, Empfangsleistungen, Hausmeister, Grün- und Grauflächenpflege, Winterdienst) sowie der Qualitätssicherungen (z. B. Kontrolle der Reinigung) in den Leistungsumfang?

4) Der Auftraggeber plant die Übertragung von Verbrauchsmengenrisiken für Medien (ausgenommen Nutzerstrom), ggf. auch in verschiedenen Stufen über die Laufzeit (Zielvorgaben). Wie bewerten Sie die Übertragung von Verbrauchsmengenrisiken und welche Modelle bieten aus Ihrer Sicht die optimalen Anreize für eine wirtschaftliche Umsetzung (z. B. Festlegung einer maximalen Verbrauchsmenge mit dem Angebot oder Festlegung der maximalen Verbrauchsmenge in Abhängigkeit von Referenzjahren)?

5) Welche Mindestgröße (m2BGF) ist aus Ihrer Sicht erforderlich, um eine wirtschaftliche Projektrealisierung mit den genannten Anforderungen sicherzustellen. Gibt es aus Ihrer Sicht eine maximale Projektgröße?

6) Welche Bestandsunterlagen (insb. Gutachten) sind aus Ihrer Sicht wesentlich für eine wirksame und faire Übertragung der Bestandsrisiken?

7) Wie bewerten Sie die Vergütung nach tatsächlichem Kostenverlauf im Vergleich zu einer (teil-)linearisierten Vergütung?

8) Sind die geplanten Fristen für ein Verfahren mit der vorgesehen BGF aus Ihrer Sicht auskömmlich?

9) Wie wäre aus Ihrer Sicht eine angemessene Entschädigung für die Aufwendungen im Vergabeverfahren zu gestalten?

10) Wie bewerten Sie eine Honorierung von Optimierungsvorschlägen im Vergabeverfahren über die Angebotsbewertung?

usw.

Wir laden alle interessierten Anbieter zur Abgabe einer Markteinschätzung ein.

Wir behalten uns vor, bei Bedarf mit ausgewählten Anbietern, maximal 15, telefonische Interviews zu führen.

Zur Abgabe einer Markteinschätzung bitten wir Einreichung der Antworten zu den formulierten Fragen über den Kommunikationsweg des jeweils benutzten Vergabeportals. Die Antworten und die informationen werden ausgewertet und für das sich anschließende Vergabeverfahren nutzbar gemacht.  

Vergabeverfahren

Wir gehen davon aus, dass die Leistungen im Wege eines europaweiten Vergabeverfahrens mit vorgeschaltetem Teilnahmewettbewerb auszuschreiben sind. Als Verfahrensart kommen dabei grds. das Verhandlungsverfahren oder ggf. auch der wettbewerbliche Dialog in Frage, in dessen Rahmen technische Lösungen mit den Dialogteilnehmern erörtert werden könnten.

Es ist geplant, nach dem Teilnahmeantrag 3 bis 5 Teilnehmer zur Abgabe eines Angebotes aufzufordern und den Teilnehmerkreis ggf. über mehrere Verhandlungs- oder Dialogrunden zu verkleinern, um abschließend 3 Anbieter zur Abgabe eines finalen Angebotes aufzufordern. Derzeit wird von einer Verfahrensdauer von rd. 10 bis 14 Monaten ab Veröffentlichung der EU-Bekanntmachung ausgegangen. Der Zeitraum für die erste Angebotserarbeitung wird dabei mit rd. 4 bis 6 Monaten und für die zweite Angebotsrunde mit 2 bis 4 Monaten angesetzt.

Zur Bewertung der Angebote werden neben dem Preis auch qualitative Bewertungskriterien (Zeitplan der Umsetzung, Qualität der Leistungserbringung) herangezogen. Es wird geprüft, inwiefern auch eine Honorierung von Optimierungsvorschlägen der Bieter über die Bewertungsmatrix erfolgen kann.

Interesse?

24/7

VergabePrax – Fachmedium für Fachleute (und solche die es gerne werden wollen) im Vergaberecht

VergabePrax - Fachmedium für Fachleute (und solche die es gerne werden wollen) im Vergaberecht

Es gibt viele Gründe, warum die Arbeit im Vergaberecht komplex ist.

Zum einen wirken unterschiedliche Anforderungen auf die Durchführung des Vergabefahrens ein. Genannt seien die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Bedarfsträgern, Zuwendungsgebern, politischen Entscheidern und Unternehmen. Zum anderen tragen laufende Aktualisierungen der Rechtsprechung und der vergaberechtlichen Normen dazu bei, ein beständiges vergaberechtliches Wissen aufzubauen.

In diesem Arbeitsumfeld haben wir vor allem ein Ziel: Wir wollen die öffentlichen Auftraggeber stark machen und sie bei der weiteren Professionalisierung und Digitalisierung der öffentlichen Beschaffung unterstützen.

In Zeiten der ständigen Veränderungen muss sich der/die öffentliche Beschaffer:in auf dem Laufenden halten. Mit über 2000 Leser:innen der Zeitschrift VergabePrax sind wir hier ein zentraler Multiplikator von Vergabewissen. In der VergabePrax werden aktuelle Schwerpunktthemen rund um das Vergaberecht beleuchtet und diskutiert. Dabei unterstützen wir Sie mit Handlungsempfehlungen und Tipps zu Ihrer täglichen Arbeit mit öffentlichen Ausschreibungen.

Unsere Fachzeitschrift zeichnet vor allem folgende Punkte aus:

Aktualität: Die monatlich erscheinenden Ausgaben der Zeitschrift beziehen sich auf aktuell diskutierte Themen und aktuelle Rechtsprechungen.

Praxisrelevant: Ganz nach dem Motto von Praktiker:innen für Praktiker:innen, werden in unserer Zeitschrift Themen besprochen, die jeden Praktizierenden betreffen.

Renommierter Herausgeber: Unser Herausgeber ist hochkarätige Fachkraft aus dem Bereich Vergaberecht und öffentlicher Einkauf.

Was erwartet Sie in unserer Fachzeitschrift?

360˚ Sicht zu einem bestimmten Beschaffungsgegenstand aus den Fachgebieten VgV, UVgO und E-Vergabe. Beispielsweise agile Softwareprojekte, Feuerwehrfahrzeuge, Außenwerbeverträge, Mobilitätsleistungen und Reinigungsleistungen. Alles, was die Vergabe-Welt aktuell beschäftigt. Dazu gehören die Grundsätze der Beschaffung und Vergabe, Veröffentlichungen aktueller Entscheidungen, Kurzbesprechungen der relevantesten vergaberechtlichen Entscheidungen uvm.

Wir freuen uns über Ihr Interesse.

Freuen Sie sich auf die nächsten Ausgaben!

Ihre Redaktion

Temporäre KITA gefällig?

Temporäre KITA gefällig?

von Thomas Ax

Aufgabe: Benötigt wird ein temporäres Gebäude zur Auslagerung einer Kindertagesstätte.

Lösung
: Schlüsselfertige Errichtung eines zur späteren Demontage geeigneten Gebäudes in Holzbauweise.

Zur Ausführung kommt dabei ein modulares und zur Demontierbarkeit geeignetes, schlüsselfertiges Gebäude in Holzbauweise mit einer geplanten Standzeit von 5 Jahren. Eine demontierbare und wiederaufbaubare Konstruktion ist dabei Voraussetzung und zur Angebotsabgabe nachzuweisen. Der Rückbau der Anlage, ebenso wie die Erschließungs- und Gründungsarbeiten sind dabei nicht Teil der Ausschreibung und werden bauseits geleistet. Das Gebäude soll die Unterbringung einer auszulagernden Kindertagesstätte ermöglichen und gemäß dem nachfolgenden Raumprogramm, den Planunterlagen, Entwurfsberichten der Bauphysik in der Anlage sowie den Bauteil- und Technikbeschreibungen dieser Ausschreibung als Generalunternehmerleistung errichtet werden.

Zum Leistungsumfang des Auftragnehmers gehört die schlüsselfertige Errichtung eines zur späteren Demontage geeigneten Gebäudes in Holzbauweise auf der bauseits erstellten Bodenplatte, einschließlich der gebrauchsfertigen technischen Gebäudeausrüstung im nachfolgend beschriebenen Umfang. Die zur Ausführung erforderliche Baustelleneinrichtung, einschließlich aller Schutzmaßnahmen am Gebäude selbst sind ebenfalls Teil der Gesamtleistung. Vor Errichtung des Gebäudes hat der Auftragnehmer eine prüffähige Werkplanung mit allen relevanten Gebäudedetails und Ausstattungen vorzulegen, die durch den Auftraggeber freizugeben ist. Ferner sind im Hinblick auf die jeweiligen Bestellzeiten rechtzeitig alle geforderten Muster und Materialproben beim Auftraggeber vorzulegen. Der Auftragnehmer hat zusätzlich zur Werkplanung dem Auftraggeber ein Konzept zur strukturierten und zerstörungsarmen Demontage des Gebäudes zur Verfügung zu stellen, auf dessen Grundlage das Gebäude nach Ablauf der geplanten Standzeit abgebaut und an anderer Stelle erneut errichtet werden kann.

Vor und während der Baumaßnahme sind alle relevanten Bautechnischen Nachweise für die baubegleitende Genehmigungsplanung rechtzeitig zu erstellen und vorzulegen. Der Auftragnehmer hat alle geforderten Bescheinigungen einzuholen und Abnahmen durchzuführen, um eine termingerechte Übergabe und Inbetriebnahme des Gebäudes zu ermöglichen. Innerhalb der Gewährleistungszeit von 4 Jahren nach der Endabnahme übernimmt der Auftragnehmer die Wartung der Sicherheitstechnischen und Gebäudetechnischen Ausstattungen, die einer Wartung bedürfen. Die Wartungskosten sind Teil des Angebotes und werden im Leistungsverzeichnis separat abgefragt.

In der funktionalen Leistungsbeschreibung in so bezeichneten Teilen C, D und E sind die in der Entwurfsplanung angesetzten Konstruktionen, Bauteile und Materialien gewerkeweise beschrieben. Deren Aufbau und Ausführungen können unter Beibehaltung der geforderten Außen- und Raummaße, der statischen und bauphysikalischen Anforderungen und des gewünschten Erscheinungsbildes verändert ausgebildet werden, um der modularen Bauweise des Auftragnehmers zu entsprechen. Durch eine abweichende Konstruktion oder Ausführung der Bauteile dürfen sich keine Beeinträchtigungen hinsichtlich des Brandschutzes oder Änderungen in Bezug auf das zu Grunde gelegte Brandschutzkonzept oder die Baugenehmigung ergeben.

Nimmt der Auftragnehmer Änderungen gegenüber der hier dargestellten Entwurfsplanung vor, so sind sämtliche daraus entstehenden Mehrkosten in den angebotenen Pauschalpreis einzukalkulieren und damit abgegolten. Dies gilt auch für Mehrkosten, die erst nachträglich erkennbar werden, wenn sie auf Änderungen zurückzuführen sind, die der Auftragnehmer zu verantworten hat. Die Bauteil- und Anlagenbeschreibungen stellen das Gebäudekonzept der Entwurfsplanung dar. Alle Arbeiten, Lieferungen und Leistungen, die zu einer umfassenden, gebrauchsfertigen Bauausführung gehören oder nach den anerkannten Regeln der Technik üblich oder gefordert sind, werden vom angebotenen Pauschalpreis abgedeckt, auch wenn sie in der Beschreibung nicht vollständig oder nicht ausdrücklich erwähnt werden.

Qualitativ müssen die Leistungen dem ausgeschriebenen Standard entsprechen. Sämtliche Massen, die der Auftragnehmer zur Erstellung der Kalkulation benötigt, hat er selbstständig zu ermitteln. Der AN trägt das Massenrisiko. Die in den Anlagen enthaltenen Angaben (Flächen, Längen etc.) haben informativen Charakter und sind keineswegs verbindlich. Das beschriebene Gebäude ist komplett funktionsfähig nach Stand der Technik zu planen und zu realisieren. Die Leistungsbeschreibungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Alle Konstruktionen und Ausführungsdetails müssen nach DIN, Technischen Regeln und Herstellerrichtlinien ausgeführt werden, auch wenn erforderliche Nebenleistungen nicht vollständig beschrieben oder in den Detailzeichnungen aufgeführt sind.

Grundsätzlich einzuhalten sind die Anforderungen der
– Hessischen Bauordnung und Hessischen Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmung in aktueller Fassung
– Gebäudeenergiegesetz 2020
– DIN 18024-2 bzw. DIN 18040-1 “Barrierefreies Bauen in
– öffentlich zugänglichen Gebäuden und Arbeitsstätten”
– in der für Hessen gültigen Fassung
– DGUV Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Regel 102-002 “Kindertageseinrichtungen”

Der detailliert beschriebene Leistungsumfang ist in einem Teil F zu finden. Grundlage und Vertragsbestandteil für die Ausführung und Abrechnung sind darüber hinaus und soweit in der Leistungsbeschreibung keine Abweichungen enthalten sind, die geltenden Normen in der jeweils neuesten Fassung, die allgemein anerkannten Regeln der Technik sowie alle sonstigen in Frage kommenden Normen, Vorschriften, Richtlinien, insbesondere die einschlägigen Arbeitsschutzbestimmungen, die Unfallverhütungsvorschriften sowie die Verarbeitungsvorschriften der Hersteller der verwendeten Stoffe und Bauteile.

Bayern: Baurecht und Technik: Asylbewerberunterkünfte

Bayern: Baurecht und Technik: Asylbewerberunterkünfte

Die immer weiter steigende Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerber stellt alle Beteiligten vor große Herausforderungen. Der Bund hat durch das am 06./07.11.2014 von Bundestag und Bundesrat  beschlossene Gesetz über Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen für eine erste Flexibilisierung gesorgt. Das Gesetz wird im Rundschreiben der Obersten Baubehörde vom 11.11.2014 und im Rundschreiben vom 06.03.2015 mit einer Erläuterung der wesentlichen Neuerungen thematisiert. Allgemeine Hinweise des Bundes finden Sie hier.

Im Rundschreiben vom 01.08.2013 zur Unterbringung von Asylbewerbern sowie im Rundschreiben vom 18.08.2015 zu bauordnungs- und bauplanungsrechtliche Fragen finden Sie weitere Hinweise zu in der Praxis wiederholt aufgeworfenen Problempunkten. Sie verdeutlichen die bestehenden Handlungsspielräume für sachgerechte Lösungen im Einzelfall. Bereits mit Rundschreiben vom 25.07.2011 zum Brandschutz in bestehenden Gebäuden wurden allgemeine Hinweise zu den Themen ‘Bestandsschutz’, ‘Änderung im Bestand’ und ‘Brandschutznachweis als Bauvorlage’ gegeben, die dementsprechend auch für die Sonderkonstellation der Umnutzung von Bestandsbauten zu Asylunterkünften Anwendung finden.

Der am 24. Oktober 2015 in Kraft getretene Artikel 6 des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes (BGBl. I S. 1722) brachte zusätzliche bauplanungsrechtliche Erleichterungen für Flüchtlings- und Asylunterkünfte mit sich. Diese bis Ende 2019 befristeten Neuregelungen in § 246 BauGB gehen erheblich über die zuvor geltenden Bestimmungen des § 246 Abs. 8 bis 10 BauGB hinaus. Sie werden in den „Hinweisen der Fachkommission Städtebau zur bauplanungsrechtlichen Beurteilung von Standorten für Unterkünfte von Flüchtlingen und Asylbegehrenden in den verschiedenen Gebietskulissen“ (Stand: 15.12.2015) näher dargestellt. Das Rundschreiben vom 22.12.2015 fasst die wesentlichen Inhalte dieser Hinweise hinsichtlich der Neuregelungen zusammen und enthält ergänzende Erläuterungen. Die Hinweise der Fachkommission Städtebau vom 15.12.2015 sind diesem Rundschreiben als Anlage beigefügt.

Niedersachsen: Baurechtliche Sonderregelungen für Flüchtlingsunterkünfte

Niedersachsen: Baurechtliche Sonderregelungen für Flüchtlingsunterkünfte

Bis zum 31.12.2019 können die zuständigen Bauaufsichtsbehörden von Vorschriften Gebrauch machen, die die Schaffung von Unterkünften für Flüchtlinge oder Asylsuchende vereinfachen und beschleunigen sollen.

Damit Übernachtungsmöglichkeiten für einen längeren Zeitraum geschaffen werden können, kann von den Vorgaben der normalerweise geltenden bauplanungsrechtlichen Vorschriften abgewichen werden. So können mobile Unterkünfte für Flüchtlinge oder Asylsuchende ohne Baugenehmigung errichtet werden, aber

  • maximal auf drei Jahre befristet und
  • mit höchstens zwei Geschossen,
  • die Interessen von Nachbarn dürfen nicht beeinträchtigt werden,
  • auch für Flüchtlinge sollen gesunde Wohnverhältnisse geschaffen und
  • unzumutbare Belastungen durch Lärm für alle Beteiligten vermieden werden.


Sollen bereits bestehende und nach allgemeingültigen Vorschriften zulässigerweise errichtete Gebäude als Aufnahmeeinrichtung, Gemeinschaftsunterkunft oder sonstige Unterkunft für Flüchtlinge genutzt werden, ist diese Nutzungsänderung in Gewerbegebieten, aber auch in reinen Wohngebieten zulässig, wenn

  • diese Nutzung weitgehend mit den Belangen der Nachbarn und/oder der Öffentlichkeit vereinbar und
  • auch hier höchstens auf drei Jahre befristet ist,


Diese Erleichterungen können bis zum 31.12.2019 angewendet werden.

In Niedersachsen sind die genannten Möglichkeiten mit dem seit 19.11.2015 geltenden „Gesetz zur Erleichterung der Schaffung von Unterkünften für Flüchtlinge oder Asylbegehrende (NEFUG)“ anwendbar.

Der § 2 NEFUG sieht beispielsweise vor, dass bei der Schaffung von Unterkünften für Flüchtlinge kein Kraftfahrzeugstellplatz gebaut, kein Kinderspielplatz eingerichtet werden muss oder auch auf das barrierefreie Bauen verzichtet werden kann.

Abweichend von den bisher geltenden Zuständigkeitsregelungen ist gemäß §§ 3 und 4 NEFUG das Sozialministerium als zuständige höhere Verwaltungsbehörde bestimmt worden.

  • Werden somit neue Unterkünfte bis zu zwei Geschossen oder
  • die Nutzungsänderung zur befristeten Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylsuchenden geplant,
  • für die keine Baugenehmigung erforderlich sein soll und
  • das staatliche Baumanagement, die Klosterkammer Hannover, die Bauverwaltung einer Kommune oder eines Landkreises die Baumaßnahmen überwacht,
  • muss diese Stelle bei dem Sozialministerium die Zulässigkeit der Abweichung von bisher bestehenden Bauvorschriften beantragen. Das Ministerium entscheidet sodann durch Verwaltungsakt, ob von den Bauvorschriften abgewichen werden darf.


Die Zustimmung des Ministeriums ist darüber hinaus für den Fall einzuholen, dass

  • private Träger entsprechende Vorhaben planen,
  • bestehende Container beispielsweise auf drei Geschosse aufgestockt werden oder
  • neue feste Unterkünfte an Orten errichtet werden sollen, die der Genehmigungspflicht unterliegen


Das Ministerium kann sodann zustimmen und gleichzeitig die entsprechende Baugenehmigung erteilen.

Der Gemeinde sind die entsprechenden Unterlagen zuzuleiten und um Stellungnahme zu bitten. Wird innerhalb von vier Wochen nicht widersprochen oder erfolgt gar keine Antwort, gilt die Zustimmung der Gemeinde als erteilt.

Mit Blick auf die zeitliche Befristung der Ausnahmen ist zu beachten, dass damit grundsätzlich kein Bestandsschutz gewährleistet ist. Nach dem Ende der Nutzung als Flüchtlingsunterkunft ist nach den bestehenden Vorschriften zu prüfen, welche Nutzung vor der Errichtung oder Nutzungsänderung zulässig war. Unter Umständen kann auch ein Rückbau notwendig sein.

Zuständig im Nds. Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung ist die Abteilung Bauen und Wohnen.

Auf der Homepage des MS können unter „Öffentliches Planungs- und Baurecht“ die „Hinweise zur bauplanungsrechtlichen Beurteilung von Standorten für Unterkünfte von Flüchtlingen und Asylbegehrenden in den verschiedenen Gebietskulissen“ vom 15.12.2015 heruntergeladen werden, die Angaben zu den einzelnen Vorschriften und deren Umsetzung enthalten.

Hinweise zu den bauaufsichtlichen Anforderungen für die Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen

Hinweise zu den bauaufsichtlichen Anforderungen für die Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen

(Stand März 2022)

Aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine ist eine zunehmende Anzahl von Menschen auf der Flucht. Zahlreiche Flüchtlinge haben zwischenzeitlich auch Deutschland erreicht. Die Anzahl der in Hessen zu erwartenden Kriegsflüchtlinge kann derzeit kaum abgeschätzt werden, ebenso wenig die Dauer der Flüchtlingskrise. Häufig müssen die neu eintreffenden Menschen sehr kurzfristig in bisher anders genutzten Gebäuden untergebracht werden.
Nach der Hessischen Bauordnung (HBO) ist i. d. R. vor der Nutzungsaufnahme von bisher anderweitig genutzten bzw. genehmigten Gebäuden bzw. vor der Aufstellung von Zelt- oder Containeranlagen ein Baugenehmigungs- oder Zustimmungsverfahren erforderlich. So bedürfen Nutzungsänderungen von baulichen Anlagen und Räumen der Baugenehmigung, wenn für die neue Nutzung andere oder weitergehende öffentlich-rechtliche, insbesondere auch bauplanungsrechtliche Anforderungen als für die bisherige Nutzung in Betracht kommen (vgl. Abschnitt III Nr. 1 der Anlage zu § 63 HBO). Die bauplanungsrechtlichen Rahmenbedingungen für die Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden ergeben sich insbesondere aus der kommunalen Bauleitplanung, dem Baugesetzbuch (BauGB) und der hierauf gestützten Baunutzungsverordnung (BauNVO). Mögliche planungsrechtliche Einschränkungen bestehen unabhängig von der materiell-rechtlichen Bewertung der vorgesehenen Unterbringung nach HBO. Zu den bauplanungsrechtlichen Rahmenbedingungen siehe „Standorte für die Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern in Deutschland“ (unter dem Link: https://wirtschaft.hessen.de/wohnen-bauen/baurecht/bauplanungsrecht). Aktuell kommt die Durchführung förmlicher Verfahren aufgrund des engen zeitlichen Vorlaufs der Unterbringung und der damit drohenden Obdachlosigkeit der Flüchtlinge vor Nutzungsaufnahme meist nicht in Betracht.

I. Duldung

Vorausgesetzt, dass materielle Mindeststandards zur Gefahrenabwehr eingehalten sind, ist in Anbetracht der bestehenden Notsituation eine zeitlich befristete Duldung der Nutzung ohne förmliches Verfahren vertretbar. Die Personensicherheit, insbesondere die Durchführbarkeit einer schnellen Räumung im Gefahrenfall, hat dabei oberste Priorität. Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass eine Duldung für einen Zeitraum vertretbar ist, innerhalb dessen ein Baugenehmigungsverfahren durchgeführt werden kann. Im Regelfall sind dies drei Monate. Diese Frist dürfte in Anbetracht der aktuellen Lage zu kurz bemessen sein, da die zuständigen Stellen allein mit der Schaffung neuer Unterbringungsmöglichkeiten ausgelastet sind und aktuell entsprechende Änderungen des BauGB anstehen. Ist die Beendigung der Nutzung nach sechs Monaten nicht absehbar, so sollte durch den verantwortlichen öffentlichen Träger eine zeitliche Konzeption für die Durchführung eines förmlichen Verfahrens veranlasst werden.

II. Zuständigkeit

· Soweit die Voraussetzungen des Zustimmungsverfahrens nach § 79 Abs. 1 bis Abs. 3 HBO erfüllt sind, bedarf es keiner Duldung durch die untere Bauaufsichtsbehörde. So kann ein Vorhaben zur Unterbringung von Kriegsflüchtlingen (Neuerrichtung oder Nutzungsänderung) im Zuständigkeitsbereich der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge(HEAE) ohne Baugenehmigungsverfahren erfolgen, soweit die  Leitung der Entwurfsarbeiten einer Baudienststelle des Landes oder des Bundes übertragen wird, die den Anforderungen des § 60 Abs. 2 HBO entsprechend besetzt ist. Gebäude, die durch das HEAE zum Zweck der Erstunterbringung erstellt oder umgenutzt werden, sind i. d. R. Vorhaben in öffentlicher Trägerschaft. Die Regierungspräsidien sowie die unteren Bauaufsichtsbehörden und die örtlichen Brandschutzdienststellen werden ggf. im Wege der Amtshilfe bei der Einrichtung von Erstunterkünften tätig. Die Amtshilfe ist in den §§ 4 ff. des Hessischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (HVwVfG) geregelt. Nach § 7 Abs. 2 Satz 2 HVwVfG ist die ersuchte Behörde im Rahmen des Amtshilfeersuchens für die Durchführung der Amtshilfe verantwortlich. Eine eigene Zuständigkeit der unteren Bauaufsichtsbehörde für die Überwachung von Bauvorhaben in öffentlicher Trägerschaft besteht nicht.
· In Einzelfällen ist die Einrichtung von Erstunterkünften auf direkte ministerielle Weisung durch das Hessische Ministerium des Innern und für Sport (HMdIS) bzw. das Hessische  Ministerium für Soziales und Integration (HMSI) durch den Katastrophenschutz möglich. In diesen Fällen kommt die Freistellungsregelung nach Abschnitt I Nr. 11.14 der Anlage zu § 63 HBO in Betracht.
· Ein großer Teil der eintreffenden Kriegsflüchtlinge muss kurzfristig durch die Kommunen untergebracht werden. Eine Unterbringung in Wohnungen ist aufgrund des angespannten Wohnungsmarktes i. d. R. nicht möglich. Eine Unterbringung, z. B. in Bürogebäuden, muss deshalb im Rahmen von (ggf. vorrübergehenden) Umnutzungen erfolgen. Soweit es sich nicht um Vorhaben in öffentlicher Trägerschaft handelt, sind für die Beurteilung der formellen und materiellen Zulässigkeit der Umnutzung die unteren Bauaufsichtsbehörden zuständig.

Ist aufgrund der Notwendigkeit einer zeitnahen Unterbringung die Durchführung eines erforderlichen Baugenehmigungsverfahrens vor Nutzungsaufnahme nicht möglich oder ist in Gebäuden nur eine vorübergehende Unterbringung vorgesehen, so kann die zuständige untere Bauaufsichtsbehörde die Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden in dafür nicht genehmigten Gebäuden vorübergehend dulden. Voraussetzung hierfür ist, dass die Schutzziele des § 3 HBO, gegebenenfalls auch durch entsprechende Auflagen, gewährleistet sind. Für bauliche Anlagen in öffentlicher Trägerschaft (vgl. § 79 Abs. 6 HBO) obliegt es dem öffentlichen Bauherrn, in eigener Zuständigkeit die notwendigen Maßnahmen für eine sichere Unterbringung zu gewährleisten bzw. ggf. ein formales Baugenehmigungs- oder Zustimmungsverfahren zu veranlassen.

III Umgang mit Bestandsgebäuden

· Wohnungen
Die Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden in bestehenden Wohnungen führt i. d. R. nicht zu weitergehenden bauordnungsrechtlichen Anforderungen, sofern der Wohncharakter mit der damit verbundenen Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises gewahrt bleibt. In Abgrenzung zum Wohnheim mit zentralen Einrichtungen (z. B. Toiletten, Duschen) bzw. Versorgung wird in der Wohnung regelmäßig das Vorhandensein eines Bades mit Badewanne/Dusche und Toilette sowie einer Küche oder Kochnische vorausgesetzt. Weitere Voraussetzung neben der weitgehend eigenständigen Lebensführung ist eine wohnungsadäquate Nutzung und Belegung der Wohnung. So muss für alle Bewohner die Zugänglichkeit der Rettungswege sichergestellt sein. Zudem dürfen die Wohnungen nicht überbelegt sein. Als Orientierung für die zulässige Belegungsdichte kann das Hessische Wohnungsaufsichtsgesetz (HwoAufG) herangezogen werden. Demnach dürfen Wohnungen nur überlassen und benutzt werden, wenn für jede Person eine Wohnfläche von mindestens 9 qm vorhanden ist. Einzelne Wohnräume dürfen nur überlassen und benutzt werden, wenn für jede Person eine Wohnfläche von mindestens 6 qm vorhanden ist und Nebenräume zur Mitbenutzung zur Verfügung stehen. Stehen Nebenräume nicht oder offensichtlich nicht ausreichend zur Verfügung, müssen pro Person Wohnräume von mindestens 9 qm zur Verfügung stehen (vgl. § 7 Abs. 1 und 2 HwoAufG).

· Pensionen/Hotels (Beherbergungsstätten)
Die Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden in bestehenden Beherbergungsstätten führt i. d. R. nicht zu über die bestehende Baugenehmigung hinausgehenden bauordnungsrechtlichen Anforderungen. Dies gilt sowohl für Beherbergungsbetriebe, die Regelbauten sind, als auch für solche mit mehr als 30 Gastbetten, die den Sonderbautatbestand des § 2 Abs. 9 Nr. 11 b) HBO erfüllen. Voraussetzung in beiden Fällen ist, dass diese das typische Gepräge eines Beherbergungsbetriebes nicht verlieren und der genehmigte Nutzungsrahmen eingehalten wird. Dabei stellt die Nutzung von Bewirtungs- oder Konferenzräumen als Gemeinschaftsräume meist keine bauordnungsrechtlich relevante Nutzungsänderung dar. Insbesondere aufgrund der Erhöhung der Bettenanzahl kann jedoch der Nutzungsrahmen überschritten sein. Maßgeblich ist die der Baugenehmigung zugrundeliegende Anzahl der Betten.

· Wohnheime
Die Nutzung eines bestehenden und genehmigten Wohnheims, z. B. eines Alten- oder Studentenwohnheims, zur Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden führt nicht zu höheren bauordnungsrechtlichen Anforderungen, sofern der in der Baugenehmigung festgelegte Nutzungsrahmen nicht verlassen wird.

· Sammelunterkünfte
Die Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden in anderen Gebäuden, die bestimmungsgemäß nicht der Übernachtung von Menschen dienen (z. B. Büroeinheiten, Turnhallen, Veranstaltungsräume), stellt immer eine baugenehmigungspflichtige Nutzungsänderung dar. Ungeachtet möglicher gebäudebezogener Sonderbautatbestände kommt bei der Unterbringung von Flüchtlingen eine Sonderbaueigenschaft nach § 2 Abs. 9 Nr. 9 HBO in Betracht. Danach sind sonstige Einrichtungen zur Unterbringung von Personen Sonderbauten. Die Unterbringung ist dabei abzugrenzen vom Wohnen. Während das Wohnen durch eine auf Dauer angelegte selbstständige Haushaltsführung sowie die Freiwilligkeit des Aufenthalts gekennzeichnet ist, sind Merkmale der Unterbringung im Regelfall der nur vorübergehende Unterbringungsbedarf sowie die gleichzeitige Betreuung, Aufsicht, Pflege oder Anleitung der untergebrachten Personen. Einrichtungen der Unterbringung weisen i. d. R. eine bestimmte Organisationsstruktur auf, die unabhängig von dem Wechsel und der Anzahl der untergebrachten Personen und deren Aufenthaltsdauer ist. Von einem Sonderbau ist insbesondere dann auszugehen, wenn in Nutzungseinheiten mehr als 30 Personen untergebracht werden sollen. Die Anforderungen für solche Sammelunterkünfte sind in einem Brandschutzkonzept einzelfallbezogen festzulegen (vgl. § 53 HBO). Für kleinere Nutzungseinheiten gelten die Regelanforderungen der HBO. Nach Ablauf einer befristeten Baugenehmigung zur Umnutzung einer Liegenschaft für die Unterbringung von Flüchtlingen ist die Rückkehr zur ursprünglich genehmigten Nutzung möglich, wenn sich keine grundlegenden, insbesondere bauplanungsrechtlichen Änderungen ergeben haben; auf die Regelungen des § 246 Abs. 13 Satz 5 und Abs. 14 Satz 6 BauGB wird hingewiesen. Auch soweit solche Umnutzungen ohne förmliches Verfahren vorübergehend geduldet werden, muss die Sicherheit für die im Gebäude befindlichen Menschen in allen Fällen gewährleistet sein. Die in der Checkliste (siehe Anlage) zusammengestellten Punkte sollen als Anhaltspunkt für die Bewertung und Festlegung von Mindestsicherheitsmaßnahmen zur Abwehr von Gefahren für Leib und Leben im Einzelfall, insbesondere bei ein- und zweigeschossigen Bestandsgebäuden, dienen. Vorhandene und aufgrund der Zeitvorgaben hinzunehmende bauliche Mängel sind dabei insbesondere durch betriebliche Maßnahmen zu kompensieren.

IV Betreiberverantwortung

Die Betreiber von Flüchtlingsunterkünften sind für die Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Anforderung im Betrieb verantwortlich. Sie haben die besondere sprachliche, kulturelle und psychische Disposition der Flüchtlinge bei der Wahrnehmung ihrer Obliegenheitspflichten zu berücksichtigen. In den Baugenehmigungen festgeschriebene betrieblichorganisatorische Maßnahmen (z. B. Brandschutzordnung) sind im Rahmen einer Duldung entsprechend anzupassen. Die Benutzer sind in geeigneter Form über die Rettungswege und das Verhalten im Brandfall zu informieren. Die Sicherstellung der Betriebsbereitschaft der nach § 14 Abs. 2 HBO erforderlichen Rauchwarnmelder in Schlafräumen, in denen Flüchtlinge untergebracht werden, ist durch die Betreiber zu gewährleisten. Es wird empfohlen, alle Schlafräume mit Rauchwarnmeldern auszustatten, auch soweit dies nicht zwingend bauaufsichtlich vorgeschrieben ist; dies gilt nicht für Räume im Überwachungsumfang einer wirksamen und betriebssicheren Brandmeldeanlage, durch die anwesende Personen im Brandfall automatisch gewarnt werden.

Flüchtlingsunterbringung und Bauplanungsrecht

Flüchtlingsunterbringung und Bauplanungsrecht

Zu den mit der Vielzahl von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden verbundenen enormen Herausforderungen für Länder und Kommunen gehört auch die Bereitstellung von Unterbringungsmöglichkeiten.

Bereits im Jahr 2014, als sich die starke Zunahme von Flüchtlingszahlen mehr und mehr abzeichnete, hat der Bundesgesetzgeber mit dem am 26. November 2014 in Kraft getretenen Flüchtlingsunterbringungsmaßnahmengesetz das Baugesetzbuch (BauGB) geändert.

Bereits hiermit wurden wirksame bauplanungsrechtliche Erleichterungen für die Flüchtlingsunterbringung geschaffen. Mit der massiven Zunahme der Flüchtlingszahlen im Jahr 2015 wurde das Baugesetzbuch mit Wirkung vom 24. Oktober 2015 im Rahmen des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes erneut und noch weitreichender geändert. Im Ergebnis existierten – befristet bis zum 31. Dezember 2019 – für sämtliche Gebietsarten (Bebauungsplangebiete, nicht beplanter Innenbereich, Außenbereich) erhebliche Erleichterungen bei der Zulassung von Flüchtlingsunterkünften. Dem lag ein zweistufiges System zugrunde:

1. Innerhalb der bauplanungsrechtlichen Systematik wurden für unterschiedliche Bedarfe gezielte Erleichterungen geschaffen.

2. Reichten die gezielten Erleichterungen nicht aus, waren weitgehende Abweichungen vom Bauplanungsrecht im erforderlichen Umfang möglich.

Die befristet geltenden Regelungen hatten den nachfolgend dargestellten Inhalt, wobei vorab darauf hingewiesen wird, dass die Ausführung des Bauplanungsrechts grundsätzlich Angelegenheit der Länder und Kommunen ist.

  • Bei Umnutzung zulässigerweise errichteter baulicher Anlagen in Anlagen der Flüchtlingsunterbringung konnte unter bestimmten Voraussetzungen vom Erfordernis des Einfügens abgesehen werden (§ 246 Absatz 8 BauGB).
  • Die Unterbringung von Flüchtlingen konnte auch auf Flächen im Außenbereich gestattet werden, die unmittelbar an einen bebauten Ortsteil anschließen (§ 246 Absatz 9 BauGB).
  • An geeigneten Stellen in Gewerbegebieten wurden Erstaufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünfte oder sonstige Unterkünfte für die Unterbringung von Asylbegehrenden oder Flüchtlingen im Wege der Befreiung ermöglicht. Voraussetzung dafür war, dass an den entsprechenden Standorten Anlagen für soziale Zwecke als Ausnahme zugelassen werden können oder allgemein zulässig sind und dass das Vorhaben auch unter Berücksichtigung nachbarlicher Interessen mit öffentlichen Belangen vereinbar ist (§ 246 Absatz 10 BauGB).
  • Soweit Anlagen für soziale Zwecke in den einzelnen Baugebieten als Ausnahme zugelassen werden können (z. B. § 3 Absatz 3 Nummer 2 der Baunutzungsverordnung – BauNVO), sollten Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünfte oder sonstige Unterkünfte für Flüchtlinge oder Asylbegehrende in der Regel zugelassen werden (§ 246 Absatz 11 BauGB).
  • Für die auf längstens drei Jahre zu befristende Errichtung mobiler Unterkünfte konnten in allen Baugebieten und für die ebenfalls auf längstens drei Jahre zu befristende Umnutzung zulässigerweise errichteter baulicher Anlagen in Gewerbe-, Industrie- und Sondergebieten (§§ 8 bis 11 BauNVO) Befreiungen auch dann erteilt werden, wenn die Grundzüge der Planung berührt wurden (§ 246 Absatz 12 BauGB).
  • Im Außenbereich wurden die auf drei Jahre zu befristende Errichtung mobiler Unterkünfte und die Umnutzung bestehender Gebäude begünstigt (§ 246 Absatz 13 BauGB).
  • Im Wege einer subsidiären Generalklausel wurde in Anlehnung an § 37 BauGB die Möglichkeit eingeräumt, von bauplanungsrechtlichen Vorgaben im erforderlichen Umfang abzuweichen; Voraussetzung dafür war, dass sich auch unter Anwendung von § 246 Absatz 8 bis 13 BauGB dringend benötigte Unterkünfte anderweitig nicht oder nicht rechtzeitig bereitstellen ließen (§ 246 Absatz 14 BauGB).
  • Verfahrenserleichterungen im Hinblick auf das gemeindliche Einvernehmen und das Benehmen der Naturschutzbehörde wurden in § 246 Absatz 15 und 16 BauGB geregelt.
  • Zur Bedeutung der Befristung bis zum 31.12.2019 enthielt § 246 Absatz 17 BauGB eine klarstellende Regelung.


Ergänzend ist – ohne Befristung – Folgendes geregelt worden:

  • Die Belange von Flüchtlingen und ihrer Unterbringung sind nun ausdrücklich bei der Aufstellung von Bauleitplänen zu berücksichtigen (§ 1 Absatz 6 Nummer 13 BauGB).
  • Es ist ausdrücklich vorgesehen, dass die Flüchtlingsunterbringung zu den Belangen des Allgemeinwohls gehört, die eine Befreiung von Festsetzungen eines Bebauungsplans ermöglichen (§ 31 Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 BauGB).

Nachdem die Länder Bedarf nach einer Verlängerung der dargestellten befristeten Sonderregelungen geäußert hatten, hat die Bundesregierung in dem am 4. November 2020 vom Kabinett beschlossenen Entwurf des Baulandmobilisierungsgesetzes vorgeschlagen, diese Regelungen mit Ausnahme von § 246 Absatz 14 BauGB befristet bis zum Ende des Jahres 2024 in eingeschränkter Form wieder einzuführen. Ergänzend soll ermöglicht werden, die in den Absätzen 12 und 13 enthaltenen Dreijahresfristen längstens bis zum 31. Dezember 2027 zu verlängern oder – im Fall bereits abgelaufener Fristen – die Zulässigkeit längstens bis zum 31. Dezember 2027 erneut zu begründen. Die Anwendung der genannten Regelungen soll insoweit begrenzt sein, als von den Vorschriften nur Gebrauch gemacht werden darf, soweit dringend benötigte Unterkünfte im Gebiet der Gemeinde, in der sie entstehen sollen, nicht oder nicht rechtzeitig bereitgestellt werden können.

BaWü: Brandschutzanforderungen und sonstige bauordnungsrechtliche Anforderungen an bauliche Anlagen zur Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden

BaWü: Brandschutzanforderungen und sonstige bauordnungsrechtliche Anforderungen an bauliche Anlagen zur Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden

Verfahren:

· Die unteren Baurechtsbehörden berichten bei im Einzelfall auftretenden Problemen mit Brandschutzanforderungen oder sonstigen bauordnungsrechtlichen Vorgaben (Barrierefreiheit, Stellplätze usw.), sofern diese vor Ort nicht gelöst werden können, unverzüglich den Regierungspräsidien als den höheren Baurechtsbehörden mit dem Ziel einer lösungsorientierten Beratung durch die Regierungspräsidien.

· Soweit die Regierungspräsidien keine vertretbare Lösung herbeiführen können, beteiligen diese das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur.
Das Ministerium steht auch im Übrigen weiterhin zur Beratung in besonders schwierigen Einzelfällen zur Verfügung.

Materiell-rechtliche Vorgaben:
Insbesondere bei der Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden dürfen die notwendigen Sicherheitsstandards nicht vernachlässigt werden, jedoch erlaubt das bauordnungsrechtliche Instrumentarium vertretbare, pragmatische Lösungen:

· Die Landesbauordnung (LBO) und auch ihre Ausführungsverordnung (LBOAVO) enthalten keine besonderen Brandschutzanforderungen für Unterkünfte von Flüchtlingen und Asylbegehrenden.

· § 56 Abs. 4 LBO sieht vor, dass bei Gemeinschaftsunterkünften, die der vorübergehenden Unterbringung oder dem vorübergehenden Wohnen dienen, Ausnahmen von Vorschriften in den §§ 4 bis 37 LBO – also auch von den allgemeinen gesetzlichen Vorschriften zum Brandschutz – zugelassen werden können. Hiervon sollte soweit wie vertretbar Gebrauch gemacht werden.

· Sofern es sich um Sonderbauten handelt, entscheidet die Baurechtsbehörde nach § 38 LBO, ob sie zusätzliche Brandschutzanforderungen stellen muss oder aber von den allgemeinen gesetzlichen Vorgaben Erleichterungen zulassen kann. Sollen zusätzliche Anforderungen gestellt werden, ist deren Erforderlichkeit in jedem Einzelfall zunächst eingehend zu prüfen, um festzustellen, ob ggf. weniger einschneidende Maßnahmen geeignet und ausreichend sind.

Schwerpunktthema Flüchtlingsunterkünfte (7)

Schwerpunktthema Flüchtlingsunterkünfte (7):

VG HH: Unzulässigkeit der Errichtung und des Betriebs einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber (ZEA)

Verwaltungsgericht Hamburg Beschluss, 12. Feb. 2016 – 7 E 6816/15

Gründe


A.

Die Beteiligten streiten über die Zulässigkeit der Errichtung und des Betriebs einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber (ZEA) auf dem knapp 32.000 m2 großen Gelände östlich der Straße Hinsenfeld und nordöstlich der Straße Fiersbarg (Flurstück 420 der Gemarkung Lemsahl-Mellingstedt). Auf dem Vorhabengrundstück befand sich bis vor einigen Jahren ein sog. „Pavillon-Dorf“ zur öffentlichen Unterbringung von Aussiedlern mit einer Höchstbelegungszahl von ca. 220 bis 240 Personen. Nach der Beseitigung der dazu gehörenden Gebäude war das Grundstück unbebaut, bis die Antragsgegnerin mit der Errichtung der zwischen den Beteiligten umstrittenen Einrichtung begann. Diese soll aus 17 Gebäuden zur Unterbringung von Personen bestehen, welche in Container-Modulbauweise errichtet werden. Verwendet werden sollen hierzu 20‘-Wohncontainer mit Abmessungen von 6,055*2,435*2,89 m, die zu zweigeschossigen Blöcken gruppiert werden. Die Wohnblöcke werden dabei aus jeweils 14 Wohncontainern und 4 Sanitärcontainern bestehen (je Ebene 9 Container) und Außenabmessungen von 21,92*6,055*5,78 m aufweisen. Bei einer Belegung eines Wohncontainers mit bis zu 4 Personen errechnet sich eine Gesamtkapazität von bis zu 952 Personen. Neben den Wohnblöcken ist die Errichtung (ebenfalls in Modul-Containerbauweise) eines Verwaltungsgebäudes, zweier Kantinengebäude, eines Gebäudes zur Unterbringung einer Kindertagesstätte sowie eines als „Schulcontainer“ bezeichneten Gebäudes geplant bzw. erfolgt.

Die Zufahrt zum Vorhabengrundstück soll – wie schon zuvor die Zufahrt zum früheren „Pavillon-Dorf“ – über den südöstlichen Grundstücksbereich erfolgen. Dort sollen sich auch ein Pförtnergebäude sowie das Verwaltungsgebäude befinden. Die weiteren nicht zur Unterbringung genutzten Gebäude („Schulcontainer“, Kantinen, Kindertagesstätte) sollen weitgehend in der Mitte des Vorhabengrundstücks gruppiert, die Wohngebäude ringartig um diese herum angeordnet werden. Die Einrichtung soll vollständig gebäudenah umzäunt werden. Der Zugang zum Gelände der Einrichtung soll durch einen täglich 24 Stunden vor Ort befindlichen Wachdienst kontrolliert werden.

Der erste Bauabschnitt, bestehend aus neun der 17 geplanten Wohngebäude, sowie den Verwaltungseinheiten, den Kantineneinheiten und dem „Schulcontainer“ ist fertig gestellt. Die Grundvorbereitungen für den zweiten Bauabschnitt sind überwiegend abgeschlossen. Die Einrichtung soll nach dem Willen der Antragsgegnerin möglichst unmittelbar ihren Betrieb aufnehmen und belegt werden. Betreiber der Unterkunft soll die Johanniter-Unfall-Hilfe e.V. sein. Diese hat nach dem Vortrag der Antragsgegnerin für die Einrichtung eine sogenannte „Hausordnung“ entworfen, welche allen darin untergebrachten Personen zur Kenntnis gegeben werden soll. In der Einrichtung sollen u.a. Betreuer für die untergebrachten Personen sowie technisches Personal und Küchenpersonal tätig sein.

Die Antragsteller zu 1) bis 4) sind Eigentümer bzw. Miteigentümer von zu Wohnzwecken genutzten Grundstücken, die jeweils östlich des Vorhabengrundstücks belegen sind und durch die XX-Straße erschlossen werden. Zwischen den Grundstücken dieser Antragsteller und der Vorhabenfläche befindet sich ein mit Bäumen bewachsener, ca. 20 bis 50 m breiter Grünstreifen. Die Grundstücke der Antragsteller zu 1) bis 4) liegen wie das Vorhabengrundstück im räumlichen Geltungsbereich der Verordnung über den Bebauungsplan Lemsahl-Mellingstedt 19 vom 5.1.2015 (HmbGVBl. 2015, S. 11). Dieser weist die Grundstücke der Antragsteller zu 1) bis 4) als reines Wohngebiet (WR) aus. Das Vorhabengrundstück wird ebenfalls größtenteils als reines Wohngebiet ausgewiesen, durchzogen von (bislang nicht verwirklichten) Planstraßen sowie privaten Grünflächen und einer Fläche für ein Regenrückhaltebecken, wobei ein Großteil der von der Antragsgegnerin geplanten und bereits errichteten Gebäude auf als reines Wohngebiet ausgewiesenen Flächen errichtet werden soll bzw. errichtet ist. Der Grünstreifen zwischen dem Vorhabengrundstück und der als reines Wohngebiet ausgewiesenen Fläche, in welcher die Grundstücke der Antragsteller zu 1) bis 4) belegen sind, ist als „Fläche zum Schutz, zur Pflege und zur Entwicklung von Boden, Natur und Landschaft – Artenreicher, gestufter Gehölzbestand“ festgesetzt.

Die Antragsteller zu 5) bis 7) sind Eigentümer von zu Wohnzwecken genutzten Grundstücken, die jeweils südlich bzw. süd-westlich der Vorhabenfläche belegen sind und durch die Straße XY erschlossen werden. Diese Grundstücke liegen im räumlichen Geltungsbereich des Baustufenplans Lemsahl-Mellingstedt vom 16.9.1952, erneut festgestellt am 14.1.1955, welcher sie mit W 1o ausweist. In der Legende heißt es weiter:

„Das reine Wohngebiet ist gemäss § 10 Abs. 4 der BPVO für die Hansestadt Hamburg vom 8.6.1938 besonders geschützt. a) Gewerbliche und handwerkliche Betriebe, Läden und Werbeanlagen sind nicht zulässig. Für die Flächen am rot signierten Straßenrande der Wohngebiete gelten diese Einschränkungen nicht. …”

Im Sommer 2015 begannen die Planungen der Antragsgegnerin zur Errichtung der zwischen den Beteiligten umstrittenen Einrichtung. Mit Handzetteln vom 25.8.2015 wurden die Anwohner erstmalig über die geplante Unterkunft unterrichtet. Am 15.9.2015 stellte die Antragsgegnerin ihre Pläne für eine Erstaufnahmeeinrichtung mit 952 Plätzen im Rahmen einer Anwohner-Informationsveranstaltung der Öffentlichkeit vor. Anschließend begann die Antragsgegnerin mit der Errichtung der Einrichtung; hierzu gab sie an, sich auf § 3 des Gesetzes zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOG) zu stützen. Hiergegen ersuchten die Antragsteller um verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz nach § 123 VwGO. Mit Beschluss vom 15.12.2015 gab das erkennende Gericht der Antragsgegnerin auf, die Bauarbeiten für die Errichtung der streitbefangenen Einrichtung einstweilen einzustellen, die Innutzungnahme einstweilen zu unterlassen und ausführende Stellen entsprechend anzuhalten (7 E 6128/15). Ihre hiergegen mit Schriftsatz vom 29.12.2015 eingelegte Beschwerde nahm die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 18.1.2016 zurück. Das Hamburgische Oberverwaltungsgericht stellte das Beschwerdeverfahren mit Beschluss vom selben Tage ein (2 Bs 271/15).

Bereits unter dem 10.11.2015 hatte die Antragsgegnerin (vertreten durch die Behörde für Inneres und Sport) für die streitbefangene Einrichtung außerdem einen Antrag im Baugenehmigungsverfahren mit Konzentrationswirkung nach § 62 HBauO beim Bezirksamt Hamburg-Wandsbek eingereicht, verbunden mit einem Antrag auf Befreiung von u.a. den Festsetzungen des Bebauungsplans bezüglich der Ausweisung des Flurstücks 420 als reines Wohngebiet und private Grünfläche. Der Bauantrag wurde im weiteren Verlauf näher bestimmt. So legte die Bauherrin unter dem 18.12.2015 eine Baubeschreibung vor, wonach die Anlage auf die Unterbringung von insgesamt 901 Personen ausgelegt sei und in jedem der 17 Wohnblöcke 53 Plätze vorgesehen seien; in einem Container würden 3 bis 4 Personen untergebracht. In den beiden Verwaltungsblöcken würden die Funktionen „Sozialberatung, Unterkunftsmanagement, Technischer Dienst, Wachschutz, Arztdienst mit Warteraum, Lager für Kleider und Koffer” sowie Waschmaschinen- und Trocknerraum untergebracht. Das Betreuungs- und Verwaltungspersonal sei in unterschiedlicher Besetzung von 4 bis 13 Personen täglich von 7:00 Uhr bis 16:00 Uhr vor Ort; das Wachpersonal sei mit einer Besetzung von 4 Personen täglich 24 Stunden vor Ort. Die Essensausgabe werde von einem Catering-Unternehmen betrieben; Speisen würden fertig zubereitet angefahren und in einem Dampfgarer aufgewärmt. Das Küchenpersonal bestehe in der Regel aus ca. 8 bis 10 Personen.

Mit Schreiben vom 21.12.2015 „konkretisierte“ die Behörde für Inneres und Sport der Antragsgegnerin ihren Bauantrag gegenüber dem Bezirksamt Hamburg-Wandsbek dahingehend, dass nunmehr die Errichtung und Innutzungnahme der Einrichtung entsprechend der Bauantragsunterlagen befristet auf längstens drei Jahre beantragt wurde sowie die Zulassung für die Nutzung der Einrichtung zur Unterbringung von höchstens 252 Personen „bis zum Nachweis des Brandschutzes für die darüber hinausgehende Nutzung“.

Am 22.12.2015 erteilte das Bezirksamt Hamburg-Wandsbek hierauf eine „Befristete Genehmigung“ nach § 62 HBauO für „Temporäre Containerunterkünfte zur Erstaufnahme von max. 252 Flüchtlingen und Asylbewerbern“, befristet bis zum 22.12.2018 und verbunden mit der Bestimmung, nach Ablauf der Befristung sei die Nutzung der baulichen Anlage innerhalb eines Monats ohne Entschädigungsansprüche einzustellen. Ausdrücklich gestützt auf § 31 Abs. 2 i.V.m. § 246 Abs. 12 BauGB enthält die Baugenehmigung außerdem Befreiungen (Nr. 2 der Baugenehmigung) für das Errichten von Containerzeilen auf privater Grünfläche, für das Abweichen von der zulässigen Art der baulichen Nutzung (Anlage für soziale Zwecke) im reinen Wohngebiet, für das Überschreiten der Zahl der Vollgeschosse der nördlichen Containerzeilen, für die Errichtung von Containerzeilen teilweise auf ausgewiesenen Straßenverkehrsflächen und „für das Errichten aller Container teilweise ganz außerhalb der Baugrenzen”. Weiterhin enthält die Baugenehmigung einen Passus (Nr. 4 der Baugenehmigung), wonach jede Erhöhung der Belegungsanzahl die vorherige Durchführung eines gesonderten Genehmigungsverfahrens erfordere. Zu den Anlagen, die der Bescheid ausdrücklich umfasst, gehören “immissionsschutzrechtliche Auflagen und Hinweise”; in dem Abschnitt “Auflagen” werden hier Bestimmungen getroffen zu den Bereichen „Lärmschutz”, „Geruchsimmissionen”, „Lichtimmissionen” und „Abfall”. Für die im reinen Wohngebiet verursachten Geräuschimmissionen werden „unter Berücksichtigung der Vorbelastung” die Grenzwerte (am Beurteilungsort) tagsüber, in der Zeit von 6.00 Uhr bis 22:00 Uhr, von 50 dB(A) und nachts, in der Zeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr, von 35 dB(A) festgelegt. Die Einhaltung der Lärmgrenzwerte sei mittels Schalltechnischer Untersuchung nachzuweisen, wenn die Anliefer- oder Betriebszeit der Kantine in die Nachtzeit fallen sollte. Die sich gegebenenfalls aus der Untersuchung ergebenden Schallschutzmaßnahmen seien vor Inbetriebnahme umzusetzen.

Gegen diese Baugenehmigung legte der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller am 22.12.2015 Widerspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung. Mit Schriftsatz vom 23.12.2015 haben die Antragsteller um verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz ersucht und dieses Ersuchen umfangreich begründet.

Die Antragsteller beantragen,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller vom 22.12.2015 gegen die der Beizuladenden erteilte Baugenehmigung vom 22.12.2015 (Az: W/WBZ/14401/2015) anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen,

und trägt zur Begründung ebenfalls umfassend vor.

Nachdem sich in den Morgenstunden des 23.12.2015 Anzeichen für eine unmittelbar bevorstehende Belegung der streitbefangenen Einrichtung ergeben hatten, hat das erkennende Gericht auf Antrag der Antragsteller am selben Tag eine Zwischenverfügung erlassen, mit der der Antragsgegnerin aufgegeben worden ist, bis zum Ende der Anhängigkeit des vorliegenden Eilantrags in erster Instanz die streitbefangene Unterkunft nicht in Nutzung zu nehmen, insbesondere nicht zu belegen, bereits begonnene Nutzungen einzustellen bzw. zu unterbinden und ausführende Stellen entsprechend anzuhalten. Die hiergegen von der Antragsgegnerin erhobene Beschwerde hat das Hamburgische Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 23.12.2015 zurückgewiesen (2 Bs 263/15).

Mit Schreiben vom 28.12.2015 hat das Gericht aufgrund von Presseberichten über allgemeines Vergleichsinteresse der Antragsgegnerin bei den Beteiligten angefragt, ob eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits möglich sei und Bedarf für weitere gerichtliche Initiativen gesehen werde. Auf die entsprechenden Interessebekundungen hat die Kammer am 8.1.2016 mit den Beteiligten Möglichkeiten einer umfassenden Einigung erörtert; die Antragsteller haben dazu Eckpunkte eines aus ihrer Sicht möglichen, hinsichtlich der Belegungszahl über den unmittelbaren Streitgegenstand hinausgehenden Vergleichs benannt. Mit Schriftsatz vom 15.1.2016 hat die Antragsgegnerin erklärt, dass sie sich nicht in der Lage sehe, einen Vergleich mit den Antragstellern zu schließen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, insbesondere auf die eingereichten Schriftsätze der Beteiligten, jeweils zuletzt vom 9.2.2016, sowie auf die Sachakte der Antragsgegnerin und die Planaufstellungsunterlagen zum Bebauungsplan Lemsahl-Mellingstedt 19 verwiesen, die dem Gericht bei seiner Entscheidungsfindung vorgelegen haben.

B.

Das Gericht kann über den Antrag wirksam entscheiden, obwohl die Inhaberin der Baugenehmigung als solche nicht beigeladen worden ist. Zwar handelt es sich bei einer Anfechtungsklage, die auf die Aufhebung einer durch die Bauaufsichtsbehörde einem Bauherrn erteilten Baugenehmigung gerichtet ist, um einen typischen Fall der notwendigen Beiladung iSv. § 65 Abs. 2 VwGO, da das entsprechende Gestaltungsurteil nur einheitlich, nämlich sowohl gegenüber dem Hoheitsträger wie auch gegenüber dem Bauherrn, ergehen kann. Entsprechendes gilt für das zugehörige Eilverfahren. Ist aber, wie hier, der genehmigende Hoheitsträger (die Freie und Hansestadt Hamburg) zugleich Bauherr, so wird diese Rechtsperson bereits durch ihre Verfahrensrolle als Antragsgegnerin hinreichend am Verfahren beteiligt.

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 i.V.m. § 80a VwGO hat in Bezug auf die Antragsteller zu 1) bis 4) Erfolg; im Übrigen bleibt er erfolglos. Er ist zulässig, aber nur bezogen auf die Antragsteller zu 1) bis 4) begründet.

Der Antrag ist gemäß §§ 80a Absätze 1 und 3, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft. Bei dem angegriffenen Baugenehmigungsbescheid handelt es sich trotz des Umstands, dass Begünstigte der Genehmigung die Antragsgegnerin selbst ist, um einen Verwaltungsakt. Das allein fragliche Merkmal der Außenwirkung ist hier im Verhältnis zu den Antragstellern schon dadurch erfüllt, dass die Baugenehmigung auch ihnen als am Genehmigungsverfahren beteiligte Nachbarn gegenüber zur verbindlichen Regelung der Zulässigkeit des Bauvorhabens bestimmt und entsprechend bekannt gegeben worden ist (vgl. auch OVG Hamburg, Beschluss vom 15.12.1981, Bs II 32/81 – BRS 38 Nr. 174).

Der Zulässigkeit des Antrags steht bezogen auf die Antragsteller zu 3) und 4) nicht entgegen, dass diese nicht Grundeigentümer, sondern Mitglieder einer Wohnungseigentumsgemeinschaft sind. Auch Mitglieder einer Wohnungseigentumsgemeinschaft, die gemäß § 10 Abs. 6 des Gesetzes über das Wohnungseigentum und das Dauerwohnrecht (Wohnungseigentumsgesetz, WEG) vom 15.3.1951 m. spät. Änd. (BGBl. I S. 175, ber. S. 209) selbst rechts- und parteifähig ist, sind gemäß § 42 Abs. 2 VwGO analog antragsbefugt (vgl. nur VG Hamburg, Beschluss vom 15.12.2015, 7 E 6128/15).

In Bezug auf die Antragsteller zu 1) bis 4) ist der Antrag außerdem auch begründet (hierzu unter I.); in Bezug auf die Antragsteller zu 5) bis 7) ist er hingegen unbegründet (hierzu unter II.).

25

Im Rahmen des Eilverfahrens sind die betroffenen öffentlichen und privaten Interessen der Beteiligten gegeneinander abzuwägen. Der Gegensatz zwischen dem Interesse der Antragsgegnerin einerseits, von der erteilten Baugenehmigung Gebrauch zu machen, und dem Interesse der Antragsteller als Drittbetroffene andererseits zu verhindern, dass vollendete Tatsachen geschaffen werden, kann in der Regel – und so auch hier – angemessen nur in der Weise gelöst werden, dass jeweils den Interessen desjenigen Beteiligten der Vorrang eingeräumt wird, der aller Voraussicht nach im Hauptsacheverfahren obsiegen wird.

Im vorliegenden Fall überwiegen bei dieser Abwägung die Interessen der Antragsteller zu 1) bis 4) diejenigen der Antragsgegnerin, nicht jedoch überwiegen die Interessen der Antragsteller zu 5) bis 7) die Interessen der Antragsgegnerin. Die angefochtene Baugenehmigung vom 22.12.2015 wird nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung in einem Hauptsacheverfahren voraussichtlich nur wegen der Verletzung subjektiver Rechte der Antragsteller zu 1) bis 4) aufzuheben sein. Ein Grundstückseigentümer kann sich gegen ein Bauvorhaben auf einem Nachbargrundstück nur mit Erfolg zur Wehr setzen, wenn die Genehmigung dieses Vorhabens ihn in seinen eigenen Rechten verletzt, also gegen solche baurechtlichen Bestimmungen verstößt, die ein subjektiv-öffentliches (eigenes) Abwehrrecht des betroffenen Nachbarn begründen (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.9.1986, 4 C 8/84, NVwZ 1987, 409; OVG Hamburg, Beschluss vom 7.5.1990, Bs II 65/90, HmbJVBl 1991, 7). Demgegenüber kann durch den Drittbetroffenen weder im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes noch im Hauptsacheverfahren eine umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Baugenehmigung erreicht werden.

I.

Die Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb der Einrichtung verletzt die Antragsteller zu 1) bis 4) in ihrem Gebietserhaltungsanspruch. Inwieweit eine Verletzung sonstiger von diesen Antragstellern geltend gemachter Rechtspositionen vorliegt, ist vor diesem Hintergrund nicht zu entscheiden.

Der Gebietserhaltungsanspruch steht nur den Grundstückseigentümern und sonstig dinglich Berechtigten innerhalb eines durch Bebauungsplan festgesetzten oder faktischen Baugebiets zu, da nur in diesem Falle die Nachbarn denselben rechtlichen Bindungen unterliegen (näher dazu sogl.). Zu den sonstig dinglich Berechtigten, denen der Gebietserhaltungsanspruch zustehen kann, zählen dabei auch einzelne Wohnungseigentümer wie die Antragsteller zu 3) und 4). Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin ist keine sachliche Rechtfertigung dafür erkennbar, den Gebietserhaltungsanspruch nur der Wohnungseigentümergemeinschaft als Ganzer zuzubilligen und den einzelnen Sondereigentümer von diesem Anspruch auszunehmen. Das Bundesverwaltungsgericht hat ausdrücklich hervorgehoben, dass für Sondereigentum nach dem Wohnungseigentumsgesetz Nachbarschutz „in gleicher Weise“ wie für Eigentum an Wohngrundstücken besteht (BVerwG, Beschluss vom 20.8.1992, 4 B 92/92, juris, Rn. 10; vgl. auch OVG Bremen, Urteil vom 13.2.2015, 1 B 355/14, juris, Rn. 23 f.).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts hat die Festsetzung von Baugebieten im Sinne der Art der baulichen Nutzung durch einen Bebauungsplan nachbarschützende Funktion zugunsten der Grundstückseigentümer im jeweiligen Baugebiet (BVerwG, Urteil vom 16.9.1993, 4 C 28/91, BVerwGE 94, 151; OVG Hamburg, u.a. Beschluss vom 22.9.2014, 2 Bs 168/14). Ein Nachbar im Baugebiet soll sich auch dann gegen die Zulassung einer gebietswidrigen Nutzung wenden können, wenn er durch sie nach den gröberen Maßstäben des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebotes nicht unzumutbar beeinträchtigt würde. Der Gebietserhaltungsanspruch beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses. Weil und soweit der Eigentümer eines Grundstücks in dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung grundsätzlich auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen (BVerwG, Urteil vom 11.5.1989, 4 C 1/88, BVerwGE 82, 61). Durch die Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung werden die Planbetroffenen im Hinblick auf die Nutzung ihrer Grundstücke zu einer (nach der Terminologie des Bundesverwaltungsgerichts) „rechtlichen Schicksalsgemeinschaft” verbunden. Die Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des eigenen Grundstücks wird dadurch ausgeglichen, dass auch die anderen Grundeigentümer in der gleich ausgewiesenen Nachbarschaft diesen Beschränkungen unterworfen sind (BVerwG, Urteil vom 16.9.1993, 4 C 28/91, BVerwGE 94, 151). Im Rahmen dieses nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses soll daher jeder Planbetroffene im Baugebiet das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung verhindern können (BVerwG, Beschluss vom 18.12.2007, 4 B 55/07, juris, Rn. 5).

Das gilt auch im vorliegenden Fall. Die Grundstücke der Antragsteller zu 1) bis 4) liegen in demselben Baugebiet wie das Vorhaben (hierzu unter 1.). Mit der Errichtung und dem Betrieb der geplanten Einrichtung wäre ein Eindringen einer gebietsfremden Nutzung in dieses Baugebiet verbunden. Die Beeinträchtigung des Gebietserhaltungsanspruchs der Antragsteller zu 1) bis 4) wird auch nicht durch die nach § 246 Abs. 12 BauGB erteilte Befreiung von der Festsetzung zur Art der baulichen Nutzung unbeachtlich (hierzu unter 2.).

1. Die betreffenden Grundstücke liegen – wie die Kammer bereits in ihrem rechtskräftigen Beschluss zu dem polizeirechtlichen Vorhaben der Antragsgegnerin auf demselben Grundstück ausgeführt hat (vgl. VG Hamburg, Beschluss vom 15.12.2015, 7 E 6128/15, S. 8 ff.) – in „demselben Baugebiet”. Diese Feststellung gilt auch unter Berücksichtigung des ergänzenden Vortrags der Antragsgegnerin hierzu fort.

Für die Annahme eines Gebietserhaltungsanspruchs bedarf es der Klärung, dass die an dem Nachbarrechtsstreit beteiligten Grundstücke in „demselben Baugebiet” liegen. Wären die Berechtigten der Grundstücke nicht gemeinsam hinsichtlich der Nutzungsart denselben rechtlichen Bindungen unterworfen – so, wenn der Bebauungsplan unterschiedliche Nutzungsarten ausweist bzw. aus sonstigen Gründen als getrennt zu verstehende Baugebiete –, würde die Grundlage für den Gebietserhaltungsanspruch fehlen. Denn es reicht hierfür nicht aus, dass sich das Grundstück im Geltungsbereich desselben Bebauungsplans befindet. Notwendig ist eine Belegenheit sowohl des Vorhabengrundstücks wie auch des Grundstücks, von dem aus der Gebietserhaltungsanspruch geltend gemacht wird, innerhalb „desselben Baugebiets” (vgl. auch OVG Hamburg, Beschluss vom 16.11.2015, 2 Bs 165/15, S. 14; OVG Münster, Beschluss vom 28.11.2002, 10 B 1618/02, juris, Rn. 5 ff.; VGH München, Beschluss vom 2.10.2003, 1 CS 03.1785, NVwZ-RR 2004, S. 248 f.; OVG Bremen, Urteil vom 13.2.2015, 1 B 355/14, juris, Rn. 29; VG Minden, Urteil vom 29.9.2915, 1 K 2703/14, juris, Rn. 20 ff.; VG Ansbach, Urteil vom 3.12.2014, AN 9 K 12.01753, juris, Rn. 76; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 5.5.2011, 10 L 358/11, juris, Rn. 26; Schröer, NZBau 2008, 169 f.). Die Frage, ob in diesem Sinne von einem einheitlichen Baugebiet oder unterschiedlichen Baugebieten auszugehen ist, ist dabei anhand des Bebauungsplans zu beantworten und nicht allein anhand schlichter geographischer oder sonstiger tatsächlicher Gegebenheiten (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 16.11.2015, 2 Bs 165/15, S. 14). Entscheidend ist, ob bei normativer Betrachtung davon auszugehen ist, dass der Plangeber die betroffenen Grundstückseigentümer zu einer Schicksalsgemeinschaft in Bezug auf die Art der baulichen Nutzung ihrer Grundstücke verbinden oder aber eine Trennung zwischen unterschiedlichen Baugebieten vorsehen wollte (OVG Hamburg, Beschluss vom 16.11.2015, 2 Bs 165/15, S. 14). Zur Klärung dieser Frage ist insbesondere auf die textlichen und zeichnerischen Festsetzungen des jeweiligen Bebauungsplans sowie auf dessen Begründung zurückzugreifen (vgl. auch Schröer, NZBau 2008, S. 169 f.).

Die Grundstücke der Antragsteller zu 1) bis 4) sind hiernach nicht nur innerhalb des räumlichen Geltungsbereichs desselben Bebauungsplans wie das Vorhabengrundstück belegen, sondern auch innerhalb eines insgesamt einheitlichen reinen Wohngebiets. Für die verbindende Bedeutung der Festsetzung spricht zunächst schlicht der Umstand, dass die identische Ausweisung der Nutzungsart („WR”) hier nicht nur benachbarte (sogar unmittelbar aneinandergrenzende) Flurstücke betrifft, sondern alle in dem – überdies mit ca. 5 ha vergleichsweise kleinen – Plangebiet überhaupt zur baulichen Nutzung vorgesehenen Flächen erfasst. Trifft m.a.W. der Plangeber im Hinblick auf die Art der baulichen Nutzung für das Plangebiet eine einheitliche Festsetzung, ist im Zweifel auch von einer Einheitlichkeit des entsprechenden Baugebiets nach der Art der baulichen Nutzung auszugehen.

Für diese maßgebliche Identität der Ausweisung ist nach der Rechtsprechung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts, der sich die Kammer anschließt, unerheblich, dass der Bebauungsplan hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung, der überbaubaren Grundflächen sowie der Bauweise innerhalb des reinen Wohngebietes durchaus unterschiedliche Festsetzungen trifft. Auf diese sonstigen Festsetzungen kommt es für den Gebietserhaltungsanspruch nicht an, eben weil sich das für die Annahme eines Gebietserhaltungsanspruchs maßgebliche Austauschverhältnis zwischen den betroffenen Grundstücken allein aus der Art der baulichen Nutzung ergibt, welche als solche durch (unterschiedliche) Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung nicht verändert wird (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 16.11.2015, 2 Bs 165/15, S. 14). Ebenso wenig gebietet – entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin – die Tatsache, dass die in der Fläche westlich des Grünstreifens festgesetzten Teilflächen des dortigen reinen Wohngebiets in der Planzeichnung nummeriert sind, die Annahme, dass der Plangeber bei Aufstellung des Bebauungsplans Lemsahl-Mellingstedt 19 im Hinblick auf die Art der baulichen Nutzung unterschiedliche Baugebiete schaffen wollte, obwohl er die betroffenen Grundeigentümer in dieser Hinsicht denselben rechtlichen Regelungen unterwarf. Bei der Nummerierung der einzelnen Flächen handelt es sich schon ausweislich der Legende zur Planzeichnung um bloße Ordnungsnummern ohne eigenen normativen Gehalt. Die Nummerierung dient wiederum nicht der Zuordnung unterschiedlicher Arten der baulichen Nutzung – sämtliche Grundstücke sind als reines Wohngebiet festgesetzt –, sondern der Feingliederung des Baugebiets im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung und die Bauweise. Unterschiedliche Festsetzungen in dieser Hinsicht lassen indes keinen Schluss auf die Festsetzung unterschiedlicher Baugebiete im Sinne des Gebietserhaltungsanspruchs zu (vgl.o.). Vor diesem Hintergrund, dass allein die Festsetzungen des Bebauungsplans nach der Art der baulichen Nutzung über die Frage des Bestehens eines einheitlichen Baugebiets i.S.d. Gebietserhaltungsanspruchs entscheidend sind, sind darüber hinaus auch die von der Antragsgegnerin in Bezug genommenen Faktoren wie die verkehrliche Erschließung der Grundstücke der Antragssteller zu 1) bis 4) und des Vorhabengrundstücks, aus denen sie das Fehlen einer Wechselbezüglichkeit i.S.d. Gebietserhaltungsanspruchs ableitet, unbeachtlich.

Der Annahme der Festsetzung eines einheitlichen reinen Wohngebiets, in welchem sowohl das Vorhabengrundstück als auch die Grundstücke der Antragsteller zu 1) bis 4) belegen sind, steht auch nicht entgegen, dass sowohl in der Planverordnung als auch in der Planbegründung teilweise die Pluralform „Wohngebiete“, nicht aber die Formulierung „Wohngebiet“ verwendet wird (vgl. § 2 Nr. 3, 7 und 15 der Planverordnung, S. 24 ff. der Planbegründung). Diesem Umstand fehlt es schon deshalb an Aussagekraft für eine Systematik, weil Singular und Plural in Bezug auf den Begriff „Wohngebiet” in der Planbegründung uneinheitlich verwendet werden. Im Inhaltsverzeichnis der Planbegründung findet sich unter Punkt 5.1 auch die singularische Formulierung „Reines Wohngebiet“ und im Text der Planverordnung wird der Plural für solche Teile auf dem westlichen Flurstück verwendet, die lediglich nach dem Maß der baulichen Nutzung unterschiedlich ausgewiesen werden. Überdies ergibt die bloße Verwendung eines solchen Plurals im Rahmen der zur Beurteilung dieser Frage gebotenen normativen Betrachtung schon als solche keine verlässliche Auskunft über die Intention des Plangebers, ob er hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung unterschiedliche Baugebiete i.S.d. Gebietserhaltungsanspruchs oder ein einheitliches Baugebiet festsetzen wollte. Auch wenn in einem Bebauungsplan Flächen als „Baugebiete“ bezeichnet werden, können sie dennoch im Rechtssinne des Gebietserhaltungsanspruchs in demselben Baugebiet belegen sein (so OVG Hamburg, Beschluss vom 16.11.2015, 2 Bs 165/15, S. 14).

Der Umstand, dass nach der Planzeichnung zwischen den farblich (der WR-Ausweisung entsprechend) gleich unterlegten Flächen im Osten und auf dem Vorhabengrundstück (und insoweit allein auf dem Vorhabengrundstück gelegen) in Weiß ein polygonal geschnittener, länglicher Streifen als „Fläche zum Schutz, zur Pflege und zur Entwicklung von Boden, Natur und Landschaft” von jedenfalls etwa 20m Breite ausgewiesen ist, führt zu keiner anderen Bewertung. Diese anderweitige Funktionszuweisung einer Teilfläche (die im Übrigen ihre Entsprechung am westlichen Rand des Plangebiets findet) bedeutet – zumal Unterschiede in der Ausweisung zum Maß der baulichen Nutzung insoweit unerheblich sind (vgl.o.) – nicht, dass der Plangeber bei der Überplanung des kompakten, lediglich ein Karree bildenden Gesamtgebiets im Januar 2015 die Intention verfolgt hätte, zwar sowohl östlich als auch westlich des von baulicher Nutzung freizuhaltenden Naturstreifens jeweils dieselbe Art der baulichen Nutzung festzusetzen, das kleine Plangebiet aber dennoch auch in Bezug auf die Art der baulichen Nutzung in unterschiedliche Baugebiete aufzuteilen, obwohl die Grundeigentümer in beiden Flächen denselben rechtlichen Regelungen unterworfen werden. Dies wird insbesondere daran deutlich, dass der Plangeber sich gerade nicht darauf beschränkt hat, die im östlichen Bereich vorgefundene Bestandsbebauung lediglich zu erfassen, sondern (auch) den auf der Fläche östlich des Grünstreifens belegenen Grundstücken bewusst bauliche Entwicklungsmöglichkeiten in Richtung auf die Fläche westlich des Grünstreifens zugebilligt hat: Durch die Festsetzung der Baugrenze in unmittelbarer Nähe zum Grünstreifen bzw. zur Fläche zum Schutz, zur Pflege und zur Entwicklung von Boden, Natur und Landschaft hat der Plangeber die Möglichkeit zu einer Nachverdichtung der Bebauung dieser Grundstücke im rückwärtigen Bereich eröffnet. Hierdurch sollte eine „maßvolle städtebauliche Entwicklung, nicht zuletzt im Hinblick auf die übergeordneten Ziele der Stadt Hamburg, Flächen für den Wohnungsbau zu schaffen, erreicht werden.“ (S. 25 f. der Planbegründung). Die für die Fläche westlich des Grünstreifens durch den Bebauungsplan vorgesehene Wohnbebauung und die (weitere) Bebauung auf den (schon teilweise bebauten) Grundstücken östlich des Grünstreifens sollten sich mithin gleichsam aufeinander zu bewegen. Die Bestandsbebauung westlich der Lemsahler Landstraße sollte mit entsprechenden Entwicklungsmöglichkeiten „städtebaulich eingebunden werden“ (S. 25 der Planbegründung). Dies widerspricht unmittelbar einer auf Trennung zielenden Planung des Inhalts, mit dem Grünstreifen zum Ausdruck zu bringen, dass sich beide reinen Wohngebiete unabhängig voneinander entwickeln sollten, nämlich im Osten ausschließlich im Sinne einer Sicherung der Bestandsbebauung und im Westen als davon abzusondernde Neubeplanung der Freifläche. Beabsichtigt war vielmehr die „behutsame Weiterentwicklung“ des vorhandenen Wohnquartiers durch die neue Wohnbebauung (S. 24 der Planbegründung), was einer vereinheitlichenden, nicht einer getrennten Entwicklung der beiden Flächen westlich und östlich des Grünstreifens entspricht. Die von der Antragsgegnerin in Bezug genommene Vorgeschichte der Planung legt kein anderes Ergebnis nahe. Dass ursprünglich ein größeres Plangebiet mit dem in Rede stehenden Bebauungsplan erfasst werden sollte, ändert nichts an der Tatsache, dass sich der Plangeber in der Folge auf das festgesetzte Plangebiet und die getroffenen Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung im Bebauungsplan Lemsahl-Mellingstedt 19 beschränkt und keine Unterteilung des reinen Wohngebietes vorgenommen hat. Auch insoweit ist auf den Begründungstext zu verweisen, wonach die bei Planaufstellung vorgefundene Bestandsbebauung westlich der Lemsahler Landstraße mit entsprechenden Entwicklungsmöglichkeiten „städtebaulich eingebunden werden“ sollte (S. 25).

Gegen eine besondere, auf Trennung zweier Wohngebiete zielende Regelungsintention bei Festsetzung des Naturstreifens spricht auch die Entstehungsgeschichte dieser Flächenausweisung. Die Grünzone war als solche mit naturschutzrechtlich beachtlichem Bestand an Flora und Fauna bei Aufstellung des Bebauungsplans Lemsahl-Mellingstedt 19 bereits vorhanden, stellte also eine räumliche Trennung beider Flächen, aber keine gezielt durch die Planung erst hervorgerufene (normative) Trennung dar. Einer schlichten Trennung zweier Flächen durch tatsächliche Gegebenheiten (Straßen etc.) lässt sich normativ nicht die Wertung entnehmen, dass dadurch die Wechselbezüglichkeit der jeweiligen Nutzungsbeschränkungen aufgehoben werden sollte (so ausdrücklich OVG Hamburg, Beschluss vom 16.11.2015, 2 Bs 165/15, S. 14). Dass dem Fortbestand des bei Planaufstellung bereits vorhandenen Grünstreifens darüber hinaus seitens des Plangebers eine normative Bedeutung zur Aufhebung der Wechselbezüglichkeit der Wohnbauflächen beigemessen worden wäre, lässt sich auch weder den auf diese Teilfläche bezogenen Bestimmungen des Bebauungsplans bzw. der Planverordnung noch den Ausführungen in der Planbegründung entnehmen. Der Zweck des Fortbestands des Naturstreifens an seinem schon bei Planaufstellung vorgefundenem Standort besteht gemäß § 2 Nr. 11 der Planverordnung vielmehr in seiner Bedeutung als naturnahe Gehölzfläche. Gemäß § 2 Nr. 15 der Planverordnung dient der Erhalt des Streifens und seine Festsetzung als Fläche für Maßnahmen zum Schutz, zur Pflege und zur Entwicklung von Boden, Natur und Landschaft mit dem Entwicklungsziel „Artenreiches, gestuftes Gehölz“ dem naturschutzrechtlichen Ausgleich. Ausgeglichen werden sollen hierdurch Beeinträchtigungen, die durch den Bebauungsplan an anderer Stelle hervorgerufen werden (S. 32 der Planbegründung); wäre der gewachsene Grünbestand auch an dieser Stelle einer Überbaubarkeit preisgegeben worden, hätte der Plan erheblichen weiteren Ausgleichsbedarf begründet. Die Entwicklung des Naturstreifens dient den Zielsetzungen des Artenschutzes zur Schaffung von Ersatzlebensräumen für potenzielle oder reale Vorkommen besonders geschützter Tier- und Pflanzenarten und der übergeordneten Zielsetzung des Landschaftsprogramms zum Schutz des Landschaftsbildes (S. 32 der Planbegründung). Es soll sichergestellt werden, dass die Funktion u.a. dieses Streifens zwischen der Straße Fiersbarg und der nördlichen Plangebietsgrenze als Fledermaus-Flugroute (Orientierung und Nahrungssuche) auch künftig erhalten wird (S. 33 der Planbegründung). Die in der Planbegründung außerdem enthaltene Aussage, der Naturstreifen bewahre einen „Puffer zwischen dem neuen Bebauungsgebiet und der Bestandsbebauung“ (S. 32 der Planbegründung), hat keine abweichende, gesonderte Bedeutung. Zwar kann, je nach Kontext, eine Planaussage zu einer „Pufferfunktion“ einer Fläche nicht nur auf eine tatsächliche, sondern auch auf eine normative Wirkung zielen (vgl. VG Hamburg, Beschluss vom 28.10.2015, 7 E 5333/15, juris, Rn. 38). Eine normative Bedeutung im Sinne der Trennung zweier Flächen in unterschiedliche Baugebiete nach der Art der baulichen Nutzung ist dem hier zu betrachtenden Naturstreifen indes auch nicht vor dem Hintergrund dieser Formulierung in der Planbegründung beizumessen. Mit der Bezeichnung des Streifens als „Puffer“ zwischen den Flächen östlich und westlich davon stellt der Begründungstext keinen Bezug zu der Art der baulichen Nutzung her, auf die es jedoch allein für eine Einordnung der beiden Flächen als ein einheitliches Baugebiet im Sinne des Gebietserhaltungsanspruchs ankäme (vgl. wiederum OVG Hamburg, Beschluss vom 16.11.2015, 2 Bs 165/15, S. 14). Die für den Bebauungsplan Lemsahl-Mellingstedt 19 dem Naturstreifen zugewiesene „Pufferfunktion“ bezieht sich allein auf naturschutzfachliche bzw. naturschutzrechtliche Aspekte. Dies lässt der Kontext der hierauf bezogenen Ausführungen in der Planbegründung ohne Weiteres erkennen (S. 32 der Planbegründung):

„Mit der Festsetzung wird zur Stabilisierung des bestehenden Biotoptyps als Lebensraum für Tiere und Pflanzen beigetragen. Gleichzeitig wird der Puffer zwischen dem neuen Bebauungsgebiet und der Bestandsbebauung bewahrt und die Funktion der Gehölzstruktur insgesamt sowohl als Fledermaus-Flugroute als auch für Brutvögel und besonders geschützte Artengruppen gestärkt.“

Nicht bezogen auf die Art der baulichen Nutzung soll danach ein „Puffer“ durch den Naturstreifen errichtet werden, sondern im Interesse der von der Planung betroffenen Fledermaus- und Vogelarten, denen ihre Flugrouten bzw. Brutplätze zwischen den hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung denselben rechtlichen Regelungen unterworfenen Flächen erhalten werden sollen, wird der Naturstreifen als „Puffer“ erhalten und entsprechend festgesetzt (so auch S. 33 der Planbegründung).

Eine rein faktisch abgrenzende Wirkung des Streifens – auf welche sich die Antragsgegnerin beruft – ist vor dem Hintergrund unbeachtlich, dass die Beantwortung der bauplanungsrechtlichen Frage, inwieweit die von der Geltendmachung eines Gebietsschutzanspruchs betroffenen Grundstücke in demselben Baugebiet belegen sind, allein anhand normativer Kriterien zu beantworten ist (OVG Hamburg, Beschluss vom 16.11.2015, 2 Bs 165/15, S. 14).

2. Das Vorhaben der Antragsgegnerin zielt auf eine gebietsfremde Nutzung. Zulässig nach Art der baulichen Nutzung sind in reinen Wohngebieten gemäß § 3 Abs. 2 BauNVO regelhaft Wohngebäude sowie Anlagen zur Kinderbetreuung, die den Bedürfnissen der Bewohner des Gebiets dienen. Ausnahmsweise können neben den hier nicht relevanten gewerblichen Anlagen i.S.v. § 3 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO gemäß § 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO sonstige Anlagen für soziale Zwecke (sowie den Bedürfnissen der Bewohner des Gebiets dienende Anlagen für kulturelle, gesundheitliche oder sportliche Zwecke) zugelassen werden. Die vorliegend in Rede stehende Einrichtung stellt keine Wohnnutzung dar (hierzu unter a). Sie ist auch nicht als soziale Einrichtung in einem reinen Wohngebiet zulässig (hierzu unter b). Ihre bauplanungsrechtliche Zulässigkeit folgt schließlich nicht aus der nach § 246 Abs. 12 BauGB erteilten Befreiung von den Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung (hierzu unter c).

a) In der Rechtsprechung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts, der sonstigen Oberverwaltungsgerichte sowie des Verwaltungsgerichts Hamburg ist geklärt, dass Anlagen zur öffentlichen Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern in der Form der Erstaufnahmeeinrichtung keine Wohnnutzung darstellen, da es jedenfalls an der Eigengestaltung und Freiwilligkeit des Aufenthalts fehlt. Diese Einrichtungen sind vielmehr – insbesondere in Ansehung der Residenzpflicht nach § 47 AsylG sowie der von der Einrichtung zu gewährleistenden zentralen Vollverpflegung und Versorgung mit sonstigen Sachleistungen – als Anlagen für soziale Zwecke einzuordnen (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 28.5.2015, 2 Bs 23/15, juris, Rn. 30; Urteil vom 10.4.1997, Bf II 72/96, NordÖR 1999, 354; Beschluss vom 17.6.2013, 2 Bs 151/13, juris; VG Hamburg, Beschluss vom 22.1.2015, 9 E 4775/14; Beschluss vom 28.10.2015, 7 E 5333/15, juris, Rn. 59; Beschluss vom 6.11.2015, 7 E 5650/15, S. 17; VGH Kassel, Beschluss vom 18.9.2015, 3 B 1518/15, NVwZ 2016, 88; vgl. auch VGH Mannheim, Beschluss vom 6.10.2015, 3 S 1695/15, juris, Rn. 12; VG Köln, Urteil vom 11.1.2012, 23 K 1277/11, juris; so auch BT-Drs. 18/6185, S. 87).

b) Das Vorhaben der Antragsgegnerin ist, wovon bereits die streitgegenständliche Baugenehmigung selbst zutreffend ausgeht, als nicht lediglich kleine Anlage für soziale Zwecke in dem reinen Wohngebiet nicht zulässig.

Für die Anwendbarkeit der Ausnahmemöglichkeit gemäß § 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO müsste es sich bei einer Anlage für soziale Zwecke in einem reinen Wohngebiet um eine sogenannte kleine, gebietstypische Anlage handeln, die sich in die Zweckbestimmung des Baugebiets fügt (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 28.5.2015, 2 Bs 23/15, juris, Rn. 39; Beschluss vom 28.11.2012, 2 Bs 210/12, NVwZ-RR 2013, 352, 354; Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 118. EL, Stand: 8/2015, § 3 BauNVO, Rn. 79). Dem liegt zugrunde, dass bei zahlreichen Nutzungsarten, insbesondere der reinen Wohnnutzung, schon der Umfang der Nutzung selbst ein typenbildendes Merkmal ist, weil von der Nutzungsart mit zunehmendem Umfang gebietsunverträgliche Störungen ausgehen. Diese Maßstäblichkeit gilt insbesondere auch für ausnahmsweise zulassungsfähige Nutzungen. Regelhaft erwartet werden in einem reinen Wohngebiet nur die beim privaten Wohnen üblichen bzw. zweckmäßigen, d.h. auch entsprechend dimensionierten Infrastruktureinrichtungen (vgl. VGH Mannheim zu einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber mit 26 Plätzen als Umnutzung eines Bestandsgebäudes, Beschluss vom 6.10.2015, 3 S 1695/15, NVwZ 2015, 1781 ff., bzw. VGH Kassel, Beschluss vom 18.9.2015, 3 B 1518/15, NVwZ 2016, 88, 89, zu einer Einrichtung für 25 Personen). Für die Gebietsverträglichkeit geht es um die Frage, ob ein Vorhaben dieser Art aufgrund der typischerweise mit ihm verbundenen Auswirkungen auf die nähere Umgebung generell geeignet ist, das Wohnen in einem reinen Wohngebiet zu stören (vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 18.9.2015, 3 B 1518/15, NVwZ 2016, 88), insbesondere nach seinem räumlichen Umfang, der Art und Weise der Nutzung und dem vorhabenbedingten An- und Abfahrtsverkehr (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 28.5.2015, 2 Bs 23/15, juris, Rn. 41). Individuelle Besonderheiten der zu betrachtenden Einrichtung, des Verhaltens der darin untergebrachten Personen oder auch besondere individuelle Fähigkeiten des Betreibers zur Herabsetzung der Störungsintensität einer konkreten Einrichtung sind demgegenüber wegen des eine typisierende Betrachtung erfordernden Maßstabs des Gebietserhaltungsanspruchs nicht in die gerichtliche Prüfung einzubeziehen (vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 18.9.2015, 3 B 1518/15, NVwZ 2016, 88). Die Bewertung der Dimensionierung ergibt sich aus dem Vergleich mit der plangemäßen Bebauung, insoweit unter Berücksichtigung der Vorgaben zum Maß der baulichen Nutzung (vgl. Stock in König/Roeser/Stock, Baunutzungsverordnung, 3. Aufl. 2014, § 3 Rn. 43); in durch geringe Verdichtung geprägten Gebieten können dementsprechend nur solche Anlagen ausnahmsweise zugelassen werden, die der Eigenart des konkreten Gebiets entsprechen (so, unter Bezugnahme auf § 15 Abs. 1 BauNVO als ergänzender rechtlicher Maßstab, Stock in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 118. EL, Stand: 8/2015, § 3 BauNVO, Rn. 79).

Nach diesem Maßstab kann das Vorhaben nicht als eine in dem reinen Wohngebiet gebietsverträgliche, zulässige „kleine“, die Zweckbestimmung des Baugebiets nicht gefährdende (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 28.5.2015, 2 Bs 23/15, juris, Rn. 39; Beschluss vom 28.11.2012, 2 Bs 210/12, NVwZ-RR 2013, 352, 354; Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 118. EL, Stand: 8/2015, § 3 BauNVO, Rn. 79) Anlage für soziale Zwecke gewertet werden.

Mit seiner Erstreckung auf insgesamt 24 zumeist große Baukörper (mit insgesamt 238 Einheiten, die für jeweils 4 Personen nutzbar wären) bzw. Teilanlagen (vgl. Lageplan, Vorlage Nr. 7/21), der Ausrichtung auf (derzeit) 252 Nutzer zuzüglich Personal und der Ausdehnung über den gesamten westlichen Planbereich geht das Vorhaben weit über die in dem Bebauungsplan angelegte kleinteilige Wohngebietsausweisung hinaus: Durch den Bebauungsplan Lemsahl-Mellingstedt 19 sollten insbesondere für das städtische Grundstück (Flurstück 420) am Fiersbarg die planungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bau von insgesamt nur 40 bis 45 Wohneinheiten in Form von Einzel, Doppel- und Reihenhäusern sowie in (drei) Stadtvillen (diese mit bis zu 5 Wohneinheiten) geschaffen werden (vgl. Bebauungskonzept, Planbegründung S. 5). Hierfür wurden insgesamt für die bauliche Nutzung nur 17 Baufenster bestimmt und hierbei „die Baugrenzen … baukörperscharf festgesetzt, um die Umsetzung des Bebauungskonzeptes zu gewährleisten” (S. 24 der Planbegründung). Die Reihenhauszeilen sollten aus je drei Einheiten bestehen (S. 25 der Planbegründung) und die höchstzulässige Zahl der Wohneinheiten in Wohngebäuden wurde „gemäß der im Bebauungskonzept vorgesehenen Gebäudetypen mit einer Wohnung in den Einzel- und Doppelhaustypen sowie in den Hausgruppen und mit 5 Wohnungen für die Stadtvillen festgesetzt” (S. 25 der Planbegründung).

Im Übrigen ist die Einrichtung bei der gebotenen typisierenden Betrachtung auch ihrer Zweckbestimmung nach in einem reinen Wohngebiet nicht gebietsverträglich (vgl. im Einzelnen Beschluss der Kammer vom 15.12.2015, 7 E 6128/15). Auch in der Rechtsprechung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts ist – für eine Folgeunterkunft, d.h. für eine Nutzung mit geringerer Belegungsdichte sowie durch Personen mit günstigerer Bleibeperspektive – geklärt, dass eine größere Einrichtung zur öffentlichen Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern bei typisierender Betrachtung als in einem reinen Wohngebiet gebietsunverträglich anzusehen ist (OVG Hamburg, Beschluss vom 28.5.2015, 2 Bs 23/15, juris, Rn. 43 ff.). Dies muss erst recht für Einrichtungen wie die vorliegend zu betrachtende gelten, denn hierbei soll es sich um eine sogenannte zentrale Erstaufnahmeeinrichtung (ZEA) handeln, welche i.S.v. § 47 AsylG dazu dient, Ausländer unmittelbar nach Stellung ihres Asylauftrags, also unmittelbar nach ihrer Ankunft in Hamburg, für mindestens sechs Wochen, längstens sechs Monate (gemäß Absatz 1a der Vorschrift Ausländer aus einem sicheren Herkunftsstaat allerdings auch länger), unterzubringen. Gerade solche Einrichtungen sind nach den spezifischen Belegungs- und Nutzungsbedingungen geeignet, typischerweise erhebliche Auswirkungen auf die Wohnruhe eines reinen Wohngebiets zu entfalten.

c) Bauplanungsrechtlich zulässig wird das Vorhaben auch nicht durch die Befreiung nach § 246 Abs. 12 BauGB; die Befreiung ist rechtswidrig und nicht geeignet, die Verbindlichkeit der Ausweisung „reines Wohngebiet” wie auch des daraus folgenden Gebietserhaltungsanspruchs der Antragsteller zu 1) bis 4) aufzuheben.

Die Voraussetzungen zur Erteilung einer Befreiung nach § 246 Abs. 12 Satz 1 BauGB sind nicht erfüllt.

Nach dieser Vorschrift kann bis zum 31. Dezember 2019 für die auf längstens drei Jahre zu befristende Errichtung mobiler Unterkünfte für Flüchtlinge oder Asylbegehrende von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Befreiung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.

Insoweit kann vorliegend dahingestellt bleiben, wie der Begriff der mobilen Anlage widerspruchsfrei abzugrenzen ist, d.h. ob es sich bei der Gesamtanlage wegen der Verwendung von Containern als wesentliche Bauelemente und trotz der erforderlichen Erschließungs- und Fundamentierungsarbeiten um eine im Rechtssinne mobile Unterkunft i.S.v. § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 1 BauGB handelt, bzw. wie der Umstand zu erklären ist, dass eine andere Behörde der Antragsgegnerin zu einer für einen anderen Standort vorgesehenen, ebenfalls wesentlich aus Containern gleicher Bauart zusammengesetzten, um Dachbauteile ergänzten Anlage eine „Fachbehördliche Entscheidung“ nach § 246 Abs. 14 BauGB vorgelegt hat, welche zur Begründung der Anwendung von § 246 Abs. 14 BauGB betont:

„Die Erteilung einer befristeten Zulassung nach Abs. 12 scheidet aus, da die zu errichtenden Anlagen keine ‘mobilen Unterkünfte’ im Sinne des Satzes 1 Nr. 1 sind. Vielmehr werden von umfangreichen Erschließungsmaßnahmen begleitete, fest gegründete Bauten errichtet.“

Vorliegend ist entscheidend, dass die allgemeine Tatbestandsvoraussetzung nach § 246 Abs. 12 Satz 1 a.E. BauGB, wonach die Befreiung mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein muss, nicht erfüllt ist.

Die Frage nach der Vereinbarkeit der Befreiung mit den öffentlichen Belangen ist im vorliegenden Nachbarstreitverfahren trotz seiner prozessrechtlichen Beschränkung auf die subjektiven Rechte der Antragsteller (vgl. o.) Gegenstand der gerichtlichen Prüfung. Betrifft die Erteilung einer Befreiung eine nachbarschützende Festsetzung – hier zur Art der baulichen Nutzung (s.o.) –, führt bereits das Fehlen der objektiven Befreiungsvoraussetzungen zu einer Verletzung von Nachbarrechten (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.9.1986, 4 C 8.84, Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 71, und Beschluss vom 8.7.1998, 4 B 64/98, NVwZ-RR 1999, 8).

Der Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen steht hier entgegen, dass die Befreiung von der Art der baulichen Nutzung sich als Verletzung eines Grundzugs der Planung des Bebauungsplans Lemsahl-Mellingstedt 19 erweist. Zu den öffentlichen Belangen, mit denen ein Vorhaben gemäß § 246 Abs. 12 BauGB zu vereinbaren sein muss, gehört insbesondere die Beachtung der Grundzüge der Planung – jedenfalls dergestalt, dass sie durch die Befreiung nicht verletzt werden dürfen (hierzu unter aa)). Steht ein erheblicher öffentlicher Belang der Befreiung entgegen, ist sie ausgeschlossen; andere, für die Befreiung sprechende Belange sind dann unerheblich und insbesondere nicht im Wege einer Gesamtabwägung zur Geltung zu bringen (hierzu unter bb)).

aa) Die erteilte Befreiung von der Art der baulichen Nutzung ist schon deshalb nicht mit den öffentlichen Belangen im Sinne von § 246 Abs. 12 BauGB vereinbar, weil sie einen Grundzug der Planung verletzt.

aaa) Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin ermächtigt die Vorschrift nicht zu einer unbeschränkten Abweichung von den Festsetzungen des jeweiligen Bebauungsplans. Mit dem Gebot, dass die Befreiung mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein muss, ist jedenfalls verbunden, dass die Grundzüge der Planung nicht verletzt werden dürfen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Begriff der öffentlichen Belange im Zusammenhang mit der bauplanungsrechtlichen Befreiung lässt sich dieser nicht allgemein randscharf abgrenzen, umfasst indes immer die Wahrung des wesentlichen Gehalts des Bebauungsplans (BVerwG, Urteil vom 19.9.2002, 4 C 13/01, BVerwGE 117, 50):

„Welche Umstände als öffentliche Belange im Sinne von § 31 Abs. 2 BauGB eine Befreiung ausschließen, lässt sich nicht generell beantworten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt der Schluss, eine Befreiung sei mit den öffentlichen (bodenrechtlichen) Belangen nicht vereinbar, um so näher, je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht einer Planung eingreift. Eine Befreiung ist ausgeschlossen, wenn das Vorhaben in seine Umgebung nur durch Planung zu bewältigende Spannungen hineinträgt oder erhöht, so dass es bei unterstellter Anwendbarkeit des § 34 Abs. 1 BauGB nicht zugelassen werden dürfte (BVerwG, Urteil vom 9. Juni 1978 – BVerwG 4 C 54.75 – BVerwGE 56, 71 <78 f.>).”

In der angeführten Grundsatzentscheidung vom 9. Juni 1978 hatte das Bundesverwaltungsgericht die zentrale Bedeutung des Schutzes der Grundzüge der Planung für das System der bauplanungsrechtlichen Ordnung erläutert:

„Durch die Entgegensetzung von Regelfällen und Sonderfällen wird auch die Grenze zwischen der Befreiung und der etwa erforderlichen Planänderung markiert: Ist die Befreiung auf atypische Sonderfälle beschränkt, so folgt daraus, daß in allen übrigen (Regelfällen) Fällen zulässige Abweichungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans nur mit Hilfe eines Planänderungsverfahrens bewirkt werden können. Diese Folgerung entspricht in dreifacher Hinsicht dem System des Bundesbaugesetzes: Zum einen dürfen die Festsetzungen eines Bebauungsplans – gemäß § 10 BBauG handelt es sich um Rechtssätze – nicht generell, insbesondere nicht in den vom Plan erfaßten Regelfällen, durch Verwaltungsakte “außer Kraft gesetzt” werden. Ferner obliegt die Änderung eines Bebauungsplans nach § 2 Abs 1 und Abs 7 BBauG 1976 der die Planungshoheit ausübenden Gemeinde und nicht der Baugenehmigungsbehörde. Außerdem ist für die Planung in § 2 Abs 5 und Abs 7, § 2a Abs 1 bis 6 BBauG 1976 ein bestimmtes Verfahren unter Beteiligung der Träger öffentlicher Belange und der Bürger vorgeschrieben. Würde die Baugenehmigungsbehörde gleichwohl in “Regelfällen” befreien, so würde sie damit die vom Bundesbaugesetz bestimmte Zuständigkeit und das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren umgehen.“

Spätere Änderungen der allgemeinen bauplanungsrechtlichen Befreiungsvorschrift, des § 31 Abs. 2 BauGB, mit denen das Verbot, mit einer Befreiung die Grundzüge der Planung zu berühren, in den Normtext eingefügt und tatbestandlich zugeordnet worden ist, sind angesichts der Systemnotwendigkeit einer die Grundentscheidungen des Plangebers schützenden Grenze für die Abweichungsentscheidung der Baugenehmigungsbehörde lediglich als (den Maßstab verfeinernde) Bestätigung dessen zu verstehen, was mit dem Begriff der „öffentlichen Belange” bereits vorgegeben ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5.3.1999, 4 B 5/99, ZfBR 1999, 283). In der Abfolge des Normwortlauts des § 31 Abs. 2 BauGB gegenüber der Bedingung, dass die Befreiung mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein muss, vorgehende einzelne Tatbestandselemente bzw. einzelne Befreiungstatbestände können sich zwar bereits auf die Vereinbarkeit mit der Plankonzeption beziehen; dies ändert indes nichts daran, dass die Wahrung der Grundzüge des Bebauungsplans wesentlicher Gegenstand des Begriffs der öffentlichen Belange ist (vgl. Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 118. EL., Stand: 8/2015, § 31, Rn. 55 ff.).

Die Bedingung, dass die Befreiung mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein muss, hat in der speziellen Befreiungsnorm des § 246 Abs. 12 BauGB keine andere Bedeutung als im Rahmen der allgemeinen Befreiungsvorschrift des § 31 Abs. 2 BauGB. Insoweit sind nicht nur der Wortlaut und die systematische Stellung innerhalb der Norm identisch. Dasselbe Ergebnis folgt auch aus der gesamtsystematischen Betrachtung, insbesondere dem Abgleich mit höherrangigem Recht, sowie Sinn und Zweck der Vorschrift; das vorliegende Material über den Gesetzgebungsvorgang steht dem ebenfalls nicht entgegen.

Der verfassungsrechtliche Rahmen für die Möglichkeiten der Baugenehmigungsbehörde, von der – rechtssatzförmigen – Entscheidung des Plangebers über die bauliche Entwicklung des Plangebietes abzuweichen, ist für alle Vorschriften zur bauplanungsrechtlichen Befreiung gleich: Zulässiger Zweck der im Baugesetzbuch – auch vor Inkrafttreten des § 246 Abs. 12 BauGB im Zuge des sog. „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes“ am 24.10.2015 – bereits enthaltenen Bestimmungen, die es unter bestimmten Voraussetzungen ermöglichen, von den Festsetzungen eines Bebauungsplans abzuweichen, ist es, durch eine gewisse Flexibilisierung planerischer Festsetzungen vor dem Hintergrund des Übermaßverbots Einzelfallgerechtigkeit zu ermöglichen (Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 12. Aufl. 2014, § 31, Rn. 1). Abweichungsvorschriften, zu denen auch § 246 Abs. 12 BauGB zu zählen ist, stehen damit in einem Spannungsverhältnis zu anderen elementaren rechtsstaatlichen Grundsätzen bzw. grundgesetzlichen Garantien. Die Rechtssicherheit als ein i.S.d. Art. 20 GG wesentliches Element der Rechtsstaatsgarantie erfordert eine Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit der Rechtslage und der Rechtsanwendung (BVerfG, Beschluss vom 8.1.1981, 2 BvL 3/77, 9/77, BVerfGE 56, 1, 12; Beschluss vom 9.4.2003, 1 BvL 1/01, 1 BvR 1749/01, BVerfGE 108, 52, 75; Beschluss vom 3.3.2004, 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33, 53 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 20, Rn. 58), die nur dann gewahrt bleibt, wenn die Möglichkeit zur Abweichung von planungsrechtlichen Festsetzungen durch gesetzlich normierte Voraussetzungen auf ein vertretbares Maß beschränkt wird (Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 12. Aufl. 2014, § 31, Rn. 2).

Zu beachten ist zudem die Zuordnung der Befugnisse. Vor dem Hintergrund des Art. 28 Abs. 2 GG darf durch die Schaffung von Abweichungsvorschriften oder ihre Anwendung die Umgehung einer eigentlich erforderlichen Planänderung nicht ermöglicht werden (Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 12. Aufl. 2014, § 31, Rn. 28). In die sachliche Reichweite der hierdurch geschützten und garantierten gemeindlichen Selbstverwaltung fällt als eine der sog. Gemeindehoheiten auch die Planungshoheit als Befugnis der Gemeinde zur Ordnung und Gestaltung des Gemeindegebiets im Sinne einer längerfristigen Entwicklung, namentlich in Ansehung der baulichen Nutzung (BVerfG, Beschluss vom 7.10.1980, 2 BvR 584/76 et. al., BVerfGE 56, 298, 310, 317 f.; BVerwG, Urteil vom 16.12.1988, 4 C 40/83, BVerwGE 81, 95, 106; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 28, Rn. 13; Hellermann, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Ed. 26, Stand: 9/2015, Art. 28, Rn. 40.5). Auch und gerade hieraus ergibt sich der Vorbehalt, nach dem der Bebauungsplan als Rechtsnorm grundsätzlich nur durch Änderung, Ergänzung oder Aufhebung in seinem Inhalt geändert werden kann, so dass Abweichungsvorschriften nicht dazu verwendet werden dürfen, den Bebauungsplan – wie es hier die Antragsgegnerin beabsichtigt – an geänderte tatsächliche Verhältnisse oder neue städtebauliche Vorstellungen anzupassen (BVerwG, Urteil vom 9.6.1978, 4 C 54.75; Beschluss vom 13.2.1996, 4 B 199.95; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 118. EL., Stand: 8/2015, § 31, Rn. 15), und es allein der Gemeinde vorbehalten ist, eine solche Anpassung durch Änderung des Bebauungsplans selbst herbeizuführen, nicht der Bauordnungsbehörde im Wege einer Abweichungsentscheidung (Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 118. EL., Stand: 8/2015, § 31, Rn. 15). Zudem ist wegen der grundrechtsgestaltenden Wirkung der Planung von erheblicher Bedeutung, dass die nach den §§ 3 und 4 BauGB notwendige Beteiligung der Bürger und Träger öffentlicher Belange nicht im Wege behördlicher Abweichungsentscheidungen unterlaufen oder geradezu „aus den Angeln gehoben“ wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5.3.1999, 4 B 5/99, NVwZ 1999, 1110; Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 12. Aufl. 2014, § 31, Rn. 29). Dies gilt auch in der Einheitsgemeinde Hamburg, in der den Bezirksämtern sowohl die Bauaufsicht als auch die Aufstellung der Bebauungspläne übertragen ist (OVG Hamburg, Beschluss vom 17.6.2013, 2 Bs 151/13, S. 6); wird durch die Erteilung einer Befreiung eine an sich erforderliche Planänderung funktionell ersetzt, handelt es sich um einen Übergriff der Bauaufsicht in die Kompetenz der Bauleitplanung.

Ein von dem allgemeinen abweichendes Verständnis des Begriffs „öffentliche Belange” dergestalt, dass im Rahmen von § 246 Abs. 12 BauGB das Verhältnis zwischen dem durch Befreiung zu ermöglichenden Vorhaben und dem Konzept des Bebauungsplans unerheblich sein sollte, ist auch weder nach der Systematik der Vorschrift selbst anzunehmen, noch nach den sonstigen Zusammenhängen mit den übrigen Vorschriften des Baugesetzbuches. Zu beachten ist insoweit zunächst, dass der maßgebliche Normkontext darin besteht, dass die Vereinbarkeit mit den öffentlichen Belangen zu den Bedingungen für eine auch nur in das Ermessen der Baugenehmigungsbehörde gestellte Befreiung gehört. Schon dem Begriff der „Befreiung” ist der Ausnahmecharakter immanent, d.h. das Sonderverhältnis zu der Regel, die schlicht in der Beachtung des Bebauungsplans liegt (vgl. bereits oben, BVerwG, Urteil vom 9.6.1978, aaO.). Zielt das Gesetz demgegenüber selbst darauf, dem Bebauungsplan bzw. seinen Grundzügen die Maßgeblichkeit zu nehmen bzw. seine Regelungsaussage zu ändern, so bringt es dies – auch zur Wahrung des rechtsstaatlichen Gebotes der Normenklarheit – unmittelbar zum Ausdruck und setzt die gewünschte Rechtsfolge selbst verbindlich (vgl. u.a. §§ 245a Abs. 1, 246 Abs. 11 BauGB). Vor diesem Hintergrund ist auch, entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin, die Auslegung des § 246 Abs. 10 BauGB (durch den VGH Mannheim, Beschluss vom 11.3.2015, 8 S 492/15, juris), wonach dessen Zielrichtung, Unterkünfte auch in Gewerbegebieten zu ermöglichen, es verbiete, bei der Prüfung der entgegenstehenden öffentlichen Belange auf die Planfestsetzung zur Art der baulichen Nutzung abzustellen, nicht auf § 246 Abs. 12 BauGB zu übertragen. Das ergibt sich bereits daraus, dass es insoweit um Vorschriften maßgeblich unterschiedlicher Struktur geht: § 246 Abs. 10 BauGB setzt (als Bundesgesetz) allgemein bei dem planungsrechtlichen Bedeutungsgehalt der Gewerbegebietsausweisung an, während § 246 Abs. 12 BauGB die planerische Grundaussage selbst nicht regelt, sondern ihre Beachtung der Baugenehmigungsbehörde überantwortet.

Die intendierte Rücksichtnahme auf die besondere Stellung des Plangebers drückt sich in § 246 Abs. 12 BauGB weiter darin aus, dass Satz 2 der Vorschrift § 36 des Gesetzes für entsprechend anwendbar erklärt. Hiernach ist die für die Bebauungsplanung zuständige Gemeinde an dem Genehmigungsverfahren zu beteiligen, sie kann, wie § 36 Abs. 2 Satz 1 BauGB im Sinne eines Numerus Clausus, zugleich indes die Erheblichkeit der Grundzüge der Planung bestätigend anführt, das Einvernehmen wirksam u.a. aus den sich aus § 31 BauGB ergebenden Gründen versagen. Dementsprechend stellt sich der Umstand, dass § 246 Abs. 12 BauGB die besondere Befreiungsmöglichkeit nur mit einer Befristung auf (zunächst, vgl. Abs. 17 der Vorschrift) drei Jahre und nur für die Errichtung mobiler Unterkünfte (oder die Umnutzung von Baulichkeiten in besonderen Gebieten) eröffnet, lediglich als Einschränkung des Anwendungsbereichs dar. Begründet wird durch diese Einschränkungen nicht das Erfordernis einer eigenständigen Definition des Begriffs der öffentlichen Belange, sondern die Möglichkeit, dass sich im Einzelfall ein Vorhaben im Hinblick auch auf die konkrete zeitliche Befristung der Befreiung als für die Grundkonzeption des Bebauungsplans unerheblich erweist.

Auch der Abgleich der Regelungssystematik mit § 31 Abs. 2 BauGB führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar enthält § 246 Abs. 12 BauGB gerade nicht die dort gesondert von den öffentlichen Belangen angeführte Bedingung, dass die „Grundzüge der Planung nicht berührt werden”. Hierbei handelt es sich nach der Begründung zu dem Entwurf der Bundesregierung, wonach eine Befreiung auch dann möglich sein soll, „wenn die Grundzüge der Planung berührt werden” (vgl. BT-Drs. 18/6185, S. 54), auch um eine bewusste Abweichung von der allgemeinen Befreiungsvorschrift. Ergebnis dieser Regelungstechnik ist indes nur, dass die besondere Grenze für Beeinträchtigungen der Grundzüge der Planung, die § 31 Abs. 2 BauGB mit „berührt” definiert, als solche nicht auf die Befreiungen nach § 246 Abs. 12 BauGB anzuwenden ist, während die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl.o.) in dem Begriff der öffentlichen Belange enthaltene, allgemeine, grundsätzliche Grenzziehung zugunsten der Verbindlichkeit des Bebauungsplans zu beachten bleibt. Auch der Satz in der Entwurfsbegründung (aaO., S. 54 u.) „Soweit sich im zeitlich befristeten Nutzungszeitraum der Flüchtlingseinrichtung ergibt, dass eine langfristige Nutzung erforderlich wird, wäre eine nachhaltige Bauleitplanung erforderlich”, erfordert im Übrigen keine abweichende Auslegung des dort zugrunde liegenden Systemverständnisses. Denn auch in dem Fall, dass das durch Befreiung nach § 246 Abs. 12 BauGB ermöglichte Vorhaben die Grundzüge der Planung iSv. § 31 Abs. 2 BauGB berührt, jedoch nicht in einer Weise verletzt, dass es mit den öffentlichen Belangen iSv. § 246 Abs. 12 Satz 1 BauGB unvereinbar wäre, ist nach Verfassungsrecht wie auch Systematik des Baugesetzbuches (vgl.o.) eine Auflösung des Widerspruchs zu dem Bebauungsplan durch eine Planänderung angemessen.

Nach allem hat die von § 31 Abs. 2 BauGB teilweise abweichende Formulierung der Befreiungsvorschrift in § 246 Abs. 12 BauG nur zur Folge, dass hier jener, mit „nicht berührt” besonders strenge Maßstab zur Wahrung der Grundzüge der Planung nicht anzuwenden ist. Die allgemeinen Anforderungen an das Verhältnis zwischen Einzelfallentscheidung der Baugenehmigungsbehörde und Planentscheidung des Plangebers verlangen demgegenüber weiterhin Beachtung. Mit dem Bundesverwaltungsgericht (vgl. Urteil vom 19.9.2002, 4 C 13/01, BVerwGE 117, 50) ist danach als unvereinbar mit öffentlichen Belangen eine Befreiung ausgeschlossen, „wenn das Vorhaben in seine Umgebung nur durch Planung zu bewältigende Spannungen hineinträgt oder erhöht, so dass es bei unterstellter Anwendbarkeit des § 34 Abs. 1 BauGB nicht zugelassen werden dürfte”. Dieses Kriterium dürfte sachgerecht in der Formulierung zusammenzufassen sein, dass eine Befreiung mit den öffentlichen Belangen iSv. § 246 Abs. 12 BauGB insbesondere dann nicht vereinbar ist, wenn das Vorhaben die Grundzüge der Planung in diesem Sinne schwerwiegend beeinträchtigt, d.h. verletzt.

Die Bezugnahme nicht allein auf § 246 Abs. 12 BauGB, sondern zugleich auf § 31 Abs. 2 BauGB in dem Baugenehmigungsbescheid ergibt im Übrigen keinen anderen Maßstab für die Zulässigkeit der erteilten Befreiung. Insoweit handelt es sich lediglich, wie das die Nichtanwendbarkeit der Schranken in § 31 Abs. 2 BauGB betonende Vorbringen der Antragsgegnerin im gerichtlichen Verfahren bestätigt, um eine an die übliche Terminologie bei bauplanungsrechtlichen Befreiungsentscheidungen anknüpfende Formulierung. Rechtlich werden mit einer Berufung auch auf § 31 Abs. 2 BauGB indes keine über § 246 Abs. 12 BauGB hinausgehenden bzw. davon zugunsten des Vorhabens abweichenden Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet (vgl.o.).

bbb) Die von der Antragsgegnerin gemäß § 246 Abs. 12 BauGB erteilte Befreiung von der Art der baulichen Nutzung ist im Sinne des aufgezeigten Maßstabs nicht mit öffentlichen Belangen vereinbar. Sie steht in deutlichem Gegensatz zu dem Plankonzept des Bebauungsplans Lemsahl-Mellingstedt 19 und verletzt damit die Grundzüge der Planung.

Das den Grundzügen der Planung zugrunde liegende Plankonzept beurteilt sich nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck kommenden Willen des Plangebers. Zu dessen Ermittlung ist neben zeichnerischen und textlichen Festsetzungen des Plans auch seine Begründung auszuwerten (Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 118. EL., Stand: 8/2015, § 31, Rn. 36; Siegmund, in: Spannowsky/Uechtritz, BeckOK BauGB, Stand: 4/2015, § 31, Rn. 61).

Die Bestimmung insbesondere der Art der baulichen Nutzung gerade für die Fläche des Flurstücks 420 war wesentlicher Anlass für die Aufstellung sowie wesentlicher Gegenstand des Bebauungsplans Lemsahl-Mellingstedt 19; dies macht im Übrigen die Antragsgegnerin selbst, wenn auch in anderem Zusammenhang (nämlich als vermeintlicher Beleg für die normative Trennung der Flächen westlich und östlich des Naturstreifens), geltend.

Schon den zeichnerischen Festsetzungen ist die zentrale Bedeutung der „WR”-Ausweisung insbesondere des Flurstücks 420 zu entnehmen. Hiernach ist die reine Wohnnutzung die einzige eröffnete bauliche Nutzung, sind die Baufenster mit den unterschiedlichen Maßen der baulichen Nutzbarkeit aufeinander bezogen angeordnet und gruppieren sich die sonstigen Flächenausweisungen darum, die Wohnruhe und den Grünschutz begünstigend, herum.

Die Planbegründung bestätigt die entsprechende planerische Absicht. Hiernach war es ein besonderes Anliegen der Planaufstellung, im Plangebiet die Realisierung von Familienheimen und sonstiger kleinteiliger Wohnnutzung zu ermöglichen. Ausdrücklich für das nunmehr in Rede stehende Vorhabengrundstück sollten die planungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bau von 40 bis 45 Wohneinheiten in Form von Einzel-, Doppel- und Reihenhäusern sowie in Stadtvillen, davon 30 % öffentlich gefördert, geschaffen werden (S. 3 der Planbegründung), wodurch ein Beitrag zum dringend benötigten Wohnungsbau in Hamburg geleistet werden sollte (S. 3 der Planbegründung). Die neuen und bestehenden Bauflächen sollten für die Wohnnutzung bei entsprechender Wohnruhe gesichert werden, was durch die Festsetzung eines reinen Wohngebiets, insbesondere für das jetzige Vorhabengrundstück, geschehen sollte (S. 24 der Planbegründung). Ausdrücklich erkennt die Planbegründung dabei an, dass derartige Wohnlagen in Hamburg besonders nachgefragt und „unverzichtbares Segment des gesamtstädtischen Wohnungsmarktes“ seien (S. 24 der Planbegründung). Durch die eine solche Wohnbebauung ermöglichende Festsetzung sollte auch der Abwanderung in das Umland entgegengewirkt werden (S. 24 der Planbegründung).

Eine überdies gerade auch auf den Ausschluss anderer Nutzungsarten zielende Intention der Planentscheidung für die reine Wohnnutzung ergibt sich zudem daraus, dass die planerische Grundentscheidung zur Ausweisung des Vorhabengrundstücks als Teil eines reinen Wohngebiets von dem Plangeber gerade auch in bewusster Abkehr von einer vorherigen Nutzung der Fläche mit einer großen sozialen Einrichtung (sog. „Pavillon-Dorf“) erfolgte, obwohl seinerzeit (im Januar 2015) ein Bedarf an Schaffung von Unterkunftsplätzen bereits bestand und von der Antragsgegnerin für andere Standorte auch als dringlich geltend gemacht wurde.

Die erteilte Befreiung von der Art der baulichen Nutzung für das streitgegenständliche Vorhaben stellt sich hiernach als erhebliche Verletzung dieser Grundzüge der Planung dar, die einer Umplanung gleichkommt: Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die hierbei in Anspruch genommene Fläche – das Grundstück von rund 32.000 m2 wird der plangemäßen Bebaubarkeit für Wohngebäude vollständig entzogen -, und ihren hohen Anteil (von etwa drei Fünfteln) an der Gesamtfläche des Geltungsbereichs des Bebauungsplans.

Diese Verletzung der Grundzüge der Planung wird schließlich nicht dadurch unbeachtlich, dass die streitgegenständliche Baugenehmigung nur eine dreijährige Nutzungszeit für die geplante Einrichtung legalisiert. Allein aus der (gegenwärtigen) Befristung einer Genehmigung kann nicht gefolgert werden, dass Grundzüge der Planung durch diese nicht berührt werden (OVG Hamburg, Beschluss vom 17.6.2013, 2 Bs 151/13, juris, Rn. 11 ff.). Für die vorliegend festgestellte Verletzung der Grundzüge der Planung gilt nichts anderes. Ein Ausschluss der Planumsetzung für drei Jahre hat bereits erhebliches Gewicht. Überdies kann diese Befristung nicht damit gleichgesetzt werden, dass nach ihrem Ablauf die Fläche tatsächlich der plangemäßen Nutzung zur Verfügung stünde.

bb) Ist die Befreiung nach § 246 Abs. 12 BauGB mit dem öffentlichen Belang, dass die Grundzüge der Planung nicht verletzt werden dürfen, nicht vereinbar, ist sie ausgeschlossen. Andere, gegebenenfalls für die Befreiung sprechende Belange sind insoweit nicht geeignet, die Verletzung der Grundzüge der Planung im Wege einer Gesamtabwägung zu kompensieren (vgl. Roeser, in: Berliner Kommentar BauGB, 3. Aufl. 2002, 7. EL., Stand: 9/2006, § 31, Rn. 18; Dürr, in: Brügelmann, BauGB, 75. EL., Stand: 7/2010, § 31, Rn. 54). Auch dies ist Ausdruck der zu unterscheidenden Befugnisse der Baugenehmigungsbehörde einerseits (zur Einzelfallregelung in Umsetzung des Bebauungsplans) und des Plangebers andererseits (zur umfassenden Gestaltung der städtebaulichen Entwicklung). Die auf die seinerzeitige Normfassung bezogenen Erläuterungen des Bundesverwaltungsgerichts hierzu (Urteil vom 9.6.1978, IV C 54.75, BVerwGE 56, 71) gelten in der Sache unverändert:

„Eine Befreiung, mit der einem bestimmten öffentlichen Interesse Rechnung getragen werden soll, verbietet sich, wenn dadurch die geordnete städtebauliche Entwicklung beeinträchtigt würde. In Fällen dieser Art bedarf es eines Ausgleichs zwischen einander widerstreitenden – häufig zum Teil bodenrechtlich, zum anderen Teil nicht-bodenrechtlichen – Gemeininteressen. Ein solcher Ausgleich bedarf gleichsam der Einbettung in die gesamte Interessenlage. Die Befreiung ist nicht das geeignete und deshalb auch nicht das zugelassene Mittel, dies zu erreichen. Steht der Befreiung ein bodenrechtlicher Belang in beachtlicher Weise entgegen, so vermag sich gegen ihn weder der atypische – obschon vielleicht gewichtige – Gemeinwohlgrund durchzusetzen, noch ist eine “Kompensation” (Saldierung) aller betroffenen, für und gegen das Vorhaben sprechenden Belange möglich. Für eine Kompensation oder Saldierung der öffentlichen Belange im Sinne einer Bevorzugung des einen Belanges unter Zurücksetzung anderer Belange läßt das Gesetz bei der Anwendung des § 31 Abs 2 BBauG so wenig Raum wie bei der Anwendung des § 35 BBauG (vgl Urteil vom 16. Februar 1973 – BVerwG IV C 61.70 – BVerwGE 42, 8 (15/16)) und des § 34 BBauG (Urteil vom 26. Mai 1978 – BVerwG 4 C 9.76 -). Eine solche Saldierung widerstreitender Belange würde eine Abwägung im Sinne des § 1 Abs 7 BBauG 1976 voraussetzen. Eine derartige Abwägung ist gekennzeichnet durch die Gewichtung der einzelnen Belange und durch ihren – zur Gewichtigkeit der einzelnen Belange nicht außer Verhältnis stehenden – Ausgleich (Urteil vom 5. Juli 1974 – BVerwG IV C 50.72 – aaO (S 314ff) unter Hinweis auf das Urteil vom 12. Dezember 1969 – BVerwG IV C 105.66 – BVerwGE 34, 301). Sie erfordert notwendig den Einsatz einer spezifisch planerischen Gestaltungsfreiheit (vgl insbesondere Urteil vom 12. Dezember 1969 aaO S 309f). Eine derartige “planerische” Abwägung kann nach dem System des Bundesbaugesetzes nicht im Zuge einer von der Baugenehmigungsbehörde auszusprechenden Befreiung vorgenommen werden.“

II.

Die erteilte Baugenehmigung regelt die Errichtung und den Betrieb der Einrichtung mit einer Belegung mit 252 Personen in einer Weise, dass eigene Rechte der Antragsteller zu 5) bis 7) nicht verletzt werden. Weder können die Antragsteller zu 5) bis 7) einen Gebietserhaltungsanspruch bzw. Gebietsprägungserhaltungsanspruch geltend machen (hierzu unter 1.), noch verstößt die Baugenehmigung in Bezug auf die Antragsteller zu 5) bis 7) gegen das Rücksichtnahmegebot (hierzu unter 2.).

1. Die Verletzung eines Gebietserhaltungsanspruchs der Antragsteller zu 5) bis 7) scheitert bereits daran, dass die im Eigentum dieser Antragsteller stehenden Grundstücke nicht in demselben Baugebiet wie das Vorhabengrundstück belegen sind, sondern in dem Geltungsbereich eines anderen Plans, nämlich des Baustufenplans Lemsahl-Mellingstedt (vgl.o.).

Auch für das Bestehen eines sogenannten gebietsübergreifenden Gebietserhaltungsanspruchs der Antragsteller zu 5) bis 7) ist nichts erkennbar. Einem außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs eines Bebauungsplans, in welchem das umstrittene Vorhaben verwirklicht werden soll, ansässigen Nachbarn kommt im Grundsatz kraft Bundesrechts kein Gebietserhaltungsanspruch zu, da das „planungsrechtliche Austauschverhältnis“ begriffsnotwendig nur für die im Planungsverband zusammengeschlossenen Grundeigentümer in Frage kommt (BVerwG, Beschluss vom 18.12.2007, 4 B 55/07, juris, Leitsatz 1). Das gilt auch für unmittelbar angrenzende, in einem anderen Bebauungsplangebiet liegende Grundstücke; wenn – wie vorliegend – zwischen den am Nachbarstreit beteiligten Grundstücken die Grenze der Bebauungspläne verläuft, steht dem außerhalb des Bebauungsplanes Ansässigen bundesrechtlich allenfalls der Schutz aus dem Rücksichtnahmegebot zu (so ausdr. Siegmund, in: Spannowsky/Uechtritz, BeckOK BauGB, 31. Ed., Stand: 10/2015, § 31, Rn. 78). Ein gebietsübergreifender Schutz eines Nachbarn vor gebietsfremden Nutzungen wäre m.a.W. nicht bundesrechtlich vorgegeben, sondern müsste durch den Bebauungsplan, der für das Vorhabengrundstück gilt, begründet werden. Dies setzt den erkennbaren Willen des Plangebers voraus, dass Gebietsausweisungen in einem Bebauungsplan auch dem Schutz der jenseits der Gebietsgrenze liegenden benachbarten Bebauung dienen sollen (vgl. VG Hamburg, Beschluss vom 13.9.2013, 9 E 3452/13, juris, Leitsatz 1 und Rn. 16; BVerwG, Urteil vom 14.12.1973, IV C 71.71, juris, Rn. 28; OVG Koblenz, Beschluss vom 2.7.2013, 1 B 10480/13, juris, Rn. 9). Dies ist vorliegend hinsichtlich der Festsetzungen des Bebauungsplans Lemsahl-Mellingstedt 19 zur Art der baulichen Nutzung in Bezug auf die Grundstücke der Antragsteller zu 5) bis 7) nicht anzunehmen. Anlass der Festsetzung der Art der baulichen Nutzung des Plangebiets – insbesondere des jetzigen Vorhabengrundstücks – als reines Wohngebiet war – wie ausgeführt – die von dem Plangeber beabsichtigte Schaffung zusätzlichen Wohnraums insbesondere für Familien mit sichergestellter entsprechender Wohnruhe (vgl. S. 24 der Planbegründung). Der Umstand, dass auch südlich des XY, dem Baustufenplan entsprechend, reine Wohnnutzung den Bestand prägt, hat den Plangeber des Bebauungsplans Lemsahl-Mellingstedt 19 zwar in seiner auf den Schutz von Wohnruhe und aufgelockerter Bebauung zielenden Konzeption bestätigt (bzw. diese mit begründet), ihn jedoch nicht erkennbar dazu bewegt, die Schutzwirkung der „WR”-Ausweisung auch auf die Flächen jenseits der Plangebietsgrenzen auszuweiten. Die Planbegründung spricht insofern zwar auch von einem Planungsziel, eine für die angrenzende Wohnnutzung verträgliche Nutzung zu gewährleisten (S. 24 der Planbegründung). Hieraus folgt aber nicht, dass – über allgemein städtebauliche Erwägungen hinaus (vgl. auch § 50 BImSchG) – die Eigentümer dort belegener Grundstücke auch einen Anspruch auf Einhaltung des Gebietscharakters der Planflächen als reines Wohngebiet erhalten sollten. Schon objektiv-rechtlich wäre im Übrigen insoweit u.a. ein Nebeneinander von reinem und allgemeinem Wohngebiet zulässig, d.h. würde die genannten Anforderungen erfüllen.

Ebenso wenig steht den Antragstellern zu 5) bis 7) der sog. Gebietsprägungserhaltungsanspruch i.S.d. § 15 Abs.1 Satz 1 BauNVO zu. Auch dieser Anspruch kann lediglich von Nachbarn geltend gemacht werden, deren Grundstücke in demselben Plangebiet belegen sind wie das Vorhabengrundstück (vgl. Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 118. EL., Stand: 8/2015, § 15 BauNVO, Rn. 37 unter Hinweis auf BVerwG, Beschluss vom 18.12.2007, 4 B 55/07, juris, Leitsatz 1).

2. Nach derzeitigem Erkenntnisstand ist in Bezug auf das genehmigte, eine Belegung mit 252 Personen betreffende Vorhaben nicht von einer Verletzung des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebots zulasten der Antragsteller zu 5) bis 7) auszugehen.

Allgemeine, einheitliche Maßstäbe für die gebotene Rücksichtnahme bestehen nicht; welche konkreten Anforderungen sich aus dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme ergeben, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Nachbarn ist, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen; je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht der Bauherr Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist m.a.W. darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.11.2004, 4 C 1/04, juris; Urteil vom 25.1.2007, 4 C 1/06, BVerwGE 128, 118 ff.). Die Schutzwürdigkeit des Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung, die Interessen des Bauherrn und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder unzumutbar ist, sind gegeneinander abzuwägen. Feste Regeln lassen sich dabei nicht aufstellen; erforderlich ist vielmehr eine Gesamtschau, insbesondere der von dem Vorhaben ausgehenden Beeinträchtigungen. Für die Bewertung der widerstreitenden Belange im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung ist auch zu berücksichtigen, dass im Falle eines planwidrigen und daher einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 bzw. § 246 Abs. 12 BauGB bedürftigen Vorhabens den Belangen des Vorhabenträgers tendenziell ein geringeres Gewicht beizumessen ist als bei der Beurteilung eines plankonformen Vorhabens (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 28.7.2009, 2 Bs 67/09, juris m.w.N.). Insoweit kommt es auf eine Drittschutzwirkung der fraglichen Planfestsetzung nicht an und ist vorliegend im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, dass die geplante Unterkunft insbesondere der Festsetzung des Bebauungsplans Lemsahl-Mellingstedt 19 hinsichtlich der auf der Vorhabenfläche zulässigen Nutzungsart widerspricht.

Auch vor diesem Hintergrund ist indes im Falle einer Umsetzung der streitgegenständlichen Baugenehmigung nicht von einer unzumutbaren Belastung der Antragsteller zu 5) bis 7) auszugehen und zwar – im maßgeblichen Betrachtungsrahmen (dazu a) – weder im Hinblick auf die von ihnen geltend gemachte Lärmbelästigung (hierzu unter b) noch im Hinblick auf die geltend gemachten Verkehrsauswirkungen bzw. sonstige Unruhe (hierzu unter c) oder aufgrund einer Gesamtabwägung sämtlicher zu berücksichtigender Aspekte (hierzu unter d).

a) Dem Vortrag der Antragsteller, die Rücksichtslosigkeit ergebe sich auch aus einer Minderung des Marktwertes ihrer Grundstücke aufgrund des Vorhabens, ist dabei nicht näher nachzugehen. Nach ständiger Rechtsprechung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts (vgl. etwa Urteil vom 6.5.2015, 2 Bf 2/12) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Beschluss vom 11.1.1999, Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 159) bezieht sich der bauplanungsrechtliche Abwehranspruch aufgrund von Rücksichtslosigkeit im Rechtssinne maßgeblich auf Nutzungsstörungen. Wertminderungen als Folge der Ausnutzung der einem Dritten erteilten Baugenehmigung bilden demgegenüber für sich genommen keinen Maßstab dafür, ob Beeinträchtigungen im Sinn des Rücksichtnahmegebots zumutbar sind oder nicht.

Soweit die Antragsteller ihren Vortrag auf die Erwartung beziehen, dass sie durch eine Mitnutzung der südlich der Straße XY und nordwestlich der Straße XYZ belegenen großen Freifläche (Flurstück 2385) durch Personen aus der geplanten Anlage gestört werden, ist nicht dargelegt, weshalb dies derzeit in die Betrachtung der Rücksichtslosigkeit der Baugenehmigung einzustellen wäre. Eine Nutzung dieser Fläche wird durch die streitgegenständliche Baugenehmigung weder vorgesehen noch legalisiert. Sie ist auch nicht in anderer Weise der geplanten Einrichtung erkennbar zugeordnet. Solange es sich um eine bloße Grünfläche handelt, die zudem nicht frei zugänglich ist, ist auch eine faktische Zuordnung nicht anzunehmen. Sollte die Antragsgegnerin hier eine Sportanlage einrichten, so wären deren Betriebsbedingungen gesondert zu regeln.

Nicht zu folgen ist schließlich dem Ansatz der Antragsteller, im Wesentlichen auf Auswirkungen einer kapazitätsausschöpfenden Nutzung der Anlage abzustellen. Im vorliegenden Rechtsstreit ist nicht bereits über die von ihnen geltend gemachte Rücksichtslosigkeit einer Anlagennutzung durch 952 Personen zu befinden. Insoweit hat die Antragsgegnerin zutreffend darauf hingewiesen, dass schon der Baugenehmigungsbescheid (unter 4., Seite 4 oben) die Beschränkung seiner Regelungswirkung mit dem Hinweis unmissverständlich klarstellt, dass es für eine Nutzung der Einrichtung mit mehr als 252 Personen eines gesonderten Genehmigungsverfahrens bedürfte.

b) Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass mit der genehmigten Anlage in ihrer konkreten Form eine unzumutbare Lärmbelastung der Antragsteller verbunden wäre, sind nicht erkennbar. Die Schwelle der Rücksichtslosigkeit im bauplanungsrechtlichen Sinne überschreiten Lärmimmissionen (erst) dann, wenn sie das Maß schädlicher Umwelteinwirkungen im Sinne von §§ 3 Abs. 1, 22 Abs. 1 BImSchG erreicht haben. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Betrieb der Einrichtung mit 252 Personen dies zur Folge haben wird. Vielmehr trifft die Baugenehmigung insoweit eine sachgerechte Regelung zur Konfliktbewältigung (aa), die auch in Bezug auf die Antragsteller zu 5) bis 7) zu beachten ist (bb) und deren Umsetzbarkeit im Betrieb der Einrichtung möglich erscheint (cc).

aa) Die Baugenehmigung sieht eine Immissionsbegrenzung vor, mit der eine rücksichtslose Lärmbelastung der Nachbargrundstücke vermieden wird. Ausweislich der Auflagen unter Nr. 8 der streitgegenständlichen Baugenehmigung soll insbesondere die Beurteilung der von der umstrittenen Anlage einschließlich aller Nebenanlagen erzeugten Geräusche nach der TA Lärm erfolgen und werden für die im reinen Wohngebiet verursachten Geräuschimmissionen die Immissionsrichtwerte nach Nr. 6 Abs. 1 Buchst. e TA Lärm für reine Wohngebiete als Grenzwerte festgelegt. Zusätzlich hierzu müssen Verdichter von Klima- und Kühlaggregaten so im Gebäude untergebracht sein, dass der Schall nicht ungedämmt nach außen dringt. Gefordert wird schließlich, dass die Geräuschentwicklung der Kantine einschließlich ihres Zu- und Abfahrtsverkehrs nicht zu einer unzulässigen Lärmbelästigung führen darf.

Die Baugenehmigung leistet damit die gebotene Konfliktbewältigung; sie schließt die Regelungslücke hinsichtlich der Bestimmung des Maßes schädlicher Umwelteinwirkungen, die immissionsschutzrechtlich zunächst dadurch besteht, dass die Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm) nach ihrer Nr. 1 Abs. 2 Buchst. h auf Anlagen für soziale Zwecke nicht (unmittelbar) anwendbar ist. Insbesondere dadurch, dass die Baugenehmigung das Vorhaben in Bezug auf die Nachbarschaft auf die Einhaltung derjenigen Grenzwerte verpflichtet, die bei unmittelbarer Anwendung der TA Lärm gemäß deren Nr. 6 Abs. 1 Buchst. e) in reinen Wohngebieten als Richtwert das Maß für den Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen vorgeben, wird das Rücksichtnahmegebot gegenüber den Nachbarn gewahrt.

bb) Mit den Bestimmungen zum Lärmschutz wird auch auf die Antragsteller zu 5) bis 7) Rücksicht genommen. Auch sie werden von der Bestimmung erfasst, dass für die im reinen Wohngebiet verursachten Geräuschimmissionen die genannten Grenzwerte einzuhalten sind. Zwar sind ihre Grundstücke nicht durch einen Bebauungsplan mit „WR” ausgewiesen, sondern durch den Baustufenplan mit „W 1o”, allerdings ergänzt durch weitere Einschränkungen zu Lasten möglicherweise störender Nutzungen als „besonders geschützt”. Die Auflage ist vor diesem Hintergrund dahin zu verstehen, dass es auf die materielle bauplanungsrechtliche Situation ankommt und nicht auf die formale Ausweisung, welche ansonsten mit „WR” zu bezeichnen gewesen wäre. In der bauplanungsrechtlich materiellen Bewertung sind die Grundstücke der Antragsteller zu 5) bis 7) wegen der Bestimmungen zu ihrem besonderen Schutz in dem Baustufenplan als im Sinne der Immissionsschutzauflage in einem „reinen Wohngebiet” belegen zu verstehen. Dies ergibt sich aus der gebotenen und in der Praxis der Antragsgegnerin auch üblichen Parallelwertung zwischen der Systematik der Baupolizeiverordnung und derjenigen der Baunutzungsverordnung (vgl. u.a. OVG Hamburg, Beschluss vom 28.11.2012, 2 Bs 210/12, NVwZ-RR 2013, 352).

cc) Die Bestimmungen zum Immissionsschutz erscheinen auch zur Konfliktbewältigung geeignet; ihre Einhaltung dürfte möglich sein.

Nach dem Grundriss der Gesamtanlage, der vermittels des einbezogenen Lageplans (Vorlage Nr. 7/21) Gegenstand der Baugenehmigung ist, sind die einzelnen Baulichkeiten sowie die für den Aufenthalt erheblichen Außenflächen so angeordnet, dass Lärmquellen sich im Wesentlichen in erheblichem Abstand zu den Grundstücken der Antragsteller zu 5) bis 7) befinden: So sind die Gebäude, die zur Unterbringung von Personen genutzt werden, um die Gebäude herum angeordnet, in welchen Nutzungen wie Kantine, Schule oder Kindertagesstätte stattfinden sollen. Die Unterbringungsgebäude stehen dabei in einem Winkel von ca. 45° zur Straße XY. Hierdurch ergibt sich innerhalb des Ringes aus Unterbringungsgebäuden im mittleren Teil des Vorhabengrundstücks eine insbesondere zur Straße XY hin durch die Unterbringungsgebäude abgeschirmte Fläche. Zumal auf dieser Fläche auch die für das soziale Leben der Bewohner wichtigen Gebäude aufgestellt werden (Kantine, Schule, Kindertagesstätte), ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass auch die im Freien stattfindenden Aktivitäten der Bewohner in der wärmeren Jahreszeit sich vor allem auf diese Fläche innerhalb der Einrichtung konzentrieren werden. Dass nennenswert laute Aktivitäten auch auf den Flächen zwischen den Unterbringungsgebäuden und der Zaunanlage zu der Straße XY stattfinden werden, erscheint demgegenüber wenig wahrscheinlich, da diese Flächen vergleichsweise klein sind. Lautstarke Aktivitäten, die auf der – von den Grundstücken der Antragsteller jeweils gut 100 m entfernten – Fläche im Inneren der Einrichtung stattfinden, werden dabei außerdem nicht nur durch die Unterbringungsgebäude zur Straße XY und damit zu den Grundstücken der Antragsteller zu 5) bis 7) hin abgeschirmt, sondern auch durch den zwischen den Gebäuden und der Straße XY befindlichen Grünstreifen, welcher ca. 20 m breit und dicht mit Bäumen bestanden ist und lediglich durch die vergleichsweise schmale Zufahrt zum Einrichtungsgelände unterbrochen wird.

Unter Beachtung der Weitläufigkeit des Geländes sowie der geringen Belegungsdichte bei Nutzung mit 252 Personen ist vorliegend der Frage nicht weiter nachzugehen, ob durch die Baugenehmigung die zur Wahrung der Lärmgrenzwerte erforderlichen Modalitäten der Nutzung auch durch die Untergebrachten selbst hinreichend gesichert sind. Zwar ergibt sich aus der in dem Verfahren 7 E 6128/15 von der Antragsgegnerin informatorisch vorgelegten Hausordnung, die der künftige Betreiber verwenden wolle, dass die Einhaltung der Nachtruhe eingefordert werden soll. Diese Hausordnung ist jedoch weder in die Baugenehmigung einbezogen worden noch scheint – bei Betriebszeiten des allgemeinen Personals von 7:00 bis 16:00 Uhr und einer Besetzung des Wachtdienstes mit lediglich vier Personen (vgl. Nutzungsbeschreibung, Vorlage Nr. 7/20) – ihre Einhaltung strukturell abgesichert.

Insbesondere für das nahe der Einfahrt zu der Anlage gelegene Grundstück der Antragstellerin zu 7) bleibt allerdings der Lärm durch Ziel- und Quellverkehr mit Kraftfahrzeugen von Bedeutung. Im Tagesbetrieb der Einrichtung für 252 Personen dürfte es insoweit möglich sein, den Immissionsgrenzwert einzuhalten, zumal zu erwarten ist, dass einer im Vergleich zu einer plangemäßen Bebauung des Flurstücks möglicherweise erhöhten Belastung durch Lieferfahrzeuge eine geringere Belastung durch Individualverkehr gegenübersteht. Für Randzeiten trifft die Baugenehmigung die gebotene Vorsorge im Hinblick darauf, dass die Betriebsabläufe bzw. -zeiten nur teilweise über die Nutzungsbeschreibung (Vorlage Nr. 7/20) definiert sind: So ist gemäß Auflage Nr. 8 die Einhaltung der Lärmgrenzwerte mittels schalltechnischer Untersuchung nachzuweisen, wenn die Anliefer- oder Betriebszeit der Kantine in die Nachtzeit (22.00 Uhr bis 6.00 Uhr, vgl. Nr. 6.4 Abs. 1 TA Lärm) fallen soll.

c) Die – neben der Lärmproblematik – geltend gemachten weiteren Verkehrsauswirkungen bzw. die angeführte sonstige „Unruhe” begründen ebenfalls nicht die Annahme, die Antragsteller zu 5) bis 7) würden durch das genehmigte Vorhaben in ihren Belangen übermäßig betroffen.

Im Hinblick auf eine mögliche Verschlechterung der Stellplatzsituation ist nicht von einer Unzumutbarkeit der Einrichtung im Sinne eines Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot zulasten der Antragsteller zu 5) bis 7) auszugehen. Zwar kann im Einzelfall die Genehmigung eines Vorhabens ohne die erforderlichen Stellplätze gegen das Rücksichtnahmegebot verstoßen; dies kommt allerdings nur dann näher in Betracht, wenn der Mangel an Stellplätzen zu Beeinträchtigungen führt, die den Nachbarn – auch unter Berücksichtigung einer Vorbelastung ihrer Grundstücke – bei Abwägung aller Umstände unzumutbar sind (OVG Schleswig, Beschluss vom 8.12.2014, 8 B 37/14, juris, Leitsatz 4, Rn. 23; vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 12.5.2003, 9 TG 2037/02, juris; OVG Bremen, Beschluss vom 18.10.2002, 1 B 315/02, BauR 2003, 509; OVG Münster, Urteil vom 10.07.1998, 11 A 7238/95, NVwZ-RR 1999, 365). Hiervon ist für die Grundstücke der Antragsteller zu 5) bis 7) vorliegend nicht auszugehen. Eine Verschlechterung der Situation dahingehend, dass sie selbst keine Möglichkeit mehr hätten, in ihrem Eigentum stehende Fahrzeuge in zumutbarer Weise abzustellen, ist nicht zu befürchten. Bei den Grundstücken der Antragsteller zu 5) bis 7) handelt es sich nach Auswertung des zugänglichen Luftbildmaterials um Einfamilienhausgrundstücke mit auf den Grundstücken befindlichen eigenen Stellplätzen, die bei Inbetriebnahme der Einrichtung weiter genutzt werden könnten. Auch eine sonstige, den Antragstellern zu 5) bis 7) unzumutbare Inanspruchnahme des öffentlichen Straßenraums aufgrund einer Überzahl dort abgestellter, dem Betrieb der geplanten Einrichtung zurechenbarer Fahrzeuge ist nicht zu befürchten. Da die Anlage ausweislich der streitgegenständlichen Baugenehmigung über 14 ausgewiesene Stellplätze verfügen soll (Vorlage Nr. 7/21) und zudem weitläufig genug ist, um Fläche für weitere Abstellbedarfe zu bieten, zeichnet sich eine in dem Betrieb der Einrichtung angelegte Überlastung des Straßenraums im XY nicht ab. Das gilt sowohl für die Parkbedarfe des regelhaft auf dem Gelände tätigen Personals (des Betreuers, des Caterers sowie des Wachdienstes) wie auch den unmittelbar mit den Nutzern zusammenhängenden Kraftfahrzeugverkehr (im Wesentlichen Busse bzw. Kleinbusse) bzw. sonstiger Besucher (insbesondere Handwerker, Lieferanten). Dabei ist zu erwarten, dass Anlieferungs- oder Abholungsvorgänge nicht auf der Straße XY stattfinden, sondern auf dem Gelände der Einrichtung selbst. Die Fahrer von Lieferanten- oder Entsorgungsfahrzeugen werden schon aufgrund der Verkürzung von Tragewegen ein erhebliches Interesse daran haben, mit ihren Fahrzeugen auf das Gelände der Einrichtung zu fahren und nicht auf der Straße davor halten zu müssen. Die Nutzer der Erstaufnahmeeinrichtung selbst werden, möglicherweise im Unterschied zu Nutzern von Folgeunterkünften, in aller Regel nicht über Kraftfahrzeuge verfügen. Schließlich werden auch Busse, die eine größere Anzahl Bewohner zur Einrichtung transportieren oder diese dort abholen, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht längerfristig vor der Einrichtung parken, sondern nach Möglichkeit auf das Gelände der Einrichtung fahren.

Dieser Einschätzung steht auch die von den Antragstellern in diesem Zusammenhang in Bezug genommene Rechtsprechung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts sowie des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nicht entgegen. Weder hat das Hamburgische Oberverwaltungsgericht (in dem Beschluss vom 28.5.2015, 2 Bs 23/15, juris, Rn. 43) einen für Erstaufnahmeeinrichtungen in Hamburg maßgeblichen Stellplatzschlüssel dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vom 13.9.2012, 2 B 12.109, juris) entnommen, noch wird mit jenem Urteil zu einer Erstaufnahmeeinrichtung eine Aussage zugunsten eines strikten Stellplatzschlüssels für Anlagen zur Unterbringung von Asylbewerbern von einem Stellplatz pro zehn Betten getroffen. Erkennbar ist dort nur, dass bei einem solchen Schlüssel nicht von einer Überbelegung der Einrichtung auszugehen sein soll (VGH München, aaO., Rn. 42).

Aus der Fachanweisung „Notwendige Stellplätze und notwendige Fahrradplätze“ vom 21.1.2013 sowie der Anlage 1 hierzu folgt nichts anderes. Gemäß Nr. 1.6 der Anlage 1 ist zwar für Heime und sonstige Einrichtungen zur Unterbringung oder Pflege von Personen (z.B. sozialtherapeutische Einrichtungen) je zehn Betten ein Stellplatz vorzuhalten. Schon allgemein ergibt sich hieraus aber nicht, dass eine Unterschreitung dieses Schlüssels stets und ohne weitere Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles zu einer unzumutbaren Situation für benachbarte Grundstücke im Sinne einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots führen müsste. Die tatsächlichen Gegebenheiten des hier zu betrachtenden Falles lassen – wie ausgeführt – nicht auf eine unzumutbare Belastung der Antragsteller zu 5) bis 7) durch eine Verschlechterung der Stellplatzsituation schließen. Ohnehin ist nicht erkennbar, dass eine Anwendung von Nr. 1.6 der Anlage 1 zur Fachanweisung vom 21.1.2013 für Einrichtungen wie die hier in Rede stehende der sonstigen Praxis der Antragsgegnerin entsprechen würde bzw. überhaupt sachgerecht wäre, da hinsichtlich der Verkehrsverhältnisse wesentliche Unterschiede bestehen dürften. Unter dem Begriff „Heim“ werden schon dem allgemeinen Sprachgebrauch nach vorrangig personalintensive Einrichtungen zur Pflege unterstützungsbedürftiger Personen verstanden, worauf auch die beispielhafte Nennung sozialtherapeutischer Einrichtungen in Nr. 1.6 der Anlage 1 schließen lässt. So definiert auch § 1 HeimG den Begriff „Heim“ als Einrichtung, die dem Zweck dient, ältere Menschen oder pflegebedürftige oder behinderte Volljährige u.a. aufzunehmen. Beschrieben werden damit Einrichtungen, mit denen regelhaft erhebliche Stellplatzbedarfe sowohl für das Personal wie auch für Besucher verbunden sind. Für Erstaufnahmeeinrichtungen kommt demgegenüber kaum Besucherverkehr in Betracht; der Personalschlüssel dürfte zudem deutlich geringer als bei einem Heim sein.

Die anzunehmenden tatsächlichen Gegebenheiten lassen nicht auf eine Unzumutbarkeit der Verkehrsbelastungen schließen. Insbesondere ist nicht davon auszugehen, dass gewerblicher Verkehr zeitlich außerhalb des allgemein üblichen Rahmens stattfindet. Das gilt für Versorgungstransporte wie für die Fahrten von Dienstleistern. Auch der Transport von Bewohnern zur bzw. von der Einrichtung wird sich aller Voraussicht nach auf wenige Fahrten am Tag beschränken. Neue Bewohner werden in der Regel nicht einzeln zu den Einrichtungen transportiert, denen sie zugewiesen sind, sondern durch Sammeltransporte mit Bussen, welche – schon mit Rücksicht auf die Lärmschutzverpflichtungen, aber auch im Hinblick auf die Dienstzeiten des Personals in den beteiligten Einrichtungen – in aller Regel tagsüber stattfinden dürften. Der Verkehr zur Abholung von Abfällen wird aufgrund der üblichen Arbeitszeiten solcher Betriebe ebenfalls vermutlich weitgehend tagsüber stattfinden und wohl insgesamt, d.h. in Bezug auf die Situation rund um den Eingangsbereich zu dem Einrichtungsgelände auch das Maß nicht wesentlich übersteigen, das bei Umsetzung des Bebauungsplans Lemsahl-Mellingstedt 19 erreicht würde. Auch in diesem Falle wäre in etwa mit einer „Belegung“ des Vorhabengrundstücks mit ca. 250 Personen zu rechnen gewesen (vgl. VG Hamburg, Beschluss vom 15.12.2015, 7 E 6128/15, S. 15 f.), die als Besitzer von Familienheimen ebenfalls Dienstleistungen wie Müllabfuhr, Handwerker etc. in Anspruch genommen hätten.

Soweit der Vortrag der Antragsteller zu 5) bis 7) zu der mit der Einrichtung verbundenen „Unruhe” dahin zu verstehen ist, dass sie über die Verkehrsbelastungen hinaus weitere Formen sozialer Umfeldauswirkungen der Einrichtung von unzumutbarer Intensität für ihre Grundstücke erwarten, erscheint auch dies nach dem Erkenntnisstand des Eilverfahrens nicht gerechtfertigt. So gilt schon grundsätzlich, dass negative soziale Umfeldauswirkungen einer bestimmten Grundstücksnutzung nur dann als unzumutbare, bodenrechtlich erhebliche Beeinträchtigung im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO in Betracht kommen, wenn sie zum einen mit dem bestimmungsgemäßen Betrieb einer Anlage der fraglichen Art typischerweise verbunden sind und zum anderen eine konkrete räumliche Wirkungsbeziehung zum betreffenden Nachbargrundstück aufweisen (vgl. VG Hamburg, Beschluss vom 6.11.2015, 7 E 5650/15 und Beschluss vom 19.1.2015, 7 E 5893/14 m.w.N.; VG Düsseldorf, Urteil vom 4.4.2011, 25 K 5561/10, juris).

Hinsichtlich der Grundstücke der Antragsteller zu 5) bis 7) ist nicht davon auszugehen, dass die genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Zwar weisen – im Sinne des den Antragstellern zu 5) bis 7) nicht zustehenden Gebietserhaltungsanspruchs – Einrichtungen wie die vorliegend zu betrachtende bei typisierender Betrachtung Eigenschaften auf, die eine im reinen Wohngebiet unzulässige Unruhe erzeugen können. Eine konkrete, im Sinne unzumutbarer Einwirkungen auf die Grundstücke gerade der Antragsteller zu 5) bis 7) bestehende Wirkungsbeziehung ist jedoch nach den gegenwärtig erkennbaren Umständen nicht feststellbar. Insbesondere spricht entgegen der Annahme der Antragsteller zu 5) bis 7) wenig dafür, dass die Vorgärten ihrer Grundstücke von Nutzern der Einrichtung unbefugt in Anspruch genommen werden. Die Gestaltung der Einrichtung, der Umzäunung, der Toranlage sowie die weiteren Gegebenheiten in der Straße XY und Umgebung sind insbesondere nicht darauf angelegt, dass sich vor der Anlage erhebliche, gar die Zugänglichkeit der antragstellerischen Grundstücke einschränkenden Menschenansammlungen bilden würden. Wesentlicher Aufenthaltsraum ist vielmehr das Einrichtungsgelände selbst und der Ziel- und Quellverkehr von Fußgängern dürfte sich auf den kürzesten WEG zu den Bushaltestellen an der Lemsahler Landstraße konzentrieren.

d) Eine Gesamtbetrachtung der verschiedenen von den Antragstellern geltend gemachten, vorangehend jeweils für sich gewürdigten Beeinträchtigungen führt zu keinem anderen Ergebnis; auch in der Gesamtgewichtung sind die absehbaren Auswirkungen des genehmigten Vorhabens nicht als unzumutbar zu bewerten. Dementsprechend bedarf es hier auch keiner näheren Erörterung, ob, den Rücksichtnahmeanspruch der Nachbarn mindernd, in die Belange des Bauherrn abstrakt das öffentliche Interesse an einer weiteren Einrichtung zur Erstaufnahme von Asylbewerbern und Flüchtlingen iSv. § 44 AsylG einzustellen oder die Erforderlichkeit einer Neuerrichtung in dem konkreten tatsächlichen und rechtlichen Rahmen der Antragsgegnerin näher zu prüfen wäre.

C.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 VwGO i.V.m. § 100 ZPO und berücksichtigt, dass nur die Antragsteller zu 1) bis 4) mit ihrem Antrag Erfolg haben.

D.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG und folgt der Rechtsprechung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts zu der Bewertung baunachbarrechtlicher Rechtsschutzanliegen.