Ax Vergaberecht

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Nachgefragt bei Thomas Ax (2) – Trägt der Bieter das Übermittlungsrisiko?

Nachgefragt bei Thomas Ax (2) - Trägt der Bieter das Übermittlungsrisiko?

Der Bieter trägt das Risiko der Übermittlung und des rechtzeitigen und vollständigen Eingangs seines Angebots. Es ist seine Sache dafür zu sorgen, dass sein Angebot vollständig innerhalb der Angebotsfrist beim öffentlichen Auftraggeber eingeht. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn der Bieter den verspäteten Eingang nicht zu vertreten hat. Nicht zu vertreten hat der Bieter Zugangshindernisse aus der Risikosphäre des Auftraggebers. Angebote, die nicht fristgerecht eingegangen sind, sind grundsätzlich von der Wertung auszuschließen.

OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17.08.2022 – Verg 54/21

Nachgefragt bei Thomas Ax (1) – Wie muss der Bieter Interesse am Auftrag bei Geltendmachung angebotshindernder Vergaberechtsverstöße im Falle einer Direktvergabe darlegen?

Nachgefragt bei Thomas Ax (1) - Wie muss der Bieter Interesse am Auftrag bei Geltendmachung angebotshindernder Vergaberechtsverstöße im Falle einer Direktvergabe darlegen?

Ein Interesse am konkret ausgeschriebenen Auftrag (§ 160 Abs. 2 GWB) ist bei Geltendmachung angebotshindernder Vergaberechtsverstöße im Falle einer Direktvergabe grundsätzlich für jedes Unternehmen anzunehmen, das sich am Vergabeverfahren hätte beteiligen können. Dazu reicht es in der Regel aus, wenn das Unternehmen zu der in Betracht kommenden Branche gehört und damit generell dafür eingerichtet ist, Aufträge dieser Art auszuführen. Andererseits bedarf es eines objektiv feststellbaren wirtschaftlichen Interesses des antragstellenden Unternehmens gerade an dem konkreten Auftrag, eine bloße Interessenbekundung genügt nicht. Das Interesse am konkreten Auftrag ist zu plausibilisieren, wenn hieran ernsthafte Zweifel bestehen.

OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17.08.2022 – Verg 53/21

BGH: Werden vorgegebene elektronische Mittel bei der Einreichung des Angebots nicht verwendet, ist das Angebot nicht formgerecht übermittelt und gem. § 16 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A 2016 auszuschließen

VergMan ® für Bieter – Erfüllung der Rügeobliegenheit (2) Erkannter Verstoß gegen Vergabevorschriften muss gegenüber dem Auftraggeber innerhalb einer Frist von zehn Kalendertagen gerügt werden

vorgestellt von Thomas Ax

Der Auftraggeber kann gem. § 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 VOB/A 2016 festlegen, welche elektronischen Mittel (§§ 11, 11a VOB/A 2016) bei der Einreichung von elektronischen Angeboten zu verwenden sind. Werden vorgegebene elektronische Mittel bei der Einreichung des Angebots nicht verwendet, ist das Angebot nicht formgerecht übermittelt und gem. § 16 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A 2016 auszuschließen.

BGH, Urteil vom 16.05.2023 – XIII ZR 14/21

Tatbestand:

Die Klägerin, ein auf Abbruch und Sanierungsarbeiten spezialisiertes Bauunternehmen, macht gegen den beklagten landeseigenen Betrieb Ansprüche auf Ersatz entgangenen Gewinns wegen fehlerhafter Durchführung eines Vergabeverfahrens geltend.

Am 7. Februar 2019 machte der Beklagte eine öffentliche Ausschreibung nach Abschnitt 1 der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen, Teil A (nachfolgend: VOB/A 2016) bekannt. Zuvor hatte eine Kostenberechnung eine Auftragssumme von 136.950 Euro netto für den zu vergebenden Auftrag ergeben. In der Bekanntmachung heißt es unter “Angaben zum elektronischen Vergabeverfahren und zur Ver- und Entschlüsselung der Unterlagen”:

“Es werden elektronische Angebote akzeptiert: Ohne elektronische Signatur (Textform) (…)”

Gemäß der Aufforderung zur Abgabe eines Angebots (nachfolgend: Vergabeunterlagen) war unter anderem ein Angebotsschreiben wie folgt einzureichen:

“Angebotsschreiben

Teile der Leistungsbeschreibung: Leistungsverzeichnis Leistungsprogramm als GAEB-Datei im Format d.84 oder x.84 Hinweis: Vom [Auftraggeber] wurde eine sog. Auftraggeberlizenz des Softwareprogramms WinGAEB erworben, welche den Bietern kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Damit können Angebot[e] auf elektronischem Weg bearbeitet und gespeichert werden.” [Es folgt ein entsprechender Link].

In Ziffer 7 der Vergabeunterlagen war unter der Überschrift “Angebote können abgegeben werden:” angekreuzt “elektronisch in Textform”.

Die Klägerin gab unter dem 4. März 2019 das günstigste Angebot ab, wobei sie die Angebotsunterlagen jedenfalls im PDF-Format vollständig einreichte. Ob sie das Angebot auch in Form einer GAEB-Datei übermittelt hat, ist zwischen den Parteien streitig. Der Beklagte schloss das Angebot der Klägerin von der Prüfung aus, weil es nicht als GAEB-Datei eingereicht worden sei. Am 12. März 2019 hob er die Ausschreibung auf. Ohne die Klägerin zu beteiligen, schrieb er die Leistungen im formlosen Verhandlungsverfahren neu aus und beauftragte am 12. April 2019 einen Drittunternehmer.

Mit der Klage begehrt die Klägerin Schadensersatz für den ihr entgangenen Auftrag in Höhe von 36.307,31 Euro nebst Rechtsverfolgungskosten und Rechtshängigkeitszinsen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht das Urteil abgeändert und die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte den Antrag auf Abweisung der Klage weiter.

Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung – soweit erheblich – ausgeführt, der Anspruch stehe der Klägerin dem Grunde nach zu. Durch ihre Teilnahme an der Ausschreibung sei ein vorvertragliches Schuldverhältnis begründet worden. Der Beklagte habe durch den Ausschluss des Angebots der Klägerin eine ihr gegenüber bestehende Rücksichtnahmepflicht aus dem Schuldverhältnis verletzt. Die Vergabe richte sich nach Abschnitt 1 der VOB/A 2016. Das Angebot der Klägerin habe nicht nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A 2016 ausgeschlossen werden dürfen. Nach dieser Vorschrift seien unter anderem solche Angebote auszuschließen, die § 13 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A 2016 nicht entsprächen. Danach lege der Auftraggeber fest, in welcher Form die Angebote einzureichen seien. Elektronische Angebote seien nach Wahl des Auftraggebers in Textform oder mit einer bestimmten Signatur zu übermitteln. Im Streitfall habe das Angebot der Klägerin dieser Bestimmung entsprochen. Die unstreitig eingereichten PDF-Dokumente entsprächen der vom Beklagten in Ziffer 7 der Ausschreibungsbedingungen gewählten Textform. Ob die Klägerin das Leistungsverzeichnis darüber hinaus auch als GAEB-Datei eingereicht habe, sei unerheblich. Die diesbezügliche Vorgabe des Beklagten sei keine Festlegung im Sinn von § 13 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A 2016. Die Vorschrift nenne als mögliche Formen nur die Schriftform und die elektronische Form, wobei bezüglich der elektronischen Form nach Wahl des Auftraggebers die Übermittlung in Textform oder mit einer fortgeschrittenen oder qualifizierten elektronischen Signatur vorgesehen seien. Eine darüberhinausgehende Befugnis, bestimmte Dateiformate vorzugeben, lasse sich der Regelung nicht entnehmen. Der Beklagte hätte deshalb die angeblich fehlende Datei nach § 16a Satz 1 VOB/A 2016 nachfordern müssen, was nicht geschehen sei. Infolge der Pflichtverletzung könne die Klägerin Ersatz des Gewinns verlangen, den sie mit der Ausführung des Auftrags erzielt hätte. Die Voraussetzungen dafür lägen vor.

II.

Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Auf der Grundlage der Feststellungen des Berufungsgerichts kann nicht angenommen werden, dass der Klägerin gemäß § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 2, § 241 Abs. 2 BGB ein Schadensersatzanspruch auf Ersatz des Gewinns zusteht, den sie mit der Ausführung des Auftrags erzielt hätte.

1. Zutreffend geht das Berufungsgericht zwar davon aus, dass durch die Teilnahme der Klägerin an der Ausschreibung ein vertragsähnliches Vertrauensverhältnis zustande gekommen ist, das die Parteien zur gegenseitigen Rücksichtnahme verpflichtet und auf beiden Seiten Sorgfaltspflichten begründet, deren Verletzung Schadensersatzansprüche auslösen kann (st. Rspr., siehe nur BGH, Urteile vom 9. Juni 2011 – X ZR 143/10, BGHZ 190, 89 Rn. 9 ff. – Rettungsdienstleistungen II; vom 8. Dezember 2020 – XIII ZR 19/19, BGHZ 228, 15 Rn. 9 f. – Flüchtlingsunterkunft).

2. Das Berufungsgericht hätte auf der festgestellten Tatsachengrundlage aber nicht annehmen dürfen, dass der Beklagte durch den Ausschluss der Klägerin eine sich ihr gegenüber aus § 241 Abs. 2 BGB ergebende Rücksichtnahmepflicht verletzt hat. Es hat offengelassen, ob die Klägerin das Angebot auch als GAEB-Datei eingereicht hat. Da dazu keine Feststellungen getroffen sind, ist im Folgenden zugunsten der Revision zu unterstellen, dass dies nicht erfolgt ist. Auf dieser Grundlage kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Beklagte das Angebot gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 2, § 13 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A 2016 zu Recht nicht berücksichtigt hat.

a) Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kann der Auftraggeber gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 VOB/A 2016 festlegen, welche elektronischen Mittel (§§ 11, 11a VOB/A) bei der Einreichung von elektronischen Angeboten zu verwenden sind.

aa) Gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 VOB/A 2016 legt der Auftraggeber fest, in welcher Form die Angebote einzureichen sind. Elektronische Angebote sind nach Wahl des Auftraggebers in Textform oder mit einer (fortgeschrittenen oder qualifizierten) Signatur zu übermitteln (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 VOB/A 2016), wenn der Auftraggeber gemäß § 11 Abs. 1 VOB/A 2016 die elektronische Kommunikation vorgegeben hat. In diesem Fall übermitteln die Unternehmen nach § 11 Abs. 4 VOB/A 2016 ihre Angebote in Textform mithilfe elektronischer Mittel und versehen sie gegebenenfalls mit der vorgegebenen Signatur (§ 11 Abs. 5 VOB/A 2016).

bb) Der in § 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 VOB/A verwendete Begriff der “Form” lässt entgegen der Ansicht der Klägerin nach seinem Wortlaut die Auslegung dahin zu, dass die Form eines Angebots auch die bei seiner Einreichung zu verwendenden elektronischen Mittel umfasst.

(1) Die “Form” einer Erklärung bezeichnet die Anforderungen an die Art und Weise ihrer Verkörperung und Abgabe. Das Gesetz kennt unter anderem die Schriftform (§ 126 BGB) und ihren Sonderfall, die elektronische Form (§ 126a BGB), ferner Textform (§ 126b BGB), die notarielle Beurkundung (§ 128 BGB) und die öffentliche Beglaubigung (§ 129 BGB). Es sieht ferner eine Vielzahl von besonderen Formen vor wie beispielsweise die gleichzeitige Anwesenheit der Beteiligten zur Niederschrift eines Notars (§§ 1410, 2276 BGB), eine eigenhändig geschriebene und unterschriebene Erklärung (§ 2247 BGB) oder eine mündliche Erklärung vor drei Zeugen (§ 2250 BGB; vgl. Einsele in MüKoBGB, 9. Aufl., § 125 Rn. 2).

(2) Die bei der Abgabe eines Angebots verwendeten elektronischen Mittel bestimmen die Art und Weise der Verkörperung des Angebots und seiner Abgabe.

(a) §§ 11, 11a VOB/A 2016 enthalten für den Unterschwellenbereich keine Definition des Begriffs der elektronischen Mittel, sondern setzen diesen voraus. Zur Ausfüllung des Begriffs kann indes die in § 11 Abs. 1 VOB/A-EU 2016 enthaltene Definition herangezogen werden, weil nach dem Einführungserlass des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zur Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB) 2016 vom 9. September 2016 (B I 7 -81063.6/1) für die Durchführung der elektronischen Kommunikation im Ober- und Unterschwellenbereich übereinstimmende Regelungen gelten sollen. Aus diesem Grund wurden §§ 11, 11a VOB/A-EU 2016 mit wenigen Ausnahmen wörtlich in den ersten Abschnitt der VOB/A 2016 übernommen (ebenda, S. 4).

(b) Danach sind elektronische Mittel Geräte und Programme für die elektronische Datenübermittlung (§ 11 Abs. 1 VOB/A-EU 2016). Eine gleichlautende Definition enthält § 9 Abs. 1 der auf der Grundlage von § 113 GWB erlassenen Vergabeverordnung (nachfolgend: VgV). Beide Regelungen dienen der Umsetzung von Art. 22, Art. 51, 53 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (nachfolgend: Richtlinie 2014/24 oder RL 2014/24; Wichmann in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl., § 9 VgV Rn. 1, § 11 VOB/A-EU Rn. 1; Schranner in Ingenstau/Korbion, VOB, 22. Aufl., § 11a VOB/A-EU Rn. 1, § 11 VOB/A-EU 1 ff., 5 ff.; Brockhoff in Heuvels/ Höß/Kuß/Wagner, Vergaberecht, 2. Aufl., § 9 VgV Rn. 1, § 11 VOB/A-EU Rn. 1, § 11 VOB/A Rn. 1). Schon nach dem Wortlaut umfasst der Begriff der elektronischen Mittel danach auch Softwareprogramme, die der elektronischen Datenübermittlung dienen.

(c) Das ergibt sich auch aus den Erwägungsgründen 52 und 53, Art. 2 Abs. 1 Nr. 13 und Nr. 19 sowie Art. 22 RL 2014/24. Elektronische Mittel sind nach der in Art. 2 Abs. 1 Nr. 19 RL 2014/24 enthaltenen Definition elektronische Geräte für die Verarbeitung (einschließlich digitaler Kompression) und Speicherung von Daten, die über Kabel, per Funk, mit optischen Verfahren oder mit anderen elektromagnetischen Verfahren übertragen, weitergeleitet und empfangen werden. Zwar umfasst diese Definition nicht ausdrücklich auch (Software-) Programme. Nach Art. 2 Abs. 1 Nr. 13 RL 2014/24 zählen zu den Auftragsunterlagen aber auch Formate für die Einreichung von Unterlagen seitens der Bewerber und Bieter. Ferner lässt sich den Erwägungsgründen 52 und 53 sowie Art. 22 Abs. 1 Unterabsatz 2 und Abs. 6 RL 2014/24 klar entnehmen, dass die dort genannten elektronischen Kommunikationsmittel auch spezifische Instrumente, Vorrichtungen, Anwendungen und Dateiformate und damit auch (Software-)Programme umfassen. Denn durch die Vorgaben in Art. 22 RL 2014/24 soll sichergestellt werden, dass es sich bei den zur Einreichung elektronischer Angebote verwendeten elektronischen Kommunikationsmitteln entweder um allgemein verfügbare und von allgemein verfügbaren Anwendungen unterstützte Instrumente, Vorrichtungen und Dateiformate handelt oder der Auftraggeber diese den Bietern zur Verfügung stellt (Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b RL 2014/24). Bei der Umsetzung der Richtlinie 2014/24 durch § 11 Abs. 1 VOB/A-EU 2016 und § 9 Abs. 1 VgV wurde der Hinweis auf die Programme für die Datenübermittlung vor diesem Hintergrund lediglich klarstellend aufgenommen (Müller in Röwekamp/Kus/Marx/ Portz/Prieß, VgV, 2. Aufl., § 9 Rn. 26). Entgegen der Ansicht der Klägerin sind elektronische Mittel im Sinn der Richtlinie 2014/24 daher nicht lediglich Kommunikationsmittel ohne Aussage zur Vorgabe von Dateiformaten.

(3) Elektronische Mittel bestimmen durch die Vorgabe von Dateiformaten die Art und Weise der (äußeren) Verkörperung und der Abgabe und Übermittlung des Angebots. Wenn ein zum Datenaustausch verwendetes Softwareprogramm zur Verkörperung und Übermittlung der Erklärung ein bestimmtes Dateiformat erfordert, beinhaltet die Verwendung des Programms notwendig dieses Dateiformat und legt damit die (äußere) Verkörperung des Angebots und die Art seiner Übermittlung fest (vgl. zu § 46c Abs. 2 Satz 1 ArbGG BAG, Urteil vom 25. August 2022 – 6 AZR 499/21, NJW 2023, 623 Rn. 43 ff. mwN; zu § 130a Abs. 6 ZPO BGH, Urteil vom 19. Januar 2023 – V ZB 28/22, FamRZ 2023, 624 Rn. 20 f.). Unter den Begriff der Form kann daher auch die Vorgabe elektronischer Mittel fallen, ohne dass dies – wie die Klägerin meint – die Wortlautgrenze des § 13 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A überschreiten würde.

cc) § 13 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A 2016 ist nach der systematischen Stellung und dem systematischen Zusammenhang der Vorschrift mit §§ 11, 11a VOB/A 2016 dahin auszulegen, dass die Festlegung des Auftraggebers, in welcher Form die Angebote einzureichen sind, auch die dabei zu verwendenden elektronischen Mittel umfassen darf. Da der Auftraggeber das Recht hat, die bei der Einreichung der Angebote zu verwendenden elektronischen Mittel zu bestimmen, kann er auch die Verwendung der dafür erforderlichen Dateiformate vorgeben.

(1) § 13 VOB/A 2016 fasst die für Form und Inhalt der Angebote geltenden Vorgaben zusammen, wobei die Vorschrift in engem Zusammenhang mit den in § 4 und §§ 7 bis 12 VOB/A 2016 enthaltenen Vorgaben zu den Vertragsarten, der Leistungsbeschreibung, den Vergabeunterlagen und Vertragsbedingungen, den Fristen und Kommunikationswegen sowie der Bekanntmachung steht. Sie ist daher jeweils im Zusammenhang mit diesen Vorschriften zu betrachten und auszulegen (von Wietersheim in Ingenstau/Korbion, VOB, 21. Auflage, § 13 VOB/A Rn. 1 aE; Portner in jurisPK-Vergaberecht, Stand 15. September 2022, § 13 VOB/A Rn. 3).

(2) Die die Form betreffende Vorschrift des § 13 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A 2016 weist eine enge Verbindung zu dem in §§ 11, 11a VOB/A geregelten Recht des Auftraggebers zur Festlegung der Kommunikationsformen und -wege auf (Franke/Klein in Franke/Kemper/Zanner/Grünhagen/Mertens, VOB, 7. Aufl., § 13 VOB/A Rn. 2, § 13 VOB/A-EU Rn. 1). Deren Wahl liegt beim Auftraggeber, wobei ihm ein weiter Ermessensspielraum zukommt, auf welchem Weg er die Möglichkeit zur Einreichung des Angebots eröffnet (Koenigsmann-Hölken in Heuvels/ Höß/Kuß/Wagner, Vergaberecht, 2. Aufl., § 13 VOB/A Rn. 10; von Wietersheim in Ingenstau/Korbion, VOB, 22. Aufl., § 13 VOB/A Rn. 2; Stollhoff in MüKoWettbewerbsR, 4. Aufl., § 13 VOB/A Rn. 13 f.; Haupt in Jagenburg/Baldringer/Haupt, VOB, 2022, § 13 VOB/A Rn. 5).

(3) Durch § 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 und 4 sowie § 11 Abs. 4 VOB/A 2016 werden systematisch die Textform und die zur Übermittlung verwendeten elektronischen Mittel verknüpft. Formgerecht übermittelt beziehungsweise eingereicht ist das Angebot deshalb nur, wenn dies mithilfe der vom Auftraggeber vorgegebenen elektronischen Mittel erfolgt (vgl. Christiani in Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, 3. Aufl., § 13 VOB/A Rn. 1, § 13 VOB/A-EU Rn. 10; zu § 53 VgV vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 8. Juli 2020 – VII Verg 6/20; Vergabekammer Südbayern, Beschluss vom 2. April 2019, BeckRS 2019, 7485 Rn. 130 bis 132; Soudry in Müller-Wrede, VgV/UVgO, 5. Aufl., § 57 VgV Rn. 40; Herrmann in Ziekow-Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl., § 53 VgV Rn. 7; offengelassen für die Verschlüsselung von OLG Frankfurt, Beschluss vom 18. Februar 2020 – 11 Verg 7/19; vgl. auch Müller in Röwekamp/Kus/Marx/Portz/Prieß, VgV, 2. Aufl., § 9 Rn. 18 sowie aaO Dittmann/Dicks, § 57 Rn. 52).

(4) Demgegenüber greift die Ansicht der Klägerin, eine etwaige Befugnis zur Vorgabe des Dateiformats könne in systematischer Hinsicht allenfalls aus einer die Vergabeunterlagen betreffenden Vorschrift hergeleitet werden, nicht durch. Wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, betrifft die Verwendung von durch elektronische Mittel vorgegebenen Dateiformaten nicht den Inhalt der Vergabeunterlagen, sondern ihre äußere Form und die Art und Weise der Abgabe und Einreichung des Angebots. Schließlich besteht auch keine – von der Klägerin befürchtete – Gefahr einer Umgehung ausdrücklich normierter Vorgaben technischer Standards, weil Auftraggeber diese bei ihren Vorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A 2016 zu beachten haben.

dd) Die Auslegung, wonach der Auftraggeber gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 VOB/A die bei der Abgabe des Angebots zu verwendenden elektronischen Mittel festlegen darf, entspricht auch dem Sinn und Zweck der Vorschrift.

(1) § 13 VOB/A 2016 soll den ordnungsgemäßen Wettbewerb im Vergabeverfahren sichern, Chancengleichheit und Transparenz gewährleisten und insbesondere der Sicherstellung der Vergleichbarkeit der Angebote für die Wertungsphase dienen (von Wietersheim in Ingenstau/Korbion, VOB, 22. Aufl., § 13 VOB/A Rn. 1; Planker in Kapellmann/Messerschmidt, VOB, 8. Aufl., § 13 VOB/A Rn. 1; Stollhoff in MüKoWettbewerbsrecht, 4. Aufl., § 13 VOB/A Rn. 3; Portner in jurisPK-Vergaberecht, Stand 15. September 2022, § 13 VOB/A Rn. 1; Christiani in Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, 3. Aufl., § 13 VOB/A Rn. 1, § 13 VOB/A-EU Rn. 2). Die Verwendung elektronischer Informations- und Kommunikationsmittel soll zudem ausweislich des Erwägungsgrunds 52 RL 2014/24 die Bekanntmachung von Aufträgen erheblich vereinfachen und Effizienz und Transparenz der Vergabeverfahren steigern.

(2) Die Vorgabe der bei der Einreichung von Angeboten zu verwendenden elektronischen Mittel dient in besonderem Maße der Vergleichbarkeit der Angebote und der Effizienz des Vergabeverfahrens. Die Verwendung einheitlicher Dateiformate durch alle Bieter stellt eine (auch elektronische) Vergleichbarkeit sicher und verhindert beim Auftraggeber zusätzlichen Aufwand, der durch die gegebenenfalls erforderliche Umwandlung und Überprüfung von Angeboten anfällt, bei deren Einreichung andere elektronische Mittel und Dateiformate verwendet worden sind. §§ 11, 11a VOB/A könnten ihren Sinn und Zweck, wonach der Auftraggeber die Kommunikationsmittel im Interesse der Effizienz und Transparenz festlegt, daher nicht erfüllen, wenn eine Verletzung entsprechender Vorgaben keinen Ausschluss des Angebots gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1, § 16 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A 2016 zur Folge hätte.

b) Der Beklagte hat in den Vergabeunterlagen festgelegt, dass das Leistungsverzeichnis unter Verwendung des dort genannten Softwareprogramms einzureichen ist. Etwas Anderes folgt nicht daraus, dass die Bekanntmachung und Ziffer 7 der Vergabeunterlagen die elektronische Abgabe des Angebots in Textform vorsehen. Die Vergabeunterlagen sind nach dem objektiven Empfängerhorizont der potenziellen Bieter, auf den bei der Auslegung abzustellen ist (BGH, Urteil vom 13. September 2022 – XIII ZR 9/20, VergabeR 2023, 205 Rn. 17 – Deponiekosten; Beschluss vom 7. Januar 2014 – X ZB 15/13, BGHZ 199, 327 Rn. 31 mwN – Stadtbahnprogramm Gera), eindeutig dahin zu verstehen, dass das Leistungsverzeichnis als GAEB-Datei im Format d.84 oder x.84 eingereicht werden musste. Das ergibt sich zweifelsfrei aus den an das Angebotsschreiben gestellten Anforderungen. Dass das Angebot im Übrigen nach der im Formular unter Ziffer 7 angekreuzten Vorgabe und nach der Bekanntmachung elektronisch in Textform einzureichen war, steht dem nicht entgegen. Unklarheiten ergeben sich daraus nicht. Die Angaben in der Bekanntmachung und unter Ziffer 7 der Vergabeunterlagen betreffen allgemein die elektronische Abgabe der Angebote in Textform und ohne Signatur. Das steht der spezielleren für das Leistungsverzeichnis geltenden Vorgabe zur Verwendung eines vom Beklagten bereitgestellten Programms nicht entgegen. Die Klägerin macht auch nicht geltend, die Vergabeunterlagen nicht im Sinne dieser Anforderung verstanden zu haben, sondern trägt vor, sie habe ihr Angebotsschreiben vom 4. März 2019 entsprechend der Vorgabe als GAEB-Datei eingereicht.

c) Den Vortrag des Beklagten – wie revisionsrechtlich geboten – als richtig unterstellt, war das Angebot daher gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 2, § 13 Abs. 1 Satz 1 VOB/A 2016 auszuschließen. Dem Einwand der Klägerin, der Beklagte hätte, selbst wenn eine Festlegung der Verwendung des Softwareprogramms zulässig erfolgt sei und sie diese Vorgabe nicht eingehalten habe, ihr Angebot nicht ausschließen dürfen, sondern die fehlende Unterlage gemäß § 16a VOB/A 2016 nachfordern müssen, ist kein Erfolg beschieden.

aa) Gemäß § 16a Satz 1 VOB/A 2016 setzt die Möglichkeit zur Nachforderung von Unterlagen voraus, dass ein Ausschluss nach § 16 Abs. 1 oder Abs. 2 VOB/A 2016 nicht erfolgt ist (Holz in Heiermann/Riedl/Rusam, VOB, 14. Aufl., § 16a VOB/A Rn. 5; von Wietersheim in Ingenstau/Korbion, VOB, 20. Aufl., § 16a VOB/A [2016] Rn. 3; Frister in Kapellmann/Messerschmidt, VOB, 6. Aufl., § 16a VOB/A [2016] Rn. 1). Das ergibt sich bereits aus dem klaren Wortlaut der Regelung. Danach verlangt der Auftraggeber die fehlenden Erklärungen oder Nachweise nach, wenn das Angebot nicht entsprechend § 16 Abs. 1 oder 2 VOB/A 2016 ausgeschlossen wird.

bb) Hier ist indes letzteres der Fall. Hat die Klägerin ihr Angebotsschreiben vom 4. März 2019 nicht gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 VOB/A 2016 formgerecht eingereicht, war es nach der damaligen Rechtslage (§ 16 Abs. 1 Nr. 2, § 16a VOB/A 2016) auszuschließen. Es kommt nicht auf die – offene – Frage an, ob § 16a VOB/A 2016 dahin auszulegen ist, dass nicht nur unternehmensbezogene, sondern auch leistungsbezogene Unterlagen nachzufordern sind (vgl. BGH, Urteil vom 18. Juni 2019 – X ZR 86/17, NZBau 2019, 661 Rn. 51 f. – Straßenbauarbeiten). Diese Frage stellt sich nur, wenn (überhaupt) ein Angebot vorliegt, bei dem (leistungsbezogene) Erklärungen oder Nachweise fehlen. Hier ist schon kein formgerecht übermitteltes Angebot gegeben.

III.

Das Berufungsurteil kann daher keinen Bestand haben, sondern ist aufzuheben. Die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§§ 562 Abs. 1, 563 Abs. 1 ZPO). Dabei wird das Berufungsgericht gegebenenfalls unter Berücksichtigung des im Revisionsverfahren erfolgten Vortrags Feststellungen dazu zu treffen sowie zu bewerten haben, ob das vom Beklagten vorgegebene Softwareprogramm die Anforderungen von § 11a VOB/A erfüllt.

VergMan ® für Bieter – Erfüllung der Rügeobliegenheit (2) Erkannter Verstoß gegen Vergabevorschriften muss gegenüber dem Auftraggeber innerhalb einer Frist von zehn Kalendertagen gerügt werden

VergMan ® für Bieter – Erfüllung der Rügeobliegenheit (2) Erkannter Verstoß gegen Vergabevorschriften muss gegenüber dem Auftraggeber innerhalb einer Frist von zehn Kalendertagen gerügt werden

von Thomas Ax

Gemäß § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB ist der Nachprüfungsantrag unzulässig, soweit der Antragsteller einen Verstoß gegen Vergabevorschriften vor Einreichung des Nachprüfungsantrags erkannt und gegenüber dem Auftraggeber nicht innerhalb einer Frist von zehn Kalendertagen gerügt hat. Die Rügeobliegenheit wird nur ausgelöst, wenn der Antragsteller eine feststellbare und im Streitfall vom öffentlichen Auftraggeber nachzuweisende positive Kenntnis von den einen Vergaberechtsverstoß begründenden tatsächlichen Umständen hat. Darüber hinaus muss er aufgrund laienhafter, vernünftiger Bewertung zugleich die positive Vorstellung von einem Verstoß gegen Vergabevorschriften gewonnen haben (Dicks, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl., § 160 GWB Rn 40). Dem gleichzusetzen ist, wenn der Antragsteller in tatsächlicher oder rechtlicher Unkenntnis in einer Weise verharrt, die mit Blick auf einen möglichen Vergaberechtsverstoß als ein mutwilliges Sich-der-Erkenntnis-Verschließen zu bewerten ist (BGH, Beschl. v. 26.09.2006, NZBau 2006, 800 Rn 35; Senat, Beschl. v. 15.01.2020 – Verg 20/19, BeckRS 2020, 1327 Rn 27).

VergMan ® für Bieter – Erfüllung der Rügeobliegenheit (1) Widersprüchlichkeit der Vergabeunterlagen ist erkennbar

VergMan ® für Bieter – Erfüllung der Rügeobliegenheit (1) Widersprüchlichkeit der Vergabeunterlagen ist erkennbar

von Thomas Ax

Der Verstoß der Widersprüchlichkeit einer Angabe gemäß Bekanntmachung, Leistungsbeschreibung und Vertragsentwurf einerseits und Angebotsformular und Preisblatt andererseits ist erkennbarer Vergabeverstoß.

Nach § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB ist der Nachprüfungsantrag unzulässig, soweit Vergaberechtsverstöße, die in den Vergabeunterlagen erkennbar sind, nicht spätestens bis zum Ablauf der Frist zur Bewerbung oder zur Angebotsabgabe gegenüber dem Auftraggeber gerügt werden. Die Erkennbarkeit eines Verstoßes gegen Vergabevorschriften ist objektiv zu bestimmen. Eine die Rügeobliegenheit auslösende Erkennbarkeit eines Verstoßes gegen Vergabevorschriften ist – immer bezogen auf den konkreten Einzelfall – zu bejahen, wenn der Verstoß von einem durchschnittlichen fachkundigen Bieter des angesprochenen Bieterkreises bei üblicher Sorgfalt und üblichen Kenntnissen erkannt werden kann (Senat, Beschl. v. 03.04.2019 – Verg 49/18; Beschl. v. 26.07.2018 – Verg 23/18; Beschl. v. 28.03.2018 – Verg 54/17, und Beschl. v. 15.01.2020 – Verg 20/19, BeckRS 2020, 1327 Rn 37). Dabei muss sich die Erkennbarkeit sowohl auf die den Verstoß begründenden Tatsachen als auch auf deren rechtliche Beurteilung beziehen (Dicks, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl., § 160 Rn 49).

In Bezug auf die zu rügenden Vergaberechtsverstöße, welche sich aus den Vergabeunterlagen ergeben (§ 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB) ist für eine Präklusion mithin erforderlich, dass der Inhalt der Unterlagen bei laienhafter rechtlicher Bewertung, also ohne Bemühung besonderen Rechtsrats, auf einen Vergaberechtsverstoß hindeutet. Das setzt regelmäßig voraus, dass die Rechtsvorschriften, gegen die verstoßen wird, zum allgemeinen und grundlegenden Wissen der beteiligten Bieterkreise gehören (Senat, Beschl. v. 26.07.2018 – Verg 23/18; Beschl. v. 15.01.2020 – Verg 20/19, BeckRS 2020, 1327 Rn 37; OLG München, Beschl. v. 22.10.2015 – Verg 5/15). Eine Rügepräklusion kommt damit in der Regel nur für auf allgemeiner Überzeugung der Vergabepraxis beruhende und ins Auge fallende Rechtsverstöße in Betracht (vgl. Dicks, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl., § 160 Rn 49). Der Verstoß muss so offensichtlich sein, dass er einem durchschnittlich erfahrenen Bieter bei der Vorbereitung seines Angebotes beziehungsweise seiner Bewerbung auffallen muss (Senat, Beschl. v. 03.08.2011 – Verg 16/11, ZfBR 2021, 72, 74).

Hat die Antragstellerin den in den Vergabeunterlagen enthaltenen Widerspruch darüber hinaus erkannt, muss er innerhalb der Frist des § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB von 10 Tagen gerügt werden.

Der Vergabesenat bei dem OLG Düsseldorf hat sich in neuer Besetzung zu der Frage geäußert, OLG Düsseldorf, Urteil vom 21.06.2023 – 27 U 4/22, ob die Informations- und Wartepflicht nach § 134 GWB Vergaben unterhalb der Schwellenwerte erfasst.

Von der Redaktion - Der Vergabesenat bei dem OLG Düsseldorf hat sich in neuer Besetzung zu der Frage geäußert, OLG Düsseldorf, Urteil vom 21.06.2023 - 27 U 4/22, ob die Informations- und Wartepflicht nach § 134 GWB Vergaben unterhalb der Schwellenwerte erfasst.

„Gemäß § 106 Abs. 1 GWB gilt der die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Konzessionen betreffende Teil 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen nur für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen, deren geschätzter Auftrags- oder Vertragswert ohne Umsatzsteuer die jeweils festgelegten Schwellenwerte erreicht oder überschreitet. Der hier nach § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB i. V. m. Art. 4 lit. d der Vergaberichtlinie 2014/24/EU einschlägige Schwellenwert bei öffentlichen Dienstleistungsaufträgen betreffend soziale und andere besondere Dienstleistungen im Sinne von Anhang XIV der Richtlinie, wozu Dienstleistungen im juristischen Bereich gehören, beträgt 750.000 Euro. Dieser ist vorliegend unstreitig bei weitem nicht erreicht.“

Auch für eine entsprechende Anwendung des § 134 GWB im Unterschwellenbereich sei kein Raum.

„Dabei kann dahinstehen, ob die Vorschrift als kartellvergaberechtliche Sondervorschrift ohnehin nicht analogiefähig ist (so KG, Urteil vom 7. Januar 2020, 9 U 79/19, NZBau 2020, 680 Rn. 10 m. w. Nw., entgegen Braun in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl. 2020, § 134 GWB Rn. 161), da eine analoge Anwendung des § 134 GWB mit Blick auf die in der Diskussion des Entwurfs der Unterschwellenvergabeordnung erkannte und diskutierte Problematik der Informations- und Wartepflicht im Unterschwellenbereich jedenfalls nunmehr mangels planwidriger Regelungslücke ausscheidet (OLG Celle, Urteil vom 9. Januar 2020, 13 W 56/19, NZBau 2020, 679 Rn. 24). Eine planwidrige Regelungslücke erfordert ein unbeabsichtigtes Abweichen des Gesetzgebers von seinem dem konkreten Gesetzgebungsverfahren zugrunde liegenden Regelungsplan (BGH, Urteil vom 17. März 2022, III ZR 79/21, NZM 2022, 340 Rn. 38), das vorliegend nicht gegeben ist.“

Die seit dem 9. Juni 2018 auch von den Vergabestellen des Landes Nordrhein-Westfalen anzuwendende Unterschwellenvergabeverordnung vom 2. Februar 2017 kenne keine vorgelagerte Informations- und Wartepflicht.

„Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 UVgO unterrichtet der Auftraggeber jeden Bewerber und jeden Bieter unverzüglich über den Abschluss einer Rahmenvereinbarung oder die erfolgte Zuschlagserteilung. Die UVgO sieht also nur eine nachgelagerte Unterrichtung über den bereits erfolgten Abschluss beziehungsweise die Zuschlagserteilung vor (so selbst Braun in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl. 2020, § 134 GWB Rn. 169). Von einer § 134 GWB entsprechende Informations- und Wartepflicht ist nach Diskussion gerade abgesehen worden (vgl. Gerlach in Heiermann/Zeiss/Summa, juris-PK-Vergaberecht, 6. Aufl. 2022, Vorbemerkung UVgO Rn. 14). Auch von der Möglichkeit, landesgesetzlich eine Verpflichtung zur Mitteilung vor Zuschlagserteilung zu schaffen (vgl. Braun in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl. 2020, § 134 GWB Rn. 169), hat das das Land Nordrhein-Westfalen trotz dieser Diskussion und anders als eine Reihe anderer Länder gerade keinen Gebrauch gemacht, weshalb eine planwidrige Regelungslücke nicht gegeben ist.“

Die Schaffung einer Vorabinformations- und Wartepflicht als besondere Vorkehrung für die Durchsetzung von Primärrechtsschutz auch im Unterschwellenbereich sei auch nicht aufgrund des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs nach Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich geboten.

„Es liegt im gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum, das Interesse des Auftraggebers an einer zügigen Ausführung der Maßnahmen und das des erfolgreichen Bewerbers an alsbaldiger Rechtssicherheit dem Interesse des erfolglosen Bieters an Primärrechtsschutz vorzuziehen und Letzteren regelmäßig auf Sekundärrechtsschutz zu beschränken. Der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich nicht dazu verpflichtet, eine auch faktisch realisierbare Möglichkeit eines Primärrechtsschutzes im Vergaberecht in der Gestalt einer Pflicht der vergebenden Stelle zu einer rechtzeitigen Information der erfolglosen Bieter zu schaffen, wie sie für Auftragsvergaben oberhalb der Schwellenwerte besteht (BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2006, 1 BvR 1160/03, NJW 2006, 3701 Rnrn. 71 ff, Rn. 74).“

Es könne vorliegend dahinstehen, ob sich eine Informations- und Wartepflicht im Interesse vollständigen Rechtsschutzes aus dem Gemeinschaftsrecht ergeben kann, wie dies der Senat in einem Orbiter Dictum zu seinem Urteil vom 13. Dezember 2017, 27 U 25/17, unter Verweis auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichts erster Instanz vertreten hat (NZBau 2018, 168 Rn. 17), da eine Binnenmarktrelevanz vorliegend nicht gegeben ist.

„Ein hierfür erforderliches grenzüberschreitendes Interesse bei Unterschwellenvergaben, das zu prüfen Sache des öffentlichen Auftraggebers ist, wobei Kriterien der Auftragswert und der Ausführungsort (EuGH, Urteil vom 15. Mai 2008, Rs. C-147/06 und Rs. C-148/06, ECLI:EU:C:2007:711, NZBau 2008, 453 Rnrn. 30, 31 – SECAP), aber auch Besonderheiten des betroffenen Marktes sind (Dörr in Burgi/Dreher/Opitz, Beck’scher Vergaberechtskommentar, 4. Aufl. 2022, Einleitung, C. Europäisches Vergaberecht Rn. 186), hat der Beklagte zu Recht verneint. Hierfür ist allein die Grenzlage Nordrhein-Westfalens nicht ausreichend. Das Auftragsvolumen liegt nur bei gut einem Viertel des Schwellenwerts. Zudem setzt die nachgefragte Dienstleistung eine Qualifikation gerade im nationalen Recht voraus.“

„Im Übrigen wären die Rahmenverträge selbst bei Annahme einer aus einem Gebot vollständigen Rechtsschutzes abzuleitenden Informations- und Wartepflicht analog § 134 GWB nicht nichtig, da aus Zuwiderhandlungen gegen diese, allein die Beklagte verpflichtenden Regelung keine Nichtigkeit eines gleichwohl abgeschlossen Vertrages folgt.“

§ 134 BGB ordne für ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, nicht ausnahmslos Nichtigkeit an.

„Während festgestellte Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts ohne weiteres zu dessen Nichtigkeit führt (§ 138 BGB), macht § 134 BGB diese Rechtsfolge davon abhängig, dass sich aus dem Gesetz nichts anderes ergibt. § 134 BGB kann deshalb nicht ohne Rückgriff auf das verletzte Verbot angewendet werden. Ordnet diese Regelung selbst eine Rechtsfolge an, ist sie maßgeblich; fehlt – wie vorliegend – eine verbotseigene Rechtsfolgenregelung, so sind Sinn und Zweck des verletzten Verbots entscheidend. Dies erfordert eine normbezogene Abwägung, ob es mit dem Sinn und Zweck des Verbots vereinbar oder unvereinbar wäre, die durch das Rechtsgeschäft getroffene Regelung hinzunehmen beziehungsweise bestehen zu lassen (BGH, Urteil vom 14. Dezember 1999, X ZR 34/98, NJW 2000, 1186, 1187).“

Für die nach § 134 BGB gebotene Abwägung sei wesentlich, ob sich das betreffende Verbot an alle Beteiligten des Geschäfts richtet, das verhindert werden soll, oder ob das Verbot nur eine Partei bindet. Sind beide Teile Adressaten des Verbots, kann regelmäßig angenommen werden, das verbotswidrige Geschäft solle keine Wirkungen entfalten.

„Richtet sich das Verbot dagegen nur gegen eine Partei, ist regelmäßig der gegenteilige Schluss berechtigt. Diese unterschiedliche Bewertung kommt bereits in den “Motiven zu dem Entwurf eines BGB” zum Ausdruck (Bd. I, S. 210), entspricht seit dem Beschluss der Vereinigten Zivilsenate des Reichsgerichts vom 17. März 1905 der Rechtsprechung und ist auch vom Bundesgerichtshof seiner ständigen Rechtsprechung zugrunde gelegt worden (BGH, Urteil vom 14. Dezember 1999, X ZR 34/98, NJW 2000, 1186, 1187). Ein zweiseitiges Rechtsgeschäft, dessen Vornahme nur einem Beteiligten verboten ist, ist daher in der Regel gültig (BGH, Urteil vom 17. Dezember 2013, KZR 66/12, NVwZ 2014, 807 Rn. 107).“

Nichtigkeit nach § 134 BGB trete dann nur ein, wenn einem solchen einseitigen Verbot ein Zweck zu Grunde liegt, der die Nichtigkeit des ganzen Rechtsgeschäfts erfordert, weil er nicht anders als durch dessen Annullierung zu erreichen ist und die getroffene Regelung nicht hingenommen werden kann (BGH, Urteil vom 17. Dezember 2013, KZR 66/12, NVwZ 2014, 807 Rn. 107; BGH, Urteil vom 14. Dezember 1999, X ZR 34/98, NJW 2000, 1186, 1187).

„Eine Informations- und Wartepflicht analog § 134 GWB wäre daher schon aus Rechtsgründen nicht geeignet, eine Nichtigkeit eines unter Verstoß gegen sie erteilten öffentlichen Auftrags zu begründen.

Das aus der Informations- und Wartepflicht zu folgernde Kontrahierungsverbot wäre nur ein einseitiges, den öffentlichen Auftraggeber bindendes Verbotsgesetz, bei dem ein Verstoß nur dann zur Nichtigkeit führen würde, wenn es mit Sinn und Zweck des Verbotes nicht vereinbar wäre, die durch das Geschäft getroffene Regelung hinzunehmen und bestehen zu lassen. Dies ist nicht der Fall. Es würde einen in keiner Weise nachvollziehbaren Wertungswiderspruch darstellen, wenn im Kartellvergaberecht die Verletzung der dort nach § 134 GWB bestehenden Informations- und Wartepflicht nur nach den aus Gründen der Rechtssicherheit einschränkenden Vorgaben des § 135 GWB geltend gemacht werden könnte, während bei den unterschwelligen Aufträgen entsprechende Rechtsgeschäfte allgemein nach § 134 BGB nichtig wären. Zudem würden hier schutzwürdige Belange des Auftragnehmers, den die Informations- und Wartepflicht gerade nicht trifft, missachtet. Die Unwirksamkeitsfolge würde einen schwerwiegenden Eingriff in seine durch den Vertragsschluss mit dem öffentlichen Auftraggeber begründete Vertragsposition darstellen, der auch unter grundrechtlichen Gesichtspunkten jedenfalls ohne – hier, anders als im Kartellvergaberecht mit § 135 GWB – fehlende gesetzgeberische Rechtsgrundlage kaum zu rechtfertigen wäre (KG, Urteil vom 7. Januar 2020, 9 U 79/19, NZBau 2020, 680 Rn. 12, Rn. 14; Senatsbeschluss vom 2. Mai 2022, 27 W 1/22).“

Und dann:

„Soweit der erkennende Senat in einem Obiter Dictum zu seinem Urteil vom 13. Dezember 2017, 27 U 25/17, eine Nichtigkeit des unter Verstoß gegen eine ungeschriebene Informations- und Wartepflicht bei Unterschwellenvergaben geschlossenen Vertrages gemäß § 134 BGB für konsequent erachtet hat (NZBau 2018, 168 Rn. 18), hält er daran vor dem Hintergrund der vorgenannten Wertungswidersprüche in vollständig neuer personeller Besetzung und in Fortführung seiner bereits mit Beschluss vom 2. Mai 2022, 27 W 1/22, geänderten Rechtsprechung nicht fest. Der in Art. 19 Abs. 4 GG wurzelnde Grundsatz der Gewährleistung tatsächlich wirksamer gerichtlicher Kontrolle erfordert nicht zwingend die Gewährleistung von Primärrechtsschutz. Eine Kompensation kann auch über Schadensersatz erfolgen. Dass der mit Erteilung des Zuschlages zustande gekommene Vertrag wirksam und daher die Erlangung von Primärrechtsschutz nicht mehr möglich ist, hat auch das Bundesverfassungsgericht nicht infrage gestellt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Juli 2004, 2 BvR 2248/03, NVwZ 2004, 1224, 1226; ebenso OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. November 2010, 1 S 107/10, NVwZ-RR 2011, 293, 294).“

Auch ein Verstoß gegen die primärrechtlichen Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gebiete – Binnenmarktrelevanz unterstellt – nicht die Nichtigkeit des Vertrags.

„Das Unionsrecht sieht auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Aufträge keine allgemeine Regel vor, nach der die Rechtswidrigkeit einer Handlung in einem bestimmten Stadium des Verfahrens zur Rechtswidrigkeit aller späteren Handlungen in diesem Verfahren führen und ihre Aufhebung rechtfertigen würde (EuGH, Urteil vom 20. September 2018, Rs. C-518/17, ECLI:EU:C:2018:757, BeckRS 2018, 22236 Rn. 57 – Rudigier). Soweit der Unionsgesetzgeber keine spezifische Bestimmung in Bezug auf einen Verstoß vorgesehen hat, ist eine entsprechende Regelung Angelegenheit des nationalen Rechts. In Ermangelung einer näheren unionsrechtlichen Verfahrensregelung zur Durchsetzung eines Rechts ist es nämlich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes einzelnen Mitgliedstaats, die Verfahrensmodalitäten zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen (EuGH, Urteil vom 20. September 2018, Rs. C-518/17, ECLI:EU:C:2018:757, BeckRS 2018, 22236 Rnrn. 60, 61 – Rudigier).“

Dementsprechend habe auch das Europäische Gericht erster Instanz seine Vergabeanforderung einer Informations- und Wartepflicht, auf die sich der Senat in seinem Orbiter Dictum vom 13. Dezember 2017 im Rahmen der Begründung einer solchen Pflicht auch im Unterschwellenbereich gestützt hat, gerade damit begründet, dass dem abgelehnten Bieter eine angemessene Frist bis zur Unterzeichnung des Vertrags verbleiben muss, um die Zuschlagsentscheidung überprüfen zu können (EuG, Urteil vom 20. September 2011, Rs. T-461/08, ECLI:EU:T:2011:494, BeckRS 2011, 81495 Rn. 121), was die Annahme einer Wirksamkeit des unterzeichneten Vertrags bedingt.  

…“

Damit ist diese Frage anscheinend endgültig geklärt.

Viel Freude beim Lesen unseres aktuellen Heftes!

Ihre Redaktion

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VergabePrax mit Beiträgen zum aktuellen Vergaberecht

OLG Bamberg: Sehr erfolgreiche Vertretung und Beratung durch AxRechtsanwälte: Berufung gegen die Stadt Karlstadt im Brückenstreit steht vor Zurückweisung

OLG Bamberg: Sehr erfolgreiche Vertretung und Beratung durch AxRechtsanwälte: Berufung gegen die Stadt Karlstadt im Brückenstreit steht vor Zurückweisung

In der mündlichen Verhandlung vom 22.6. hat das OLG Bamberg in Anwesenheit des 1. Bürgermeisters der Stadt Karlstadt Hombach und des Projektverantwortlichen bei der Stadt Karlstadt Krajewski angekündigt, die Berufung gegen das für die Stadt Karlstadt erfolgreiche Urteil des LG Würzburg zurückzuweisen.

Die Beteiligten:

Stadt Karlstadt, vertreten durch d. 1. Bürgermeister, Zum Helfenstein 2, 97753 Karlstadt

– Klägerin –

Prozessbevollmächtigte:

Rechtsanwälte AX Rechtsanwälte, Rechtsanwalt Dr. Thomas Ax, Uferstraße 16, 69151 Neckargemünd

gegen

1) ARGE Mainbrücke, vertr.d.d. Max Streicher GmbH & Co. KG a.A., vertr.d.d. Max Streicher Beteiligungsgesellschaft mbH & Co. KG, d.v.d.d. Max Streicher Geschäftsführungsgesellschaft mbH, vertr.d.d. GF, Schwaigerbreite 17, 94469 Deggendorf

– Beklagte –

2) MAX STREICHER GmbH & Co.KGaA, vertr.d.d. Max Streicher Beteiligungsges. mbH & Co. KG, d.v.d.d. Max Streicher Geschäftsführungsgesellschaft mbH, vertr.d.d. GF, Schwaigerbreite 17, 94469 Deggendorf,

– Beklagte –

3) SEH Engineering GmbH, vertreten durch d. Geschäftsführer, Hackethalstraße 4, 30179 Hannover

– Beklagte –

Prozessbevollmächtigte zu 1 – 3:

Rechtsanwälte Göhmann, Landschaftstraße 6, 30159 Hannover,

Prozessbevollmächtigte zu 1:

Rechtsanwälte Göhmann Rechtsanwälte, Abogados Advokat Steuerberater Partnerschaft mbB, Landschaftstraße 6, 30159 Hannover


Der Gegenstand des Streits:

Die Stadt Karlstadt begehrt Kostenvorschuss für eine Mangelbeseitigung im Zusammenhang mit der Neuerrichtung einer Brücke (Karolingerbrücke) über den Main auf dem Gebiet der klagenden Gemeinde Karlstadt.

Mit dem als Anlage K 1 vorgelegten Schreiben vom 20.12.2002 erteilte die Vergabestelle der Klägerin, vertreten durch den damaligen 1. Bürgermeister Karl-Heinz Keller, den Beklagten den Auftrag für das Bauvorhaben „Gemeindeverbindungsstraße zwischen der St. 2435 und der B 26 hier:

Los 4-Mainbrücke“ unter Bezugnahme auf deren Angebot vom 06.05.2002.

Aus dem als Anlage K 19 vorgelegten Schreiben der Bietergemeinschaft vom 06.05.2002 ergibt sich, dass dem Angebot ein Sondervorschlag, ein Nebenangebot sowie eine Variante zum Nebenangebot beigefügte war.

Im technischen Erläuterungsbericht zum Behördenentwurf heißt es dort unter anderem:

„Das Korrosionsschutzsystem der Außen- und Innenflächen der Hohlkästen erfolgt gemäß Ausschreibung. Unser Angebot berücksichtigt, dass der letzte Deckanstrich auf der Baustelle nach Betonieren der Fahrbahnplatte aufgebracht wird. Dies entspricht dem Stand der Technik. Allerdings lassen sich bei dem Korrosionsschutzverfahren die von Ihnen in Ihrer Baubeschreibung genannten maximalen Standzeiten von einem Monat zwischen den einzelnen Deckbeschichtungen nicht einhalten.“

Unter Ziffer II. hat die Bietergemeinschaft ein Nebenangebot „Offener Querschnitt“ unterbreitet das einen Überbau als offenen Querschnitt mit zwei parallelen Trägern als torsionsweichen Doppel-T-Querschnitt vorsah. Weiter heißt es dort:

„Wie beim Behördenentwurf sehen wir auch bei unserem Nebenangebot das dargestellte Montagekonzept vor. Der von uns bewertete Korrosionsschutzaufbau entspricht dem der Ausschreibung. Hier gilt die unter Punkt 1 dargelegte Einschränkung hinsichtlich der maximalen Standzeit von einem Monat zwischen Werks-Korrosionsschutz und letztem Deckanstrich“.

Das Nebenangebot wurde sodann beauftragt. Der Bau der streitgegenständlichen Mainbrücke erfolgte in den Jahren 2002-2005. Gemäß der als Anlage K2 vorgelegten Niederschrift erfolgte eine Teilabnahme am 08.12.2005.

Der Korrosionsschutz erfolgte, wie vertraglich vorgesehen, auf Epoxidharz/Polyurethanharz Grundlage, wobei die Grundbeschichtung sowie die 1. und 2. Deckbeschichtung im Werk ausgeführt wurden während die letzte Deckbeschichtung der gesamten Stahlkonstruktion auf der Baustelle erfolgte.

In der Baubeschreibung heißt es unter Ziffer 19.2.20 Beschichtung Stahlüberbau unter anderem, dass die Korrosionsschutzarbeiten nach ZTV-Kor 92 durchzuführen sind und unter „Deckbeschichtung“:

„Die Deckbeschichtungen sind möglichst frühzeitig aufzubringen. Bei einer Standzeit über 2 Monate ist die Grundbeschichtung vor dem Aufbringen der 1. Deckbeschichtung zu reinigen, bei einer Standzeit von mehr als 6 Monaten leicht anzustrahlen und zu entstauben, um auch die Haftung zu gewährleisten. […] Standzeiten über einem Monat zwischen den einzelnen Deckbeschichtungen sind nicht zulässig.“

Aus der vertraglich vereinbarten ZTV-Kor 92 ergibt sich unter Ziffer 4. 4.2:

„Zwischenreinigung

(1) vor dem Aufbringen von Folgebeschichtungen ist sicherzustellen, dass die Oberfläche frei ist von Verunreinigungen durch Verschmutzungen und durch zwischenzeitlich angelagerte Salzbelege aus atmosphärischer Einwirkung oder Tausalz.

(2) Insbesondere nach langer Zwischenstandzeit (z.B. witterungsbedingt, längere Montagezeit) hat der Auftragnehmer zu prüfen, in welchem Umfang eine Reinigung erforderlich ist. Die Art der Reinigung in Abhängigkeit vom Ergebnis der Prüfung bedarf der Genehmigung des Auftraggebers.

(3) Bei länger bewitterten oder stark verunreinigten feuerverzinkten Oberflächen ist eine Reinigung erforderlich. Zur Verbesserung der Haftfestigkeit nachfolgender Beschichtungen kann ein leichtes Überblasen mit Strahlmitteln (Sweep-Strahlen) notwendig sein.“

Die streitgegenständliche Deckbeschichtung wurde von der Firma Massenberg GmbH als Subunternehmerin ausgeführt. Mit dem als Anlage B 12 vorgelegten Schreiben hat die Fa. Massenberg GmbH ihrem Auftraggeber Bedenken hinsichtlich der langen Standzeiten angemeldet.

Zur Ermittlung des erforderlichen Oberflächenvorbereitungsverfahrens der zwischenbewitterten Epoxidharz-Teilbeschichtung vor Ausführung der Deckbeschichtung hat die Firma Massenberg GmbH das Institut für Stahlbau Leipzig GmbH (ISL) beauftragt. Aus der als Anlage K 6 vorgelegten Stellungnahme des ISL vom 19.05.2005 ergibt sich unter anderem, dass sich zum Zeitpunkt der Prüfung im Maximalfall Zwischenstandzeiten von 19 Monaten ergeben hatten, nachdem der vorhandene Korrosionsschutz im Zeitraum 2003 bis April 2004 in der Werkstatt aufgebracht worden war. Die Zusammenfassung der Ergebnisse der durchgeführten Prüfungen zeigt sowohl bei Teilbereiche A Sweepen und Abkehren als auch bei Teilbereiche B Sweepen und Hochdruckwasserstrahlen jeweils eine gute Haftung bzw. einen guten Haftverbund während sich in Teilbereiche C Hochdruck Wasserstrahlen bei der Gitterschnittprüfung an 3 Einzelprüfstellen eine schlechte Haftung und bei der Kreuzschnittprüfung an 4 Einzelprüfstellen eine ausreichende bis schlechte Haftung ergeben hatte.

Zusammenfassend kommt das ISL zum Ergebnis, dass die Vorbereitung der Oberfläche ohne weitere zusätzliche Maßnahmen durch Hochdruckwasserstrahlen erfolgen kann.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die als Anlage K6 vorgelegte Stellungnahme des ISL vom 19.05.2005 ergänzend verwiesen.

Die Reinigung wurde sodann durch die Firma Masseberg GmbH mittels Hochdruckwasserstrahlen durchgeführt. Dem als Anlage vorgelegten Überwachungsbericht des RWTÜV vom 25.05.2005 ist hierzu unter anderem zu entnehmen:

„Die nach der 2. Zwischenbeschichtung mit Hochdruckwasserstrahlen gereinigten Flächen wurden durch den RWTÜV und in Teilbereichen durch den Anwendungstechniker der Firma Lacor überprüft und für die Applikation der Deckbeschichtung freigegeben.“

Dem genannten Überwachungsbericht ist unter Ziffer 3. zu entnehmen, dass der schriftliche Bericht des Instituts für Stahlbau Leipzig noch nicht vorlag.

Im Zuge der Brücken-Hauptprüfung vor Ablauf der Gewährleistung wurde festgestellt, dass sich die letzte Deckbeschichtung an mehreren Stellen abgelöst hatte. Es ergäben sich, so der Prüfingenieur Koller in dem genannten Bericht vom 26.11.2010 (Anlage K4) Hinweise auf eine zu geringe Haftung der Deckbeschichtung zur Zwischenbeschichtung.

Mit dem als Anlage K5 vorgelegten Schreiben vom 02.12.2010 wurde die Arge Mainbrücke unter Bezugnahme auf § 13 Nummer 5 VOB/B unter Beifügung des Prüfberichts vom 26.11.2010 zur Mangelbeseitigung aufgefordert.

Der Aufforderung zur Beseitigung der Mängel kam die Beklagte zu 1 nicht nach.

Mit Schriftsatz vom 28.07.2011 hat die Stadt Karlstadt die Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens zur Ursache der Haftungsprobleme der Deckbeschichtung zur Zwischenbeschichtung der Karolingerbrücke in Karlstadt beantragt. Mit Beschluss vom 03.11.2011 wurde antragsgemäß ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben. Mit der Gutachtenserstattung wurde das Institut für Korrosionsschutz Dresden GmbH beauftragt. Der Sachverständige Dr. Schütz erstattete am 03.08.2012 ein schriftliches Gutachten (Bl. 63 ff der beigezogenen Akte 12 OH 1460/11), eine ergänzende Stellungnahme vom 04.06.2013 (Bl. 176 ff d.A.) sowie eine zweite ergänzende Stellungnahme vom 26.09.2013, schließlich wurde der Sachverständige mündlich gehört (Sitzungsniederschrift vom 22.05.2014, Bl. 248 ff d.A.). Mit Beschluss vom 09.07.2014 wurde das Selbständige Beweisverfahren für beendet erklärt (Bl. 287 ff d.A.).

Die Stadt Karlstadt trägt im Wesentlichen vor:

Auch nach Anhörung des Sachverständigen im Rahmen des durchgeführten selbstständigen Beweisverfahrens sei aus Sicht der Stadt Karlstadt noch keine abschließende Klarheit über die Mangelursache geschaffen worden. Im Zuge der Begutachtung habe der Gutachter nämlich festgestellt, dass neben dem Abblättern eine Porosität der obersten Deckschicht vorliege.

Die Stadt Karlstadt gehe davon aus, dass auch die Porosität eine grundständige Sanierung des Anstriches erforderlich mache und nicht lediglich ein Ausbessern der bisher vereinzelt festgestellten Schadensstellen für ausreichend gehalten werden könne. Das Schadensbild verschlechtere sich fortlaufend. Die Deckbeschichtung könne regelrecht abgezogen werden und sei äußerst porös.

Die Beklagten seien mehrfach zur Mängelbeseitigung aufgefordert worden. Sie seien jedoch zu uneingeschränkter Mängelbeseitigung nicht bereit.

Der Klageanspruch ergebe sich aus § 13 VOB/B 2000. Die erbrachte Leistung sei mangelhaft, sodass die Beklagten zu Mangelbeseitigung verpflichtet seien. Dabei sei zur Sanierung die schlecht haftende letzte Deckbeschichtung vollständig zu entfernen. Die Beklagten hätten nicht die erforderliche Reinigungsqualität der Oberfläche hergestellt. Hierzu seien sie jedoch verpflichtet gewesen. Fehler bei der Ermittlung des erforderlichen Reinigungsverfahrens gingen ebenso wenig zulasten der Stadt Karlstadt wie Fehler bei der Durchführung eines ordentlich ermittelten Reinigungsverfahren selbst. Die Beklagte zu 1 hätte nicht davon ausgehen dürfen, dass lediglich Hochdruckwasserstrahlen als Reinigungsverfahren ausreichen würde. Diesen Eindruck hätte die Beklagte zu 1 auch nicht der Stadt Karlstadt so vermitteln dürfen. Die fehlerhafte Annahme, dass lediglich Hochdruckwasserstrahlen als Reinigungsverfahren ausreiche, beruhe auf einer unzureichenden Auswertung eines unzureichenden Gutachtens. Aus dem Leistungsverzeichnis und der Baubeschreibung ergebe sich, dass Standzeiten über einem Monat zwischen den einzelnen Deckbeschichtung nicht zulässig gewesen seien.

Soweit die Beklagte zu 1 von den von der Stadt Karlstadt angenommenen Bauverfahren im Rahmen eines Nebenangebots abgewichen sei, gehe dies zu Lasten der Beklagten zu 1. Die Beklagte zu 1 sei jedenfalls vertraglich verpflichtet gewesen, die Maßgaben der ZTV-Kor zu berücksichtigen.

Danach sei bei langen Zwischenabständen zu prüfen, in welchem Umfang eine Reinigung erforderlich sei.

Das Ergebnis einer beklagtenseits beauftragten gutachterlichen Betrachtung, wonach Hochdruckwasserstrahlen ausreichend sei, sei der Stadt Karlstadt erst nach der Ausführung der Arbeiten vorgelegt worden.

Zwar komme der dortige Gutachter Herr Diplom-Ingenieur Gelhaar zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass zur Vorbereitung der Oberfläche Hochdruckwasserstrahlen ausreichend sei. Dies habe jedoch mit den Feststellungen im Gutachten nichts zu tun. Auch der Beklagten zu 1 hätte auffallen müssen, dass eben gerade nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden durfte, dass die Vorbereitung der Oberfläche ohne weitere zusätzliche Maßnahmen durch Hochdruckwasserstrahlen erfolgen habe können. Der Gutachter habe sich nicht ausreichend mit seinen eigenen Prüfergebnissen auseinandergesetzt.

Für die maßgeblichen Teilbereiche C Hochdruckwasserstrahlen habe der Sachverständige im Bereich der Gitterschnittprüfung an 3 Einzelprüfstellen schlechte Haftung festgestellt. Der Gutachter setzte sich nicht einmal ansatzweise mit den Werten und Befunden im Bereich der Kreuzschnittprüfung auseinander. Auch der Beklagten zu 1 hätte auffallen müssen, dass eben gerade nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden konnte, dass die Vorbereitung der Oberfläche ohne weitere zusätzliche Maßnahmen durch Hochdruckwasserstrahlen erfolgen habe können.

Hätte die Beklagte zu 1 der Stadt Karlstadt das Gutachten vor Ausführung der Deckbeschichtung zur Kenntnis gegeben, hätte die Stadt Karlstadt die Beklagte zu 1 zu einer sachgerechten Auseinandersetzung mit den Feststellungen des Gutachters aufgefordert.

So sei das Gutachten erst per E-Mail Anhang am 20.05.2011 von der Beklagten übersandt worden. Die Stadt Karlstadt hätte ohne eine fundierte Auseinandersetzung mit den kritischen Befunden die Vorbereitung der Oberfläche nur durch Hochdruckwasserstrahl nicht genehmigt. So habe sich die Beklagte zu 1 auf eigenes Risiko trotz deutlicher Anhaltspunkte für eine unzureichende Zwischenreinigungsmethode entschieden. Bezeichnend dabei sei, dass der Stadt Karlstadt das Gutachten vorenthalten worden sei und erst nach mehrfacher Aufforderung am 20.05.2011 vorgelegt worden sei. Hätte man die Stadt Karlstadt ordentlich ins Bild gesetzt, hätte die Stadt Karlstadt das Hochdruckwasserstrahlen nicht akzeptiert. Die Stadt Karlstadt hätte sich in diesem Fall nur mit dem sicheren Verfahren des Sweepens einverstanden erklärt. Dass die Stadt Karlstadt das Verfahren akzeptiert habe, bedeute nicht, dass sie insoweit das Risiko habe übernehmen wollen. Es bleibe bei der vertraglichen Risikoverteilung. Die Beklagte zu 1 hafte für die sich aus der langen Standzeit der Beschichtung ergebenden Risiken. Die mutmaßlichen Nachbesserungskosten beliefen sich auf insgesamt 947.756,00 € netto wie sich aus dem Angebot, Anlage K 23, ergebe.

Das LG Würzburg hat daraufhin die Beklagte wie folgt verurteilt.

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Stadt Karlstadt 760.000,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 15.11.2014 zu zahlen.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, einen über den Betrag Ziffer 1. hinausgehenden Betrag zur Mangelbeseitigung an die Stadt Karlstadt zu zahlen, soweit dieser Betrag hierfür nicht ausreichend ist.

In der mündlichen Verhandlung vom 22.6. hat das OLG Bamberg in Anwesenheit des 1. Bürgermeisters der Stadt Karlstadt Hombach und des Projektverantwortlichen bei der Stadt Karlstadt Krajewski angekündigt, die Berufung gegen das für die Stadt Karlstadt erfolgreiche Urteil des LG Würzburg zurückzuweisen.

Eine Entscheidung wird für den 13.7. erwartet.

Kurz belichtet: BayObLG, Beschluss vom 26.05.2023 – Verg 2/23

Kurz belichtet: BayObLG, Beschluss vom 26.05.2023 - Verg 2/23

vorgestellt von Thomas Ax

Objektiv fehlerhaften Eigenerklärungen kommt kein Beweiswert zu. Sie können nicht Grundlage der vom Antragsgegner vorzunehmenden Eignungsprüfung sein. Das Angebot eines Bieters ist nach § 57 Abs. 1 Hs. 1 VgV zwingend auszuschließen, wenn er infolge einer objektiv fehlerhaften Eigenerklärung seine Eignung nicht nachweisen kann.

Kurz belichtet: BayObLG, Beschluss vom 08.02.2023 – Verg 17/22

Kurz belichtet: BayObLG, Beschluss vom 08.02.2023 - Verg 17/22

vorgestellt von Thomas Ax

Es steht dem (öffentlichen) Auftraggeber frei, einem Tragwerksplaner den Auftrag für die Leistungsphasen 2 und 3 zu beauftragen, ohne ihn auch mit der Grundlagenermittlung (Leistungsphase 1) zu betrauen, auch wenn es sich dabei um einen den weiteren Leistungsphasen notwendig vorangehenden Entwicklungsschritt handelt. Sind die von einem Tragwerksplaner im Rahmen der Leistungsphase 1 zu erbringenden Leistungen nicht Gegenstand der Ausschreibung, muss der künftige Auftragnehmer derartige Leistungen auch nicht erbringen. Sollte sich im Stadium der Leistungserbringung herausstellen, dass notwendige Vorleistungen für die Ausführung der ausgeschriebenen Leistungen der Leistungsphase 2 fehlen, ist der beauftragte Tragwerksplaner gehalten, deren Erbringung vom Auftraggeber einzufordern und – falls sich seine eigenen Leistungen dadurch verzögern sollten – Behinderung anzuzeigen.

Hohe Anforderungen an das Erfordernis der äußerst dringlichen und zwingenden Gründe

Hohe Anforderungen an das Erfordernis der äußerst dringlichen und zwingenden Gründe

von Thomas Ax

Nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV kann der öffentliche Auftraggeber Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben, wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das offene und das nicht offene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind. Dabei dürfen die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein. Diese Voraussetzungen für eine Dringlichkeitsvergabe waren vorliegend bei Vergabe des Auftrags an die Beigeladene erfüllt.

Das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb hat Ausnahmecharakter, weshalb die entsprechenden Vorschriften als Ausnahme von den Vorschriften, die die Wirksamkeit der im Gemeinschaftsrecht anerkannten Rechte im Bereich des öffentlichen Auftragswesens gewährleisten sollen, eng auszulegen sind (EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2009, C-275/08, NZBau 2010, 63 Rnrn. 54, 55). Wegen des Gefahrenpotenzials für Wettbewerb, Gleichbehandlung der Bieter und Transparenz in Vergabeverfahren kommt das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb, bei dem nach § 134 Abs. 3 Satz 1 GWB auch die Bieterinformation entfällt, nur in eng zu begrenzenden Ausnahmefällen in Betracht (Senatsbeschluss vom 10. Juni 2015, Verg 39/14, NZBau 2015, 572 Rn. 18).

Für die Dringlichkeitsvergabe nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV, der Art. 32 Abs. 2 lit. c der Vergaberichtlinie 2014/24/EU umsetzt, müssen drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein (EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2009, C-275/08, NZBau 2010, 63 Rn. 68). Es müssen ein unvorhersehbares Ereignis, dringliche und zwingende Gründe, die die Einhaltung der in anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen nicht zulassen, und ein Kausalzusammenhang zwischen dem unvorhersehbaren Ereignis und den sich daraus ergebenden dringlichen, zwingenden Gründen gegeben sein (EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2009, C-275/08, NZBau 2010, 63 Rn. 69). Der öffentliche Auftraggeber darf die bestehende Dringlichkeitssituation folglich nicht durch Nachlässigkeit selbst herbeigeführt haben. Die Auffassung, ein Auftraggeber könne sich auf die Dringlichkeit auch dann berufen, wenn er sie verursacht habe, ist abzulehnen (Senatsbeschlüsse vom 29. Februar 2012, Verg 75/11, BeckRS 2012, 8570, und vom 10. Juni 2015, Verg 39/14 (NZBau 2015, 572 Rn. 18 – Feldlager Mazar-e-Sharif); sie steht nicht im Einklang mit § 14 Abs. 4 Nr. 3 Halbsatz 2 VgV und Art. 32 Abs. 2 lit c. Satz 2 der Vergaberichtlinie, wonach die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein dürfen. Ob für Vergaben im Bereich der Daseinsvorsorge vor dem Hintergrund Funktionsgewährleistungspflicht nach Art. 14 AEUV anderes zu gelten hat, bedarf vorliegend keiner Entscheidung.

An das Erfordernis der äußerst dringlichen und zwingenden Gründe werden hohe Anforderungen gestellt (BayObLG, Beschluss vom 20. Januar 2022, Verg 7/21 NZBau 2022, 172 Rn. 62; OLG Celle, Beschluss vom 24. September 2014, 13 Verg 9/14, NZBau 2014, 784 Rn. 34; Völlink in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl. 2020, VgV § 14 Rn. 58). Vorausgesetzt ist eine drohende gravierende Beeinträchtigung für die Allgemeinheit und die staatliche Aufgabenerfüllung für den Fall, dass ein reguläres Vergabeverfahren durchgeführt würde (BayObLG, Beschluss vom 20. Januar 2022, Verg 7/21 NZBau 2022, 172 Rn. 62). Hierzu gehören akute Gefahrensituationen und Fälle höherer Gewalt, die zur Vermeidung von Schäden für Leib und Leben der Allgemeinheit ein sofortiges, die Einhaltung von Fristen ausschließendes Handeln erfordern (OLG Celle, Beschluss vom 24. September 2014, 13 Verg 9/14, NZBau 2014, 784 Rn. 55; Völlink in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl. 2020, VgV § 14 Rn. 62). Dabei trägt der öffentliche Auftraggeber nach dem Grundsatz, dass derjenige, der sich auf eine Ausnahme berufen will, die Feststellungslast dafür, dass die die Ausnahme rechtfertigenden außergewöhnlichen Umstände tatsächlich vorliegen (EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2009, C-275/08, NZBau 2010, 63 Rn. 56). Bei der Feststellung der Eilbedürftigkeit der Beschaffung ist ihm allerdings ein Beurteilungsspielraum zuzuerkennen, dessen Ausübung nach allgemeinen Grundsätzen von den Vergabenachprüfungsinstanzen lediglich darauf zu überprüfen ist, ob er die Entscheidung auf der Grundlage eines zutreffend ermittelten Sachverhalts getroffen und diese nicht mit sachfremden Erwägungen, sondern willkürfrei sowie in Übereinstimmung mit hergebrachten Beurteilungsgrundsätzen begründet hat. Doch müssen die für eine Dringlichkeit herangezogenen Gründe objektiv nachvollziehbar gegeben sein (Senatsbeschluss vom 10. Juni 2015, Verg 39/14, NZBau 2015, 572 Rn. 18).

Dsbzgl Erwägungen der Vergabestelle sind nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 VgV im Vergabevermerk zu dokumentieren. Insoweit reicht es jedoch aus, die wesentlichen Aspekte niederzulegen. Die Vergabestelle muss nicht jedes Detail ihrer Überlegungen festhalten, eine solche Anforderung würde den zumutbaren Rahmen eines Vergabeverfahrens sprengen (OLG München Beschluss vom 11. April 2013, Verg 3/13, BeckRS 2013, 7174). Verbleibende Dokumentationsmängel sind heilbar und können durch nachgeschobenen Vortrag der Antragsgegnerin im Verfahren geheilt werden (Senatsbeschluss vom 21. Oktober 2015, Verg 28/14, BeckRS 2015, 18210 Rn. 175). Es kann der Vergabestelle nicht unter dem Gesichtspunkt fehlender Dokumentation verwehrt werden, weitere Umstände oder Gesichtspunkte vorzutragen, mit denen die sachliche Richtigkeit einer angefochtenen Vergabeentscheidung außerdem nachträglich verteidigt werden soll (BGH, Beschluss vom 8. Februar 2011, X ZB 4/10, NZBau 2011, 175 Rn. 73 – Abellio Rail).