Ax Vergaberecht

Praxistipp – Nachlass unter Bedingung gestellt: Änderung der Vergabeunterlagen führt zum Ausschluss des Angebotes

VergMan ® für Bewerber und Bieter - Praxistipp - Nachlass unter Bedingung gestellt: Änderung der Vergabeunterlagen führt zum Ausschluss des Angebotes

von Thomas Ax

Angebote, die Änderungen der Vergabeunterlagen beinhalten, sind auszuschließen. Das gilt auch im Verhandlungsverfahren, wenn sich der Auftraggeber die Zuschlagerteilung ohne weitere Verhandlungen vorbehält.

Eine unzulässige Änderung der Vergabeunterlagen liegt vor, wenn der Bieter den unbedingt anzubietenden Nachlass unter verschiedene Bedingungen stellt. Dies ist zB der Fall bei HOAI-konformer Ermittlung verschiedener Honorarparameter, obwohl der Vertrag von der HOAI abweichende Regelungen enthält.

Eine Aufklärung des von den Vergabeunterlagen abweichenden Angebots ist unzulässig, wenn sich der Auftraggeber die Zuschlagerteilung ohne weitere Verhandlungen vorbehalten hat und das Hinwegdenken der Abweichungen zu einer Änderung des Angebots führen würde.

Praxistipp – Aufhebung geht immer, kann aber Schadensersatzansprüche der Bieter auslösen

VergMan ® für öffentliche Auftraggeber - Praxistipp - Aufhebung geht immer, kann aber Schadensersatzansprüche der Bieter auslösen

von Thomas Ax

Ein öffentlicher Auftraggeber ist aufgrund eines einmal eingeleiteten Vergabeverfahrens grundsätzlich nicht zur Zuschlagserteilung verpflichtet. Auch dann, wenn kein in den Vergabe- und Vertragsordnungen anerkannter Aufhebungsgrund vorliegt, kann ein öffentlicher Auftraggeber von einem Vergabeverfahren Abstand nehmen.

Nur in Ausnahmefällen kann ein Anspruch auf Fortsetzung des Vergabeverfahrens angenommen werden. Das ist der Fall, wenn der öffentliche Auftraggeber für seine Aufhebungsentscheidung keinen sachlichen Grund vorweisen kann und sie deshalb willkürlich ist oder wenn die Aufhebung bei fortbestehender Beschaffungsabsicht nur zu dem Zweck erfolgt, Bieter zu diskriminieren.

Stellt ein öffentlicher Auftraggeber vor Zuschlagserteilung einen erheblichen Fehler in den Vergabeunterlagen fest, ist er zu einer Fehlerkorrektur grundsätzlich berechtigt. Eine bereits erfolgte Submission schließt eine solche Fehlerkorrektur nicht aus.

Bei der rechtlichen Überprüfung einer vollständigen oder auch nur teilweisen Aufhebung eines Vergabeverfahrens ist zwischen der Wirksamkeit und der Rechtmäßigkeit der (Teil-)Aufhebungsentscheidung öffentlicher Auftraggeber zu unterscheiden.

Das Nichtvorliegen eines in den Vergabe- und Vertragsordnungen anerkannten Aufhebungsgrunds führt zu auf das negative Interesse gerichteten Schadensersatzansprüchen der Bieter, die möglicherweise infolge der Aufhebung oder Zurückversetzung vergeblich ein Angebot erstellt haben oder ein vollständig neues und erneut kostenaufwändiges Angebot erstellen müssen.

Wann ist die Aufgreifschwelle für eine Preisprüfung überschritten?

Wann ist die Aufgreifschwelle für eine Preisprüfung überschritten?

von Thomas Ax

Nach § 60 Abs. 1 VgV bedarf es einer Preisprüfung durch den Auftraggeber, wenn der Preis oder die Kosten eines Angebots im Verhältnis zu der zu erbringenden Leistung dem Auftraggeber ungewöhnlich niedrig erscheinen. Der Auftraggeber hat für die Entscheidung der Frage, ob der Preis eines Angebotes ungewöhnlich niedrig erscheint, grundsätzlich einen Einschätzungs- bzw. Beurteilungsspielraum, der von ihm pflichtgemäß und damit fehlerfrei auszuüben ist.
Im Nachprüfungsverfahren ist dieser Beurteilungsspielraum somit nur auf etwaige Beurteilungsfehler hin zu prüfen. Der Auftraggeber muss bei seiner Einschätzung nach § 60 Abs. 1 VgV somit insbesondere sachgemäß und willkürfrei vorgehen und den entscheidungsrelevanten Sachverhalt zugrunde legen. Dies dient dazu, entsprechend zweifelhafte Angebot zu identifizieren, um ggf. eine Prüfung nach § 60 Abs. 2 VgV einzuleiten.

Für die Einleitung einer Preisprüfung nach § 60 Abs. 1 VgV ist das Überschreiten einer Aufgreifschwelle erforderlich, um den Auftraggeber zu einer entsprechenden Preisaufklärung zu veranlassen. Denn grundsätzlich sind – auch deutliche – Preisabstände zwischen Angeboten einem Vergabewettbewerb immanent. Eine Preisprüfung nach § 60 VgV kommt daher nur in Betracht, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Unauskömmlichkeit bestehen.
Vor diesem Hintergrund ist im Hinblick auf § 60 Abs. 1 VgV die Aufgreifschwelle erreicht, wenn sich einzelne Angebote erheblich von anderen Angeboten oder von der Kostenschätzung des Auftraggebers absetzen. Das OLG Düsseldorf hat in seiner Rechtsprechung diese Aufgreifschwelle für den Regelfall bei einem Abstand von mindestens 20% des betroffenen zum nächstgünstigeren Angebot konkretisiert (vgl. nur OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29. Mai 2020, Verg 26/19 m.w.N.).

Ein Auftraggeber darf auch unabhängig vom Vorliegen eines ungewöhnlich niedrigen Preises jederzeit in eine Preisaufklärung eintreten, wenn – angesichts einer Preisspreizung und einer Abweichung von der Kostenschätzung – Anlass hierfür gegeben ist (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19. Mai 2021 – Verg 41/20). Dies korrespondiert damit, dass der Auftraggeber grundsätzlich alle relevanten Merkmale des konkreten Auftragsgegenstandes in den Blick nehmen muss, die eine Einschätzung ermöglichen können, ob der angebotene Preis, im Verhältnis zu der zu erbringenden Leistung ungewöhnlich niedrig erscheint (vgl. EuGH, Urteil vom 15. September 2020, C-669/22 Rn. 35 ff.).

Um nach § 60 Abs. 1 VgV das Verhältnis zwischen dem angebotenen Preis und der zu erbringenden Leistung sachgemäß einschätzen zu können, ist mithin die Berücksichtigung und damit eine grundsätzliche Betrachtung und Würdigung aller für die Angebotskalkulation relevanten Merkmale geboten.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht unsachgemäß, wenn der öffentliche Auftraggeber nicht nur die jeweils preisgünstigsten Angebote einer Prüfung der Auskömmlichkeit unterwirft und aufklärt, sondern auch darüber hinaus die konkrete Angebotslage insgesamt in den Blick nimmt, mithin auch die teuersten Angebote in den Blick nimmt, um eine plausible Einschätzung der Marktüblichkeit der eingegangenen Angebote vornehmen zu können.

Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten für den AG notwendig?

Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten für den AG notwendig?

von Thomas Ax

Die Entscheidung über die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts als Verfahrensbevollmächtigten im Nachprüfungsverfahren bedarf einer einzelfallgerechten Betrachtung, abstellend auf den Zeitpunkt der Hinzuziehung (vgl. BGH, Beschluss vom 26. September 2006, X ZB 14/06; vgl. ferner OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. September 2022, Verg 15/22). Die Notwendigkeit der Hinzuziehung hängt davon ab, ob der jeweilige Verfahrensbeteiligte nach den Umständen des Falles auch selbst in der Lage gewesen wäre, den Sachverhalt aufgrund der bekannten bzw. erkennbaren Tatsachen zu erfassen, der im Hinblick auf eine Missachtung von Bestimmungen über das Vergabeverfahren von Bedeutung ist, hieraus die für eine sinnvolle Rechtswahrung bzw. -verteidigung nötigen Schlüsse zu ziehen und das danach Gebotene gegenüber der Vergabekammer vorzubringen (BGH, a.a.O.; OLG Düsseldorf, a.a.O.).

Maßgeblich ist bei der Abwägung, ob die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts notwendig war oder nicht, ob sich im Nachprüfungsverfahren für den Auftraggeber im Wesentlichen auftragsbezogene Sach- und Rechtsfragen einschließlich der dazugehörigen vergaberechtlichen Vorschriften gestellt haben. In diesem Fall ist es grundsätzlich nicht notwendig, dass er hierfür einen Rechtsanwalt zu Rate ziehen muss. Diese Angelegenheiten betreffen den originären Aufgabenkreis des öffentlichen Auftraggebers, für die er sich selbst die notwendigen Sach- und Rechtskenntnisse verschaffen muss, so dass es auch im Nachprüfungsverfahren nicht geboten ist, einen Rechtsanwalt als Bevollmächtigten hinzuzuziehen (OLG Düsseldorf, a.a.O.). Zu berücksichtigen ist ferner der Grad der Einfachheit oder Komplexität des Sachverhaltes, die Komplexität oder Überschaubarkeit der zu beurteilenden Rechtsfragen sowie persönliche Umstände wie u.a. die sachliche oder personelle Ausstattung des Verfahrensbeteiligten (BGH, a.a.O.; OLG Düsseldorf, a.a.O.).

Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts kann daher insbesondere geboten sein, wenn sich im Nachprüfungsverfahren nicht einfachgelagerte Rechtsfragen stellen, insbesondere solcher verfahrensrechtlicher Natur oder solcher Art, die auf einer höheren Rechtsebene als der der Vergabeordnungen zu entscheiden sind (OLG Düsseldorf, a.a.O.). Einerseits: Fragen der Angebotsprüfung, insbesondere im Hinblick auf die Eignung sowie die Prüfung der Auskömmlichkeit der Angebotspreise und damit auftragsbezogene Fragestellungen muss ein öffentlicher Auftraggeber prinzipiell beherrschen. Andererseits: Überlegungen zur Zusammensetzung der ASt im Hinblick auf die Anforderungen des Kartellverbots nach § 1 GWB stellen eine nicht einfach gelagerte, nicht dem Vergaberecht zuzurechnende Sach- und Rechtsfrage dar, die hier somit über die auftragsbezogenen vergaberechtlichen Fragestellungen hinausreicht.

OLG Karlsruhe: Auftraggeber darf Vergabeunterlagen nachträglich ändern

OLG Karlsruhe: Auftraggeber darf Vergabeunterlagen nachträglich ändern

1. Im Verhandlungsverfahren mit vorgeschaltetem Teilnahmewettbewerb prüft der öffentliche Auftraggeber die Eignung der am vorgeschalteten Wettbewerb teilnehmenden Unternehmen, bevor er sie zum Verhandlungsverfahren zulässt. Mit der positiven Eignungsprüfung wird – anders als im offenen Verfahren – ein Vertrauenstatbestand für die zum Verhandlungsverfahren zugelassenen Unternehmen begründet.

2. Die zum Verhandlungsverfahren zugelassenen Unternehmen müssen nicht damit rechnen, der ihnen durch die Erstellung der Angebote und Teilnahme am Wettbewerb entstandene Aufwand könnte dadurch nachträglich nutzlos werden, dass der Auftraggeber ihre Eignung auf gleichbleibender tatsächlicher Grundlage später nochmals abweichend beurteilt.

3. Der öffentliche Auftraggeber ist berechtigt, die Vergabeunterlagen im laufenden Vergabeverfahren zu ändern, sei es zur Korrektur von Vergaberechtsverstößen oder aus Gründen der Zweckmäßigkeit, sofern dies nur in einem transparenten Verfahren und diskriminierungsfrei geschieht. Die Änderungsbefugnis des Auftraggebers bezieht sich auf alle Bestandteile der Vergabeunterlagen, so die Leistungsbeschreibung, Zuschlagskriterien, Unterkriterien und Gewichtungen.

4. Der maßgeblichen Stufen des Vergabeverfahrens sind fortlaufend zu dokumentieren. Insbesondere ist die Wertungsentscheidung des Auftraggebers so zu dokumentieren, dass sie inhaltlich nachzuvollziehen ist.

5. Ein Bieter kann sich nur dann auf eine fehlende oder unzureichende Dokumentation stützen, wenn sich die diesbezüglichen Mängel auf seine Rechtsstellung im Vergabeverfahren nachteilig ausgewirkt haben. Die Dokumentation ist kein Selbstzweck.
OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20.09.2024 – 15 Verg 9/24

Kurz belichtet – VK Bund: Längere Gewährleistungsfrist ist zulässiges Zuschlagskriterium

Kurz belichtet - VK Bund: Längere Gewährleistungsfrist ist zulässiges Zuschlagskriterium

1. Der öffentliche Auftraggeber darf nur solche Zuschlagskriterien berücksichtigen, die in der Bekanntmachung oder den Vergabeunterlagen genannt sind.

2. Der Katalog der zulässigen Zuschlagskriterien in § 16d EU Abs. 2 VOB/A 2019 ist nicht abschließend. Entscheidend ist, ob das Zuschlagskriterium mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung steht.

3. Verbindung zwischen Zuschlagskriterium und Auftragsgegenstand besteht auch dann, wenn sich ein Zuschlagskriterium auf Prozesse im Zusammenhang mit der Herstellung, Bereitstellung oder Entsorgung der Leistung, auf den Handel mit der Leistung oder auf ein anderes Stadium im Lebenszyklus der Leistung bezieht.

4. Längere als die in § 13 Abs. 4 VOB/B genannten Gewährleistungsfristen für Mängel können ein zulässiges Zuschlagskriterium sein. Durch eine Verlängerung der Gewährleistungsfristen wird den Bietern kein ungewöhnliches Wagnis aufgebürdet.

5. Der Preis hat stets ein gewichtiges Merkmal darzustellen, das beim Zuschlagskriterium des wirtschaftlichsten Angebots nicht am Rande der Wertung stehen darf, sondern das vom Auftraggeber in ein angemessenes Verhältnis zu den übrigen Wertungskriterien zu bringen ist.

6. Geht der Preis mit einer Gewichtung von 80 % und die Qualität der Leistung mit einer Gewichtung von 20 % in die Wertung ein, kann nicht angenommen werden, der Zuschlag könne losgelöst von der Qualität der Leistung erteilt werden.
VK Bund, Beschluss vom 27.09.2024 – VK 2-69/24

CO2-Schattenpreis, CO2-Emissionen in Umsetzung von § 8 Absatz 2 Klimaschutz- und Klimawandelanpassungsge- setz Baden-Württemberg (KlimaG BW)

CO2-Schattenpreis, CO2-Emissionen in Umsetzung von § 8 Absatz 2 Klimaschutz- und Klimawandelanpassungsge- setz Baden-Württemberg (KlimaG BW)

vorgestellt von Thomas Ax

In Umsetzung von § 8 Absatz 2 Klimaschutz- und Klimawandelanpassungsgesetz Baden-Württemberg (KlimaG BW) soll bei der Beschaffung von Liefer- und Dienstleistungen durch das Land im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsuntersuchung ein rechnerischer Preis veranschlagt werden. Dieser Preis entspricht dem vom Umweltbundesamt wissenschaftlich ermittelten und empfohlenen Wert für jede über den Lebenszyklus der Maßnahme entstehende Tonne Kohlenstoffdioxid (CO2) (CO2-Schattenpreis).

Ein CO2-Schattenpreis ist nicht zu veranschlagen, wenn der Auftragswert die Höhe von 100 000 Euro ohne Umsatzsteuer nicht übersteigt. Ein CO2-Schattenpreis ist auch dann nicht zu veranschlagen, wenn keine verlässlichen und belastbaren Hilfestellungen für die Berechnung von CO2-Emissionen der Leistung beziehungsweise Leistungs- oder zumindest Produktgruppe verfügbar sind.

Zur Berücksichtigung der Klimafolgen in der Angebotswertung hat sich in anderen Staaten bereits etabliert, die Angebotswertung auf Grundlage der Angebotssumme zuzüglich eines Schattenpreises für die Treibhausgasemissionen durchzuführen. Die auf Grundlage der Ökobilanz ermittelten CO 2e-Emissionen können bepreist werden, um die Klimafolgekosten zu ermitteln und bei der Investitionsentscheidung zu berücksichtigen. Durch die Festlegung des CO 2e-Preises entscheidet der Auftraggeber faktisch, welche Bedeutung er dem Klimaschutz im jeweiligen Projekt beimisst. Je höher der angesetzte CO 2 e-Preis ist, desto höher ist die Bereitschaft des Auftraggebers, höhere Investitionen für den Klimaschutz zu tätigen.

Die Berücksichtigung eines CO 2e-Schattenpreises für die Angebotswertung ist ein international etabliertes, marktwirtschaftliches Instrument.

Im Grundsatz wird den Leistungen der Bieter das Treibhauspotenzial zugewiesen, das der Auftraggeber hierfür auf Grundlage von Standarddaten in der Ökobilanz ermittelt hat. Die so ermittelte CO 2e Menge wird mit einem für alle Bieter einheitlichen Schattenpreis je Tonne CO 2e belegt. Dieser Schattenpreis wird nur für die Zwecke der Wertung auf den Angebotspreis aufgeschlagen.

Wettbewerb entsteht dadurch, dass Bieter die Möglichkeit erhalten, das in der Ökobilanz kalkulierte Treibhauspotenzial zu reduzieren.

Hierzu erhalten die Bieter die Möglichkeit, in ihrem Angebot das von ihnen beeinflussbare Treibhauspotenzial ihrer Leistung abweichend von den Werten in der Ökobilanz des Auftraggebers in CO 2 e auszuweisen. Hierdurch können sie die CO 2 e Menge ihrer Leistung reduzieren, den CO 2e Schattenpreis reduzieren und durch ihren Beitrag zum Klimaschutz einen Wertungsvorteil erreichen.

Das Modell ist vergaberechtlich zulässig sowie einfach und transparent umsetzbar. Es erfordert aber eine belastbare Datengrundlage für Treibhausgasemissionen.

Nach dem hier vorgeschlagenen Wertungsmodell lässt sich der Auftraggeber mit dem Angebot das durch die angebotenen Leistungen des Bieters verursachte Treibhauspotenzial (GWP) in kg CO 2e angeben. Dieses Treibhauspotenzial wird anschließend bepreist. Der so ermittelte Wert wird für die Zwecke der Angebotswertung auf den Angebotspreis aufgeschlagen. Die Summe bildet den Wertungspreis. Dieses Wertungsmodell genügt den vergaberechtlichen Anforderungen. Es sichert den Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot und gewährleistet Wettbewerb. Im Einzelnen: Der Zuschlag muss auf das wirtschaftlichste Angebot erteilt werden. Wirtschaftlichkeit ist das beste Preis-Leistungs-Verhältnis, § 127 Abs. 1 Satz 2 GWB. Diese Definition erlaubt die Berücksichtigung der Klimafolgekosten. Denn die Rechtsprechung hat schon lange geklärt, dass im Rahmen der Angebotswertung Aspekte berücksichtigt werden dürfen, die nicht unmittelbar oder allein dem Auftraggeber, sondern (auch) der Allgemeinheit zugutekommen. Dies ist nun auch in § 127 Abs. 1 Satz 4 GWB geregelt. Erforderlich ist aber immer, dass die Zuschlagskriterien auftragsbezogen gewertet werden. Es dürfen also nur Merkmale gewertet werden, die der Leistungserbringung innewohnen und mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung stehen. Die Bewertung von Klimafolgen und insbesondere des Treibhauspotenzials ist also vergaberechtlich rechtssicher möglich.

Zuschlagskriterien sind nach § 127 Abs. 4 GWB so zu gestalten, dass die Möglichkeit eines wirksamen Wettbewerbs gewährleistet wird, der Zuschlag nicht willkürlich erteilt werden kann und eine wirksame Überprüfung möglich ist, ob und inwieweit die Angebote die Zuschlagskriterien erfüllen.

Der Auftraggeber erstellt im Grundmodell eine Ökobilanz. Auf Grundlage der Ökobilanz werden je Los die CO 2e-Treiber identifiziert. Soweit diese CO 2 e-Treiber von den Bietern vor dem Hintergrund der Leistungsbeschreibung (noch) beeinflussbar sind, werden die Bieter aufgefordert, das Treibhauspotenzial ihrer angebotenen Ausführung nach einem einheitlichen Berechnungsverfahren zu ermitteln und auszuweisen.

Die Bieter weisen in ihrem Angebot das Treibhauspotenzial ihrer Leistung in CO 2 e aus.

Sie können für die Zwecke der Einfachheit auf eine Angabe verzichten. In diesem Fall geht der Auftraggeber davon aus, dass diese Leistungen mit den in der Ökobilanz ermittelten CO 2 e-Emissionen erbracht werden. Die Summe der CO 2 e-Emissionen (das Treibhauspotenzial) wird mit einem vom Auftraggeber im Vorfeld einheitlich definierten und transparent gemachten CO 2e-Preis bewertet. Die so ermittelten Klimafolgekosten bilden einen Schattenpreis. Für die Zwecke der Preiswertung werden der Angebotspreis und der Schattenpreis der Klimafolgen addiert und bilden gemeinsam den Wertungspreis. Zuschlagskriterium sind über die Lebenszykluskosten mithin die Klimafolgekosten, ermittelt über das Produkt aus Treibhauspotenzial in kg CO 2e und einem angemessenen Preis je Tonne CO 2e.

Zum Nachweis des Treibhauspotenzials können für projektspezifische Ökobilanzen sogenannte Umweltproduktdeklarationen (Environmental Product Declaration, EPD) genutzt werden. Für die Berechnung von Ökobilanzen stehen verschiedene, teils frei verfügbare Ökobilanzierungs-Tools zur Verfügung.

Die Bepreisung des Treibhauspotenzials kann nur dann ein erfolgreiches Wertungssystem sein, wenn es einfach handhabbar und transparent ist und Unternehmen die Möglichkeit eröffnet, sich gegenüber ihren Wettbewerbern zu differenzieren. Um eine Überforderung des Marktes zu vermeiden, muss es derzeit noch möglich sein, dass Bieter auf einen Nachweis des konkreten Treibhauspotenzials ihrer Leistung verzichten, jedenfalls bis sich entsprechende Nachweise etabliert haben.

Soweit Bieter Angaben zu dem Treibhauspotenzial ihrer Leistung machen möchten, braucht es einfacher Regeln für deren Bilanzierung. Um Innovationen zuzulassen, muss es Bietern möglich sein, das Treibhauspotenzial durch die Nutzung von EPD produktspezifisch nachzuweisen.

Der Auftraggeber stellt den Bietern im Vergabeverfahren die Ergebnisse seiner Ökobilanz zur Verfügung. Den Bietern wird freigestellt, in ihrem Angebot nachzuweisen, dass sie die errechneten Werte durch ihre Leistungen unterschreiten. Dazu kann das in der Ökobilanz des Auftraggebers ermittelte Treibhauspotenzial der Einfachheit halber direkt im Leistungsverzeichnis in CO 2 e ausgewiesen werden.

Auf dieser Grundlage können die Bieter schnell erkennen, an welchen Stellen die Möglichkeit besteht, zum Beispiel durch ein bestimmtes angebotenes Material oder Produkt eine Verbesserung des Treibhauspotenzials zu erzielen. Das heißt, die Bieter müssen für die von ihnen angebotenen Leistungen keine vollständige Ökobilanz erstellen. Soweit der Auftraggeber den Wettbewerb um das Treibhauspotenzial eröffnet hat, können sie im Angebot darstellen, inwiefern sich durch ihre Leistungen das mit der Ökobilanz des Auftraggebers ermittelte Treibhauspotenzial verringert, zum Beispiel durch den Einsatz eines besonders klimaverträglichen Produkts.

Im Grundmodell erstellt der Auftraggeber vor der Ausschreibung eine Ökobilanz.

Diese Ökobilanz weist das Treibhauspotenzial im Lebenszyklus aus. Um eine Überforderung des Marktes zu verhindern und das Verfahren zu vereinfachen, sollte die Angabe des angebotsspezifischen Treibhauspotenzials nicht verpflichtend sein. Die Bieter erhalten also lediglich die Möglichkeit, die auf Basis von Standardwerten kalkulierte Ökobilanz zu unterbieten. Soweit ein Bieter diese Möglichkeit nicht nutzt, kann für seine Leistung der Wert aus der Ökobilanz des Auftraggebers angesetzt werden. Denkbar wäre auch für die Zwecke der Wertung dieser Bieter den in der Ökobilanz angesetzten Wert zuzüglich eines Aufschlags, zum Beispiel von 10 %, anzusetzen. Es ließe sich vertreten, dass ohne einen solchen Aufschlag Bieter bevorteilt werden könnten, die besonders treibhausgasemissionsintensive aber möglicherweise kostengünstigere Produkte einsetzen. Eine solche Regelung wäre transparent und würde niemanden benachteiligen, da durch die Einreichung eines leistungsspezifischen Nachweises eine leistungsgerechte Wertung möglich wäre.

Das auf die dargestellte Weise ermittelte (gegebenenfalls verringerte) Treibhauspotenzial wird dann auf Basis des festgelegten CO 2 e-Preises in Klimafolgekosten umgerechnet. Dieser Schattenpreis wird zur Ermittlung des Wertungspreises zu dem Angebotspreis addiert.

Der Auftraggeber muss bereits in den Vergabeunterlagen festlegen, welchen Preis er für eine Tonne CO 2e-Emissionen im Lebenszyklus zugrunde legt. Das hier vorgeschlagene Wertungsmodell sieht vor, dass das gesamte Treibhauspotenzial der angebotenen Leistungen über den Betrachtungszeitraum in der Summe betrachtet und mit dem bei Ablauf der Angebotsfrist in den Vergabeunterlagen definierten CO 2e-Preis gerechnet wird. Es bleibt also unberücksichtigt, wie sich der CO 2e-Preis im Zeitverlauf entwickelt und es erfolgt keine Diskontierung der in der Zukunft anfallenden Klimafolgekosten. Dies ist nicht erforderlich. Denn Ziel des Wertungsmodells ist die maximale Reduktion von Treibhausgasemissionen und keine wirtschaftliche Betrachtung, die eine Differenzierung hinsichtlich des Zeitpunktes erfordern würde.

Den „richtigen“ CO 2 e-Preis gibt es nicht, die Spanne bewegt sich zwischen EUR 30 und EUR 809. Je höher dieser Preis ist, desto wirkungsvoller ist er bei der Suche nach klimaverträglichen Lösungen. § 13 Abs. 1 KSG erfordert schon heute, dass bei der Planung, Auswahl und Durchführung von Investitionen ein CO 2e-Preis zu berücksichtigen ist, der mindestens dem nach § 10 Abs. 2 Brennstoff-Emissionshandelsgesetz (BEHG) gültigen Preis pro Tonne entspricht. Dieser liegt aktuell bei EUR 30 und damit deutlich unter den volkswirtschaftlichen Klimafolgekosten. Das Umweltbundesamt beziffert den CO 2 e-Preis pro Tonne aktuell (2023) je nach Gewichtung der Wohlfahrt heutiger gegenüber zukünftigen Generationen zwischen EUR 237 und EUR 809. Zwischen diesen Werten liegt der Preis für Emissionszertifikate im Europäischen Emissionshandel nach § 7 Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz (TEHG) von zuletzt bis zu EUR 100, der künftig auch für den Import energieintensiver Materialien aus Drittstaaten veranschlagt wird (u.a. Stahl und Zement) oder der CO 2e-Preis von mindestens EUR 195 nach § 10 Abs. 5 i.V.m. § 29 Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz, § 2 Klimakostenverordnung.

Der Auftragnehmer hat für die Angaben zum Treibhauspotenzial seiner Produkte im Angebot je nach Gestaltung des Vergabeverfahrens drei verschiedene Möglichkeiten, aus denen sich dann auch der Umfang des Nachweises ergibt.

− Der Auftragnehmer kann darauf verzichten, spezifische Angaben zum Treibhaupotenzial der von ihm eingesetzten Materialien zu machen. In diesem Fall wird für die Angebotswertung das Treibhauspotenzial vom Auftraggeber auf Grundlage generischer Daten zu Grunde gelegt. Der Auftragnehmer hat in der Auftragsdurchführung keine Nachweise zum Treibhauspotenzial dieser Produkte zu erbringen.

− Alternativ kann der Auftragnehmer das spezifische Treibhauspotenzial der von ihm für den Einsatz vorgesehenen Produkte angeben. Dieses wird der Angebotswertung zu Grunde gelegt und kann zu einem Wertungsvorteil führen. Der Auftragnehmer hat dann in der Auftragsdurchführung nachzuweisen, dass die angebotenen Produkte auch eingesetzt wurden und muss die produktspezifischen EPD vorlegen.

− Eine dritte Variante ist, dass der Auftragnehmer das Treibhauspotenzial der zum Einsatz vorgesehenen Produkte auf Grundlage durchschnittlicher Datensätze benennt. Dieses wird der Angebotswertung zu Grunde gelegt und kann zu einem Wertungsvorteil führen. In der Auftragsdurchführung ist auch hier der Einsatz der angebotenen Produkte nachzuweisen und jeweils eine für diese gültige EPD als „average dataset“ vorzulegen (durchschnittliche Datensätze von Industrieverbänden, mehreren Firmen, mehreren Werken oder mehreren Produkten (d.h. auf Grundlage von Daten der Industrieproduktion von Unternehmen)).

Die Überschreitung des angebotenen Treibhauspotenzials seiner Leistungen, darf sich für den Auftragnehmer nicht lohnen. Nur so kann ein fairer Wettbewerb gewährleistet werden. Hält der Auftragnehmer die übernommenen Pflichten nicht ein, kann sich der Auftraggeber auf seinen Erfüllungsanspruch berufen. Dieser umfasst auch die im Angebot enthaltenen Zusagen des Auftragnehmers zum Treibhauspotenzial seiner Leistungen. Es bedarf daher vertraglicher Regelungen zum Umgang mit Abweichungen von dem vom Auftragnehmer angebotenen Treibhauspotenzial seiner Leistungen. Diese müssen die Untererfüllung der versprochenen Angaben an finanzielle Folgen knüpfen, mindestens den Wertungsvorteil abschöpfen. Darüber hinaus sollten sie einen finanziellen Anreiz für eine Übererfüllung setzen.

Im Rahmen des preislichen Zuschlagskriteriums „Lebenszykluskosten“ werden die Lebenszykluskosten der angebotenen Leistungen bewertet, einschließlich der

  • Anschaffungskosten,
  • Kosten, die durch die externen Effekte der Umweltbelastung entstehen, hier die Kosten der Emission von Treibhausgasen (Klimafolgekosten),
  • [ggf. weiteren Kosten wie Nutzungskosten, Wartungskosten, Kosten am Ende der Nutzungsdauer].


Zur Ermittlung der Klimafolgekosten wird das durch den Bieter angebotene maximale Treibhauspotenzial (Global warming potential, GWP100), berechnet in kg CO 2-Äquivalente-Emissionen (CO 2e) mit einem CO 2 e-Preis von EUR […] pro Tonne CO 2e multipliziert.

Die Bieter sind aufgefordert, Lösungen anzubieten, die zu einer Reduktion des Treibhauspotenzials der angebotenen Leistungen führen, zum Beispiel in Form von klimaverträglichen Materialien (nachfolgend auch „treibhausgasreduzierende Lösungen“ genannt).

Bewertet wird das absolute Treibhauspotenzial der vom Bieter angebotenen Leistungen in kg CO 2e für einen Betrachtungszeitraum.

Dabei dürfen die vom Bieter angebotenen Leistungen nicht zu einer Erhöhung des Treibhauspotenzial im Vergleich zu der durch den Auftraggeber zur Verfügung gestellten Ökobilanz führen.

In die Bewertung fließt das Treibhauspotenzial ein.

Sofern sich ein Bieter entscheidet, keine treibhausgasreduzierenden Lösungen anzubieten, wird für die Angebotswertung auf die Ergebnisse der Ökobilanz des Auftraggebers abgestellt und das dort ermittelte Treibhauspotenzial zugrunde gelegt.

Die für die Wertung der Klimafolgekosten einzureichenden Angaben und Unterlagen können in den Vergabeunterlagen an geeigneter Stelle wie folgt beschrieben werden:

Die Bieter sind aufgefordert, Lösungen anzubieten, die zu einer Reduktion des Treibhauspotenzials der angebotenen Leistungen führen.

Zur Berechnung der Klimafolgekosten unter Berücksichtigung der von dem Bieter angebotenen treibhausgasreduzierenden Lösungen kann der Bieter mit dem Angebot das Treibhauspotenzial in kg CO 2e in Bezug auf die von ihm angebotenen treibhausgasreduzierenden Lösungen angeben.

VergMan ® für öffentliche Auftraggeber – Bewerten Sie das zur Ausführung des Auftrages vorgesehene Personal wie folgt

VergMan ® für öffentliche Auftraggeber - Bewerten Sie das zur Ausführung des Auftrages vorgesehene Personal wie folgt

vorgestellt von Thomas Ax

Zuschlagskriterium

Art des Kriteriums: Qualität

Bezeichnung: Qualifikation und Erfahrung des einzusetzenden Personals

Beschreibung des Kriteriums

3 Punkte = sehr gut:
Aus den Nachweisen geht sehr gut hervor, dass die zur Ausführung des Auftrages vorgesehenen Personen die erforderliche Erfahrung, Qualifikation, Kenntnisse besitzen. Mit einer bestmöglichen Ausführung der Aufgaben ist auf Basis der Erfahrung und Expertise bezüglich der hier ausgeschriebenen Leistungen zu rechnen.
Darüber hinaus besteht das Projektteam aus operativ handelnden Mitarbeitern auf Senior-Ebene mit mindestens 3 Jahren relevanter Berufserfahrung, mindestens einem projektverantwortlichen Mitarbeiter auf Manager-Ebene mit mindestens 5 Jahren relevanter Berufserfahrung und mindestens einem dirigierenden Mitarbeiter auf Direktor-Ebene mit mindestens 10 Jahren relevanter Berufserfahrung.

2 Punkte = gut:
Aus den Nachweisen geht hervor, dass die zur Ausführung des Auftrages vorgesehenen Personen die erforderliche Erfahrung, Qualifikation, Kenntnisse weitestgehend besitzen. Mit einer guten Ausführung der Aufgaben ist auf Basis der Erfahrung und bezüglich der hier ausgeschriebenen Leistungen zu rechnen.
Darüber hinaus besteht das Projektteam aus operativ handelnden Mitarbeitern auf Senior-Ebene mit mindestens 3 Jahren relevanter Berufserfahrung und mindestens einem projektverantwortlichen Mitarbeiter auf Manager-Ebene mit mindestens 5 Jahren relevanter Berufserfahrung.

1 Punkt = ausreichend:
Aus den Nachweisen geht hervor, dass die zur Ausführung des Auftrages vorgesehenen Personen die erforderliche Erfahrung, Qualifikation, Kenntnisse nur mit deutlichen Abstrichen besitzen. Mit einer ausreichenden Ausführung der Aufgaben ist auf Basis der Erfahrung und Expertise bezüglich der hier ausgeschriebenen Leistungen zu rechnen.
Darüber hinaus besteht das Projektteam ausschließlich aus operativ handelnden Mitarbeitern auf Senior-Ebene mit mindestens 3 Jahren relevanter Berufserfahrung.

0 Punkte = nicht ausreichend:
Aus den Nachweisen geht hervor, dass die zur Ausführung des Auftrages vorgesehenen Personen die erforderliche Erfahrung, Qualifikation, Kenntnisse nur mit sehr starken Einschränkungen besitzen. Auf Basis der Erfahrung bezüglich der hier ausgeschriebenen Leistungen ist mit einer mangelhaften Ausführung der Aufgaben ist zu rechnen.
Darüber hinaus besteht das Projektteam aus einem operativ handelnden Mitarbeiter auf Senior-Ebene mit mindestens 3 Jahren relevanter Berufserfahrung sowie weiteren tätigen Personen auf niedrigeren Karrierestufen.

EuGH zu der Frage dass es den ursprünglichen Mitgliedern einer Bietergemeinschaft verwehrt ist, aus dieser Bietergemeinschaft auszutreten, wenn die Gültigkeitsdauer des von dieser Bietergemeinschaft eingereichten Angebots abgelaufen ist und der öffentliche Auftraggeber um die Verlängerung der Gültigkeit der bei ihm eingereichten Angebote ersucht, sofern zum einen erwiesen ist, dass die übrigen Mitglieder dieser Bietergemeinschaft die von dem Auftraggeber festgelegten Anforderungen erfüllen, und zum anderen, dass ihre weitere Teilnahme an diesem Verfahren nicht zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbssituation der übrigen Bieter führt

EuGH zu der Frage dass es den ursprünglichen Mitgliedern einer Bietergemeinschaft verwehrt ist, aus dieser Bietergemeinschaft auszutreten, wenn die Gültigkeitsdauer des von dieser Bietergemeinschaft eingereichten Angebots abgelaufen ist und der öffentliche Auftraggeber um die Verlängerung der Gültigkeit der bei ihm eingereichten Angebote ersucht, sofern zum einen erwiesen ist, dass die übrigen Mitglieder dieser Bietergemeinschaft die von dem Auftraggeber festgelegten Anforderungen erfüllen, und zum anderen, dass ihre weitere Teilnahme an diesem Verfahren nicht zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbssituation der übrigen Bieter führt

von Thomas Ax
Art. 47 Abs. 3 und Art. 48 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.03.2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge in Verbindung mit dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den ursprünglichen Mitgliedern einer Bietergemeinschaft verwehrt, aus dieser Bietergemeinschaft auszutreten, wenn die Gültigkeitsdauer des von dieser Bietergemeinschaft eingereichten Angebots abgelaufen ist und der öffentliche Auftraggeber um die Verlängerung der Gültigkeit der bei ihm eingereichten Angebote ersucht, sofern zum einen erwiesen ist, dass die übrigen Mitglieder dieser Bietergemeinschaft die von dem Auftraggeber festgelegten Anforderungen erfüllen, und zum anderen, dass ihre weitere Teilnahme an diesem Verfahren nicht zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbssituation der übrigen Bieter führt.
Die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung sowie das Transparenzgebot, wie sie in Art. 2 und im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 niedergelegt sind, sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die automatische Einbehaltung der von einem Bieter gestellten vorläufigen Kaution als Folge seines Ausschlusses von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsvertrags vorsieht, auch wenn er den betreffenden Zuschlag nicht erhalten hat.
EuGH, Urteil vom 26.09.2024 – Rs. C-403/23

Gründe

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114, berichtigt in ABl. 2004, L 351, S. 44), des Art. 6 EUV, der Art. 49, 50, 54 und 56 AEUV, der Art. 16, 49, 50 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie des Art. 4 des am 22. November 1984 in Straßburg unterzeichneten Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten.

Sie ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen – in der Rechtssache C-403/23 – der Luxone Srl, die im eigenen Namen und als Bevollmächtigte der mit der Iren Smart Solutions SpA zu gründenden Bietergemeinschaft handelt, bzw. – in der Rechtssache C-404/23 – der Sofein SpA, vormals Gi One SpA, und derselben öffentlichen Auftraggeberin, der Consip SpA, wegen der Entscheidungen, mit denen Letztere zum einen die Bietergemeinschaft, der Luxone und Sofein angehörten, von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags ausschloss und zum anderen die vorläufige Kaution einbehielt, die die Mitglieder dieser Bietergemeinschaft im Hinblick auf ihre Teilnahme an diesem Verfahren gestellt hatten.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2004/18


In den Erwägungsgründen 2 und 32 der Richtlinie 2004/18 hieß es:

“(2) Die Vergabe von Aufträgen in den Mitgliedstaaten auf Rechnung des Staates, der Gebietskörperschaften und anderer Einrichtungen des öffentlichen Rechts ist an die Einhaltung der im Vertrag niedergelegten Grundsätze gebunden, insbesondere des Grundsatzes des freien Warenverkehrs, des Grundsatzes der Niederlassungsfreiheit und des Grundsatzes der Dienstleistungsfreiheit sowie der davon abgeleiteten Grundsätze wie z. B. des Grundsatzes der Gleichbehandlung, des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung, des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Grundsatzes der Transparenz. Für öffentliche Aufträge, die einen bestimmten Wert überschreiten, empfiehlt sich indessen die Ausarbeitung von auf diesen Grundsätzen beruhenden Bestimmungen zur gemeinschaftlichen Koordinierung der nationalen Verfahren für die Vergabe solcher Aufträge, um die Wirksamkeit dieser Grundsätze und die Öffnung des öffentlichen Beschaffungswesens für den Wettbewerb zu garantieren. Folglich sollten diese Koordinierungsbestimmungen nach Maßgabe der genannten Regeln und Grundsätze sowie gemäß den anderen Bestimmungen des Vertrags ausgelegt werden.



(32) Um den Zugang von kleinen und mittleren Unternehmen [(KMU)] zu öffentlichen Aufträgen zu fördern, sollten Bestimmungen über Unteraufträge vorgesehen werden.”


Art. 2 (“Grundsätze für die Vergabe von Aufträgen”) der Richtlinie 2004/18 bestimmte:

“Die öffentlichen Auftraggeber behandeln alle Wirtschaftsteilnehmer gleich und nichtdiskriminierend und gehen in transparenter Weise vor.”

In Art. 4 (“Wirtschaftsteilnehmer”) Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 hieß es:

“Angebote oder Anträge auf Teilnahme können auch von Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern eingereicht werden. Die öffentlichen Auftraggeber können nicht verlangen, dass nur Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern, die eine bestimmte Rechtsform haben, ein Angebot oder einen Antrag auf Teilnahme einreichen können; allerdings kann von der ausgewählten Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern verlangt werden, dass sie eine bestimmte Rechtsform annimmt, wenn ihr der Zuschlag erteilt worden ist, sofern dies für die ordnungsgemäße Durchführung des Auftrags erforderlich ist.”

Art. 45 (“Persönliche Lage des Bewerbers bzw. Bieters”) Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 bestimmte:

“Von der Teilnahme am Vergabeverfahren kann jeder Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden,



c) [der] aufgrund eines nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Landes rechtskräftigen Urteils wegen eines Deliktes bestraft worden [ist], das [seine] berufliche Zuverlässigkeit in Frage stellt;

d) [der] im Rahmen [seiner] beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen [hat], die vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde;



g) [der] sich bei der Erteilung von Auskünften, die gemäß diesem Abschnitt eingeholt werden können, in erheblichem Maße falscher Erklärungen schuldig gemacht oder diese Auskünfte nicht erteilt [hat].

Die Mitgliedstaaten legen nach Maßgabe ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts die Bedingungen für die Anwendung dieses Absatzes fest.”



Art. 47 (“Wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit”) Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2004/18 sah vor:

“(2) Ein Wirtschaftsteilnehmer kann sich gegebenenfalls für einen bestimmten Auftrag auf die Kapazitäten anderer Unternehmen ungeachtet des rechtlichen Charakters der zwischen ihm und diesen Unternehmen bestehenden Verbindungen stützen. Er muss in diesem Falle dem öffentlichen Auftraggeber gegenüber nachweisen, dass ihm die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen, indem er beispielsweise die diesbezüglichen Zusagen dieser Unternehmen vorlegt.

(3) Unter denselben Voraussetzungen können sich Gemeinschaften von Wirtschaftsteilnehmern nach Artikel 4 auf die Kapazitäten der Mitglieder der Gemeinschaften oder anderer Unternehmen stützen.”


In Art. 48 (“Technische und/oder berufliche Leistungsfähigkeit”) der Richtlinie 2004/18 hieß es:

“(1) Die technische und/oder berufliche Leistungsfähigkeit des Wirtschaftsteilnehmers wird gemäß den Absätzen 2 und 3 bewertet und überprüft.



(3) Ein Wirtschaftsteilnehmer kann sich gegebenenfalls für einen bestimmten Auftrag auf die Kapazitäten anderer Unternehmen ungeachtet des rechtlichen Charakters der zwischen ihm und diesen Unternehmen bestehenden Verbindungen stützen. Er muss in diesem Falle dem öffentlichen Auftraggeber gegenüber nachweisen, dass ihm für die Ausführung des Auftrags die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen, indem er beispielsweise die Zusage dieser Unternehmen vorlegt, dass sie dem Wirtschaftsteilnehmer die erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen.

(4) Unter denselben Voraussetzungen können sich Gemeinschaften von Wirtschaftsteilnehmern nach Artikel 4 auf die Leistungsfähigkeit der Mitglieder der Gemeinschaften oder anderer Unternehmen stützen.”


Anhang VII Teil A (“Angaben, die in den Bekanntmachungen für öffentliche Aufträge enthalten sein müssen”) der Richtlinie 2004/18 sah in den Nrn. 14 und 21 des Abschnitts “Bekanntmachung” vor, dass in der Bekanntmachung “[g]egebenenfalls geforderte Kautionen und Sicherheiten” sowie die “Bindefrist (offene Verfahren)” anzugeben waren.

Richtlinie 2004/17

Aus den Art. 3 bis 9 der Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (ABl. 2004, L 134, S. 1) ergibt sich, dass diese Richtlinie für öffentliche Aufträge galt, die eine oder mehrere Tätigkeiten in den folgenden Bereichen zum Gegenstand hatten: Gas, Wärme und Elektrizität; Wasser; Verkehrsleistungen; Postdienste; Aufsuchen und Förderung von Erdöl, Gas, Kohle und anderen festen Brennstoffen.

Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17 hatte den gleichen Wortlaut wie Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18, abgesehen davon, dass der Ausdruck “Auftraggeber” durch eine Bezugnahme auf “öffentliche Auftraggeber” ersetzt wurde.

Italienisches Recht

Das Decreto legislativo n.°163 – Codice dei contratti pubblici relativi a lavori, servizi e forniture in attuazione delle direttive 2004/17/CE e 2004/18/CE (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 163 – Gesetzbuch über öffentliche Bau-, Dienstleistungs- und Lieferaufträge zur Umsetzung der Richtlinien 2004/17/EG und 2004/18/EG) vom 12. April 2006 (Supplemento Ordinario Nr. 107 zur GURI Nr. 100 vom 2. Mai 2006, im Folgenden: Altes Gesetzbuch über öffentliche Aufträge) enthielt einen Art. 11 (“Verfahren zur Auftragsvergabe”), dessen Abs. 6 bestimmte:

“Jeder Teilnehmer darf nur ein Angebot abgeben. Das Angebot ist für die in der Bekanntmachung oder in der Aufforderung angegebene Zeit oder, falls diese Angabe fehlt, für 180 Tage ab Ablauf der Frist für die Angebotseinreichung bindend. Die Vergabestelle kann die Bieter um eine Verlängerung dieser Frist ersuchen.”

Art. 37 (“Bietergemeinschaften und gewöhnliche Bieterkonsortien”) des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge sah in den Abs. 8 bis 10, 18 und 19 vor:

“8. Die Subjekte laut Art. 34 Abs. 1 Buchst. d und e dürfen auch vor ihrem Zusammenschluss Angebote abgeben. In diesem Fall muss das Angebot von allen Wirtschaftsteilnehmern, die sich zu einer Bietergemeinschaft oder zu einem gewöhnlichen Bieterkonsortium zusammenschließen wollen, unterzeichnet werden; außerdem muss das Angebot die Verpflichtung enthalten, dass dieselben Wirtschaftsteilnehmer im Fall des Zuschlags einem von ihnen, der im Angebot benannt und als Bevollmächtigter bezeichnet werden muss und als Beauftragter den Vertrag in seinem Namen und auf seine Rechnung sowie im Namen und auf Rechnung der Auftrag gebenden Unternehmen abschließen wird, einen gemeinsamen Sonderauftrag mit Vertretungsmacht erteilen.

9. … Vorbehaltlich der Vorschriften der Abs. 18 und 19 ist jede Änderung in der Zusammensetzung der Bietergemeinschaften und gewöhnlichen Bieterkonsortien gegenüber derjenigen, die sich aus der bei der Angebotsabgabe eingegangenen Verpflichtung ergibt, verboten.

10. Die Nichtbeachtung der Verbote laut Abs. 9 bewirkt die Aufhebung der Zuschlagserteilung oder die Nichtigkeit des Vertrags sowie den Ausschluss der Bieter, die sich während dieses oder nach diesem Vergabeverfahren zu einer Bietergemeinschaft oder einem gewöhnlichen Konsortium zusammengeschlossen haben.



18. Bei Konkurs des Beauftragten oder, falls es sich um einen Einzelunternehmer handelt, im Fall seines Todes, seiner Entmündigung, seiner beschränkten Entmündigung oder seines Konkurses oder in den von den Antimafiabestimmungen vorgesehenen Fällen kann die Vergabestelle das Vertragsverhältnis mit einem anderen Wirtschaftsteilnehmer fortsetzen, der gemäß den Verfahren dieses Gesetzbuchs zum Beauftragten bestellt wird, sofern er die für die noch auszuführenden Bauleistungen, Dienstleistungen oder Lieferungen erforderlichen Qualifikationsanforderungen erfüllt; sind die genannten Bedingungen nicht gegeben, kann die Vergabestelle vom Vertrag zurücktreten.

19. Bei Konkurs eines der Auftrag gebenden Unternehmen oder, falls es sich um einen Einzelunternehmer handelt, im Fall seines Todes, seiner Entmündigung, seiner beschränkten Entmündigung oder seines Konkurses oder in den von den Antimafiabestimmungen vorgesehenen Fällen ist der Beauftragte, wenn er keinen anderen Wirtschaftsteilnehmer als Nachfolger angibt, der die vorgeschriebenen Eignungsanforderungen erfüllt, verpflichtet, die Leistung unmittelbar selbst oder durch die anderen Auftrag gebenden Unternehmen auszuführen, sofern sie die für die noch auszuführenden Bauleistungen, Dienstleistungen oder Lieferungen erforderlichen Qualifikationsanforderungen erfüllen.”


Art. 38 (“Allgemeine Bedingungen”) des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge sah in Abs. 1 Buchst. f vor:

“Die nachstehenden Subjekte sind von der Teilnahme an Verfahren zur Vergabe von Bau- und Dienstleistungskonzessionen sowie von Bau-, Liefer-, und Dienstleistungsaufträgen ausgeschlossen und dürfen weder Unterauftragnehmer sein noch die entsprechenden Verträge abschließen:



f) Subjekte, die nach begründeter Beurteilung der Vergabestelle bei der Ausführung der von der ausschreibenden Vergabestelle vergebenen Leistungen eine grobe Nachlässigkeit begangen oder in schlechtem Glauben gehandelt haben oder die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen haben, die von der Vergabestelle nachweislich festgestellt wurde”
.

Art. 48 (“Überprüfung der Erfüllung der Voraussetzungen”) des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge bestimmte in Abs. 1:

“Vor der Öffnung der Umschläge mit den abgegebenen Angeboten fordern die Vergabestellen eine Anzahl von durch öffentliches Los ausgewählten Bietern, die mindestens zehn Prozent der abgegebenen Angebote entspricht und die auf die nächsthöhere ganze Zahl aufzurunden ist, auf, innerhalb von zehn Tagen ab Aufforderung nachzuweisen, dass sie die gegebenenfalls in der Ausschreibungsbekanntmachung verlangten Anforderungen an die wirtschaftlich-finanzielle und technisch-organisatorische Leistungsfähigkeit erfüllen, indem sie die in der besagten Bekanntmachung oder im Aufforderungsschreiben angeführten Unterlagen vorlegen. Im Rahmen der Kontrolle überprüfen die Vergabestellen die Erfüllung der Qualifikationsanforderung zur Ausführung der Arbeiten seitens der Bieter bei Aufträgen, die an Generalunternehmer vergeben werden, anhand des elektronischen Registers im Sinne von Art. 7 Abs. 10 oder anhand der Internetseite des Ministeriums für Infrastruktur und Transport; für Lieferanten und Dienstleistungserbringer erfolgt die Überprüfung der Erfüllung der in Art. 42 Abs. 1 Buchst. a dieses Gesetzbuchs genannten Anforderung anhand der in Art. 6bis dieses Gesetzbuchs genannten nationalen Datenbank für öffentliche Aufträge. Wird dieser Nachweis nicht erbracht oder werden darin die im Teilnahmeantrag oder im Angebot enthaltenen Erklärungen nicht bestätigt, schließen die Vergabestellen den Teilnehmer von dem Vergabeverfahren aus, behalten die betreffende vorläufige Kaution ein und melden diesen Umstand der Behörde zum Zweck der Maßnahmen nach Art. 6 Abs. 11. Die Behörde setzt außerdem [das Recht auf] die Teilnahme an Vergabeverfahren für ein bis zwölf Monate aus.”

Nach Art. 75 (“Dem Angebot beizufügende Sicherheiten”) des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge galt:

“1. Dem Angebot ist eine Sicherheit in Höhe von zwei Prozent der in der Bekanntmachung oder in der Aufforderung angegebenen Ausschreibungssumme beizufügen, die nach Wahl des Bieters in Form einer Kaution oder einer Bürgschaft geleistet wird. …



6. Die Sicherheit deckt die nicht zustande gekommene Vertragsunterzeichnung wegen eines vom Auftragnehmer zu vertretenden Umstands; sie wird automatisch bei Unterzeichnung des Vertrags freigegeben.



9. Die Vergabestelle sorgt gleichzeitig mit der Mitteilung der Zuschlagserteilung an die nicht erfolgreichen Bieter dafür, dass die Sicherheit laut Abs. 1 zugunsten der genannten Bieter unverzüglich, in jedem Fall aber nicht später als 30 Tage nach Zuschlagserteilung, freigegeben wird, auch wenn die Sicherheit noch gültig ist.”


Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Mit Bekanntmachung vom 21. Dezember 2015 leitete Consip ein in zwölf Lose unterteiltes offenes Vergabeverfahren zur Vergabe des Dienstes Beleuchtung und damit verbundener optionaler Dienstleistungen ein.

Eine zu gründende Bietergemeinschaft, deren federführendes Mitglied Luxone war (im Folgenden: BG Luxone), gab ein Angebot für vier dieser zwölf Lose ab. Zu dieser Bietergemeinschaft gehörten auch die Consorzio Stabile Energie Locali Scarl (im Folgenden: CSEL), die Iren Servizi e Innovazione SpA (jetzt Iren Smart Solutions), die Gestione Integrata Srl und die Exitone SpA.

Mit Schreiben vom 28. September 2018 wies Gi One, jetzt Sofein, Consip darauf hin, dass sie Exitone und Gestione Integrata “in allen ihren Rechten und Pflichten” nachfolge.

Obwohl sich Consip bei der Einleitung des Verfahrens zur Kontrolle der Angebote auf Abweichungen das Recht vorbehalten hatte, zu prüfen, ob Exitone die allgemeinen Voraussetzungen des Art. 38 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge ununterbrochen erfüllte, leitete sie kein späteres Verfahren ein.

Das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vergabeverfahren, das bis zum 18. April 2017 abgeschlossen werden sollte, wurde achtmal verlängert, um “Consip die für den Abschluss des Verfahrens erforderliche Zeit zu gewähren”. Jede dieser Verlängerungen hatte zur Folge, dass zum einen die zwischenzeitlich abgelaufenen Angebote bestätigt und zum anderen die diesen Angeboten beigefügten vorläufigen Kautionen verlängert werden mussten.

Nachdem am 2. März 2020 die siebte Bestätigungsaufforderung dieser Angebote gestellt worden war, teilten die Mitglieder der BG Luxone Consip mit Schreiben vom 30. März 2020 mit, dass Luxone und Iren Smart Solutions im Gegensatz zu Sofein und CSEL ihre früheren Angebote bestätigten. Sofein und CSEL wiesen im Wesentlichen darauf hin, dass die im Jahr 2016 abgegebenen Angebote wegen der langen Dauer der Vorbereitungen für die Vergabe des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auftrags “aus unternehmerischer Sicht und unter dem Gesichtspunkt einer ordnungsgemäßen und umsichtigen Unternehmensführung nicht mehr tragfähig [seien]”.

Mit Schreiben vom 9. Juni 2020 forderte Consip alle Mitglieder der BG Luxone zum achten Mal auf, ihr abgelaufenes Angebot zu bestätigen sowie die Geltungsdauer der entsprechenden vorläufigen Kaution bis zum 30. November 2020 zu verlängern.

Mit Schreiben vom 18. Juni 2020, auf das Consip nicht antwortete, wiederholten Luxone und Iren Smart Solutions ihre Angebote und wiesen darauf hin, dass Sofein und CSEL ihrerseits ihre Angebote nicht bestätigen wollten.

Mit Schreiben vom 30. September 2020 leitete Consip ein Verfahren ein, um zu prüfen, ob die in Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge vorgesehene Voraussetzung erfüllt war, und um die Rechtmäßigkeit des Ausscheidens von Sofein und CSEL zu beurteilen. Nach Ansicht von Consip sind Sofein und CSEL nämlich mit der Nichtbestätigung der Angebote rechtswidrig aus der BG Luxone “ausgetreten”.

Mit Entscheidung vom 11. November 2020 (im Folgenden: Ausschlussentscheidung vom 11. November 2020) schloss Consip die BG Luxone von dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vergabeverfahren aus.

Consip stellte erstens fest, dass Art. 11 Abs. 6 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge dem einzelnen Bieter, d. h. im vorliegenden Fall der BG Luxone insgesamt, das Recht verleihe, nach Ablauf einer bestimmten Frist vom Angebot zurückzutreten. Dieses Recht könne folglich nicht nur von einem Teil der Mitglieder dieser Bietergemeinschaft ausgeübt werden.

Zweitens warf Consip Sofein insbesondere vor, aus dieser Bietergemeinschaft ausgetreten zu sein, um Art. 38 Abs. 1 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge zu umgehen. Nach dieser Bestimmung hätte Sofein nämlich von dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vergabeverfahren wegen des Verhaltens ihrer beiden Vorgängergesellschaften ausgeschlossen werden müssen, das ihre Zuverlässigkeit beeinträchtigt habe und für das sie zu haften habe. Consip warf Sofein auch strafbare Handlungen vor.

Drittens machte Consip geltend, dass Luxone “die berufliche Zuverlässigkeit gefehlt” habe, was durch Verweis auf ein Gerichtsverfahren zur Behinderung öffentlicher Ausschreibungsverfahren und durch das Urteil des Tribunale di Messina (Gericht Messina, Italien) vom 14. Juli 2020 gegen den Geschäftsführer der Gesellschaft, deren Rechtsnachfolgerin Luxone sei, bis zum 22. Juli 2019 belegt werde.

Viertens warf Consip CSEL vor, aus der BG Luxone ausgetreten zu sein, um im Wesentlichen zu verschleiern, dass diese Gesellschaft die vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfülle und nicht über die für die Ausführung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auftrags erforderlichen Mittel verfüge.

Mit Entscheidung vom 12. November 2020 ordnete Consip die Einbehaltung der vorläufigen Kautionen in Höhe von insgesamt 2 950 000 Euro an, die für die vier Lose, für die die BG Luxone ein Angebot eingereicht hatte, gestellt worden waren.

In Beantwortung der Entscheidungen von Consip vom 11. und 12. November 2020 machte CSEL mit Schreiben vom 20. November 2020 geltend, dass sie alle Voraussetzungen für eine Beteiligung an dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahren kontinuierlich erfüllt habe. Im Übrigen sei die fehlende Bestätigung des Angebots durch CSEL, die nicht als Austritt aus der BG Luxone eingestuft werden könne, Teil einer Gesamtumstrukturierung des Unternehmens.

Mit Schreiben vom 10. Dezember 2020 bestätigte Consip die Ausschlussentscheidung vom 11. November 2020.

Luxone, handelnd im eigenen Namen und als Bevollmächtigte der BG Luxone, und Sofein fochten die Ausschlussentscheidung vom 11. November 2020 und die Entscheidung vom 12. November 2020 mit zwei getrennten Klagen vor dem Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien) erfolglos an. Daher legten sie gegen die Urteile dieses Gerichts beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein.

Dieses Gericht weist darauf hin, dass es die Aussetzung der Einbehaltung der vorläufigen Kautionen, insbesondere wegen der Höhe ihres Gesamtbetrags, angeordnet habe.

Das vorlegende Gericht hält es für zweckmäßig, noch vor der Prüfung der Klagen, soweit sie gegen die Ausschlussentscheidung vom 11. November 2020 gerichtet sind, die Vereinbarkeit von Art. 11 Abs. 6 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge, der von den italienischen Verwaltungsgerichten dahin ausgelegt wird, dass die fehlende oder nur teilweise Bestätigung eines Angebots zum Zeitpunkt des Ablaufs dieses Angebots und seiner Bindungswirkung für den betroffenen Bieter mit dem Austritt aus der Bietergemeinschaft, die es eingereicht habe, gleichzustellen sei, mit dem Unionsrecht zu prüfen.

Im Fall des Austritts einiger Mitglieder einer solchen Bietergemeinschaft ist das genannte Gericht der Ansicht, dass Art. 11 Abs. 6, Art. 37 Abs. 8 bis 10, 18 und 19 sowie Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge den öffentlichen Auftraggeber verpflichteten, die in dieser Bietergemeinschaft zusammengeschlossenen Wirtschaftsteilnehmer wegen des Verbots, deren Zusammensetzung zu ändern, auszuschließen. Die einzigen Ausnahmen vom Grundsatz der Unveränderlichkeit einer Bietergemeinschaft seien in Art. 37 Abs. 18 und 19 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge vorgesehen.

Art. 11 Abs. 6 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge habe gewährleisten sollen, dass das abgegebene Angebot während der gesamten voraussichtlichen Dauer des Vergabeverfahrens aufrechterhalten bleibe, und nicht dessen zeitliche Wirkung begrenzen. Nach Ansicht des Consiglio di Stato (Staatsrat) bedeutet diese Bestimmung nicht, dass dieses Angebot nach Ablauf der Frist von Rechts wegen hinfällig werde, sondern nur, dass der betroffene Bieter davon zurücktreten könne, sofern er sich ausdrücklich auf diese Möglichkeit berufe. Außerdem sei der Grundsatz der subjektiven Unveränderlichkeit einer Bietergemeinschaft auch für den Fall anwendbar, dass diese Bietergemeinschaft formal noch nicht gegründet worden sei.

Im Übrigen sei im vorliegenden Fall der Ausschluss der BG Luxone von dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vergabeverfahren auch durch das Verhalten von Sofein gerechtfertigt, die versucht habe, sich durch den Austritt aus dieser Bietergemeinschaft der angekündigten Kontrolle ihrer “beruflichen Zuverlässigkeit” zu entziehen. Aus der Rechtsprechung des Consiglio di Stato (Staatsrat) gehe jedoch hervor, dass der Austritt eines Mitglieds einer Bietergemeinschaft aufgrund organisatorischer Erfordernisse der Bietergemeinschaft oder des Konsortiums erfolgen müsse.

Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die beanstandeten Bestimmungen des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 sowie mit Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2004/17, der ähnlich formuliert sei, vereinbar seien.

Luxone und Sofein kritisieren jedoch die Rechtsprechung des Consiglio di Stato (Staatsrat), da sie die Mitglieder einer Bietergemeinschaft in der Praxis dazu zwinge, für unbestimmte Zeit an ihr Angebot gebunden zu bleiben, und zwar auch dann, wenn die Bindefrist dieses Angebots mehrmals abgelaufen sei. Eine solche Auslegung verstoße gegen den in Art. 16 der Charta garantierten Grundsatz der unternehmerischen Freiheit und die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, des Wettbewerbs sowie der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs, die in den Art. 49, 50, 54 und 56 AEUV verankert seien.

Das vorlegende Gericht räumt ein, dass insbesondere in Verfahren, die sich im Lauf der Zeit erheblich verlängerten, das Verbot für ein Mitglied einer solchen Bietergemeinschaft, von dem erneut abgelaufenen Angebot zurückzutreten, da anderenfalls diese Bietergemeinschaft insgesamt ausgeschlossen werde, unverhältnismäßig erscheine, um die Verlässlichkeit dieses Angebots zu gewährleisten, zumindest wenn die Wirtschaftsteilnehmer, die dieses Angebot bestätigt hätten, weiterhin in der Lage seien, selbst alle Teilnahmebedingungen für das Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags zu erfüllen. Nach Art. 2 in Verbindung mit dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 dürften die von den Mitgliedstaaten erlassenen Maßnahmen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich sei.

Außerdem machen Luxone und Sofein geltend, dass sich die Rechtswidrigkeit der Entscheidung vom 12. November 2020 über die Einbehaltung der vorläufigen Kautionen aus der Rechtswidrigkeit der Ausschlussentscheidung vom 11. November 2020 sowie aus ihr innewohnenden Mängeln ergebe. Diese Kautionen könnten nämlich nur in den beiden in Art. 48 Abs. 1 bzw. Art. 75 Abs. 6 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge vorgesehenen Fällen einbehalten werden, nämlich dann, wenn der überprüfte Bieter nicht nachweise, dass er “die Anforderungen an die wirtschaftlich-finanzielle und technisch-organisatorische Leistungsfähigkeit” erfülle, oder wenn es “wegen eines vom Auftragnehmer zu vertretenden Umstands” nicht zur Vertragsunterzeichnung komme. Die Ausgangsrechtsstreitigkeiten fielen jedoch unter keinen dieser beiden Fälle.

Obwohl die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) in ihrem Urteil Nr. 198 vom 26. Juli 2022 festgestellt habe, dass die Einbehaltung einer Kaution keinen strafrechtlichen Charakter habe, ist das vorlegende Gericht ebenso wie Luxone und Sofein der Ansicht, dass wegen des Ausmaßes des diesen Gesellschaften auferlegten “Vermögensopfers” die automatische Einbehaltung der vorläufigen Kautionen gegenüber diesen Gesellschaften die Merkmale einer solchen Sanktion aufweise.

Insoweit bestimme Art. 49 Abs. 3 der Charta, dass “[d]as Strafmaß … zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein [darf]”. Ebenso seien Art. 1 des am 20. März 1952 in Paris unterzeichneten Zusatzprotokolls Nr. 1 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und Art. 17 der Charta dahin ausgelegt worden, dass sie die Gewährleistung der Verhältnismäßigkeit zwischen dem an den Tag gelegten Verhalten und der verhängten Sanktion bezweckten, indem sie es untersagten, das Eigentumsrecht ohne Grund einzuschränken, und damit ein “übermäßiges und unverhältnismäßiges Opfer” im Hinblick auf das verfolgte Ziel verhinderten. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit komme auch allgemein im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 zum Ausdruck.

Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Stehen die Richtlinie 2004/18, die Art. 16 und 52 der Charta, die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, des Wettbewerbs, der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs nach den Art. 49, 50, 54 und 56 AEUV innerstaatlichen Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 6, Art. 37 Abs. 8, 9, 10, 18 und 19 sowie Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge) entgegen, die im Fall des Ablaufs der Gültigkeitsdauer des ursprünglich von einer zu gründenden Bietergemeinschaft abgegebenen Angebots die Möglichkeit ausschließen, im Zuge der Verlängerung der Gültigkeitsdauer dieses Angebots die ursprüngliche Zahl der Mitglieder der Bietergemeinschaft zu reduzieren, und sind diese nationalen Bestimmungen insbesondere mit den allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätzen der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit und der praktischen Wirksamkeit sowie mit Art. 16 der Charta vereinbar?

2. Stehen die Richtlinie 2004/18, die Art. 16, 49, 50 und 52 der Charta, Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Art. 6 EUV sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, des Wettbewerbs, der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs nach den Art. 49, 50, 54 und 56 AEUV innerstaatlichen Rechtsvorschriften (Art. 38 Abs. 1 Buchst. f, Art. 48 und Art. 75 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge) entgegen, die die Verhängung der Sanktion der Einbehaltung der vorläufigen Kaution als automatische Folge des Ausschlusses eines Wirtschaftsteilnehmers von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsvertrags vorsehen, und zwar unabhängig davon, ob der Wirtschaftsteilnehmer den betreffenden Zuschlag erhalten hat?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage


Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. So gesehen kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat. Der Umstand, dass ein nationales Gericht eine Vorlagefrage ihrer Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, hindert den Gerichtshof nämlich nicht daran, diesem Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei der Formulierung seiner Fragen darauf Bezug genommen hat oder nicht. Der Gerichtshof hat insoweit aus allem, was das einzelstaatliche Gericht vorgelegt hat, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Dezember 1990, SARPP, C-241/89, EU:C:1990:459, Rn. 8, und vom 5. Dezember 2023, Nordic Info, C-128/22, EU:C:2023:951, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Im vorliegenden Fall bezieht sich der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Auftrag nicht auf eine oder mehrere der in den Art. 3 bis 9 der Richtlinie 2004/17 genannten Tätigkeiten, auf die diese Richtlinie Anwendung findet. Daher ist davon auszugehen, dass dieser Auftrag in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/18 fällt.

 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 47 Abs. 3 und Art. 48 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18 in Verbindung mit dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den ursprünglichen Mitgliedern einer Bietergemeinschaft verwehrt, aus dieser Bietergemeinschaft auszutreten, wenn die Gültigkeitsdauer des von dieser Bietergemeinschaft eingereichten Angebots abgelaufen ist und der öffentliche Auftraggeber um die Verlängerung der Gültigkeit der bei ihm eingereichten Angebote ersucht.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 3 der Richtlinie 2004/18 einem Wirtschaftsteilnehmer das Recht verleihen, sich zum einen auf die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit und zum anderen auf die technische und/oder berufliche Leistungsfähigkeit der Mitglieder der Bietergemeinschaft oder anderer Unternehmen zu stützen, sofern er gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber den Nachweis erbringt, dass der Bietergemeinschaft die für die Ausführung dieses Auftrags erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen. Diese Richtlinie erlaubt es somit, die Kapazitäten mehrerer Wirtschaftsteilnehmer zu kumulieren, um die vom öffentlichen Auftraggeber festgelegten Mindestanforderungen an die Leistungsfähigkeit zu erfüllen, soweit diesem gegenüber der Nachweis erbracht wird, dass der Bewerber oder der Bieter, der sich auf die Kapazitäten eines oder mehrerer anderer Unternehmen stützt, tatsächlich über deren Mittel, die für die Ausführung des Auftrags erforderlich sind, verfügt. Diese Auslegung steht im Einklang mit dem Ziel, den Bereich des öffentlichen Auftragswesens einem möglichst umfassenden Wettbewerb zu öffnen, das mit den einschlägigen Richtlinien im Interesse nicht nur der Wirtschaftsteilnehmer, sondern auch der öffentlichen Auftraggeber angestrebt wird. Sie ist auch geeignet, KMU den Zugang zu öffentlichen Aufträgen zu erleichtern, was mit der Richtlinie 2004/18, wie sich aus ihrem 32. Erwägungsgrund ergibt, ebenfalls beabsichtigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Oktober 2013, Swm Costruzioni 2 und Mannocchi Luigino, C-94/12, EU:C:2013:646, Rn. 29, 33 und 34, sowie vom 2. Juni 2016, Pizzo, C-27/15, EU:C:2016:404, Rn. 25 bis 27).

Aus Art. 47 Abs. 3 und Art. 48 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18 geht auch hervor, dass sich Gemeinschaften von Wirtschaftsteilnehmern im Sinne von Art. 4 dieser Richtlinie unter denselben Voraussetzungen auf die Kapazitäten der Mitglieder der Gemeinschaft oder anderer Unternehmen stützen können.

Allerdings enthält weder Art. 47 Abs. 3 noch Art. 48 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18 spezifische Vorschriften über die Änderung der Zusammensetzung einer Bietergemeinschaft, so dass die Regelung eines solchen Sachverhalts in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Mai 2016, MT Højgaard und Züblin, C-396/14, EU:C:2016:347, Rn. 35).

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus Art. 37 Abs. 9, 10, 18 und 19 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge, dass außer im Fall des Konkurses des federführenden Mitglieds oder eines Mitglieds einer Bietergemeinschaft jede Änderung, die die ursprüngliche Zusammensetzung einer solchen Bietergemeinschaft betraf, verboten war, da anderenfalls alle Mitglieder dieser Bietergemeinschaft vom Verfahren zur Vergabe des öffentlichen Auftrags ausgeschlossen worden wären.

Dieses Verbot, die Zusammensetzung einer Bietergemeinschaft zu ändern, ist jedoch nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, u. a. des Grundsatzes der Gleichbehandlung, der sich daraus ergebenden Transparenzpflicht und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Mai 2016, MT Højgaard und Züblin, C-396/14, EU:C:2016:347, Rn. 36).

Der letztgenannte Grundsatz, auf den im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 hingewiesen wird, verlangt, dass die von den Mitgliedstaaten oder den öffentlichen Auftraggebern im Rahmen der Umsetzung dieser Richtlinie aufgestellten Regeln nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 2008, Michaniki, C-213/07, EU:C:2008:731, Rn. 48, und vom 7. September 2021, Klaipdos regiono atliek tvarkymo centras, C-927/19, EU:C:2021:700, Rn. 155).

Der Grundsatz der Gleichbehandlung räumt den Bietern bei der Abfassung ihrer Angebote die gleichen Chancen ein, was voraussetzt, dass die Angebote aller Bieter den gleichen Bedingungen unterworfen sein müssen. Das damit einhergehende Transparenzgebot soll die Gefahr von Günstlingswirtschaft oder von willkürlichen Entscheidungen des Auftraggebers ausschließen. Dieses Gebot verlangt, dass alle Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens in der Bekanntmachung oder im Lastenheft klar, genau und eindeutig formuliert sind, damit, erstens, alle durchschnittlich fachkundigen Bieter bei Anwendung der üblichen Sorgfalt deren genaue Bedeutung verstehen und sie in gleicher Weise auslegen können und, zweitens, der Auftraggeber imstande ist, tatsächlich zu überprüfen, ob die Angebote der Bieter die für den betreffenden Auftrag geltenden Kriterien erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. November 2014, Cartiera dell’Adda, C-42/13, EU:C:2014:2345, Rn. 44, und vom 2. Juni 2016, Pizzo, C-27/15, EU:C:2016:404, Rn. 36).

Die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung, die für alle Verfahren der Vergabe öffentlicher Aufträge gelten, gebieten, dass die materiell- und die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen einer Teilnahme an einem Vergabeverfahren, insbesondere die Pflichten der Bieter, im Voraus eindeutig festgelegt und öffentlich bekannt gegeben werden, damit diese genau erkennen können, welche Bedingungen sie in dem Verfahren zu beachten haben, und damit sie die Gewissheit haben können, dass für alle Wettbewerber die gleichen Bedingungen gelten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Februar 2006, La Cascina u. a., C-226/04 und C-228/04, EU:C:2006:94, Rn. 32, sowie vom 2. Juni 2016, Pizzo, C-27/15, EU:C:2016:404, Rn. 37).

In dieser Hinsicht sieht Nr. 21 des Anhangs VII Teil A der Richtlinie 2004/18 vor, dass die “Bindefrist (offene Verfahren)” ein wesentlicher Bestandteil der Informationen ist, die in der Bekanntmachung einer Ausschreibung enthalten sein müssen.

Erstens ergibt sich aus dem Urteil vom 24. Mai 2016, MT Højgaard und Züblin (C-396/14, EU:C:2016:347, Rn. 44 und 48), dass Art. 47 Abs. 3 und Art. 48 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18 dahin auszulegen sind, dass die Mitglieder einer Bietergemeinschaft ohne Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aus dieser Bietergemeinschaft austreten können, sofern zum einen erwiesen ist, dass die übrigen Mitglieder dieser Bietergemeinschaft die von dem Auftraggeber festgelegten Anforderungen für die Teilnahme am Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags erfüllen, und zum anderen, dass ihre weitere Teilnahme an diesem Verfahren nicht zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbssituation der übrigen Bieter führt.

Daher verletzt Art. 37 Abs. 9, 10, 18 und 19 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge dadurch, dass er die Aufrechterhaltung der rechtlichen und tatsächlichen Identität einer Bietergemeinschaft strikt vorschreibt, offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Dies gilt umso mehr, als keine Ausnahme für den Fall vorgesehen ist, dass der öffentliche Auftraggeber wiederholt um die Verlängerung der Gültigkeit der Angebote ersucht. Eine solche Verlängerung erfordert aber von allen Mitgliedern einer Bietergemeinschaft, zum einen bestimmte Ressourcen sowohl in Form von Personal als auch von Sachmitteln im Hinblick auf einen etwaigen Zuschlag des fraglichen Auftrags zu binden und zum anderen die gestellten vorläufigen Kautionen zu verlängern, was insbesondere für ein KMU eine erhebliche Belastung darstellen kann.

Zweitens geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass das vorlegende Gericht Art. 11 Abs. 6 des Alten Gesetzbuchs über öffentliche Aufträge dahin ausgelegt hat, dass er nicht dazu führe, dass das Angebot nach Ablauf der darin angegebenen Frist von Rechts wegen hinfällig werde. Daher müsse sich der Bieter ausdrücklich auf die Möglichkeit berufen, von seinem Angebot zurückzutreten. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht ferner hervor, dass sich die Klarstellung, dass der Austritt eines Mitglieds aus einer Bietergemeinschaft durch organisatorische Erfordernisse dieser Bietergemeinschaft bedingt sein müsse, allein aus der Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts ergebe.

Der Gerichtshof hat jedoch wiederholt entschieden, dass eine Situation, in der sich die Voraussetzungen für die Teilnahme an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags aus der gerichtlichen Auslegung des nationalen Rechts ergeben, für in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Bieter besonders nachteilig ist, da ihre Kenntnis vom nationalen Recht und seiner Auslegung nicht mit der der Bieter des betreffenden Mitgliedstaats verglichen werden kann (Urteil vom 2. Juni 2016, Pizzo, C-27/15, EU:C:2016:404, Rn. 46, und Beschluss vom 13. Juli 2017, Saferoad Grawil und Saferoad Kabex, C-35/17, EU:C:2017:557, Rn. 22).

Soweit schließlich den beiden Gesellschaften, die sich geweigert haben, ihr Angebot zu erneuern, ebenfalls vorgeworfen wurde, versucht zu haben, die Kontrolle der Einhaltung der Auswahlkriterien zu umgehen und damit einem Ausschluss vom Verfahren zur Vergabe des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auftrags zu entgehen, ist hinzuzufügen, dass der öffentliche Auftraggeber zwar jederzeit die Zuverlässigkeit der Mitglieder einer Bietergemeinschaft prüfen kann und sich dazu vergewissern kann, dass diese nicht unter einen der in Art. 45 der Richtlinie 2004/18 aufgeführten Gründe für den Ausschluss von einem Vergabeverfahren fallen, er jedoch im Rahmen dieser Prüfung darauf zu achten hat, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie er in Rn. 55 des vorliegenden Urteils beschrieben ist, beachtet wird.

Daher muss ein öffentlicher Auftraggeber, wenn er fakultative Gründe für den Ausschluss von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags anwendet, diesem Grundsatz umso mehr Rechnung tragen, wenn der in der nationalen Regelung vorgesehene Ausschluss eine Bietergemeinschaft insgesamt nicht wegen eines Verstoßes trifft, der allen ihren Mitgliedern zuzurechnen ist, sondern wegen eines Verstoßes, der nur von einem oder mehreren von ihnen begangen wurde, ohne dass das federführende Mitglied dieser Gruppe über irgendeine Kontrollbefugnis gegenüber dem oder den Wirtschaftsteilnehmer(n) verfügte, mit dem bzw. denen er eine solche Bietergemeinschaft bilden wollte (vgl. entsprechend Urteile vom 30. Januar 2020, Tim, C-395/18, EU:C:2020:58, Rn. 48, und vom 7. September 2021, Klaip?dos regiono atliek? tvarkymo centras, C-927/19, EU:C:2021:700, Rn. 156).

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verpflichtet den öffentlichen Auftraggeber nämlich dazu, eine konkrete und auf den Einzelfall bezogene Beurteilung der Verhaltensweise des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers vorzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2012, Forposta und ABC Direct Contact, C-465/11, EU:C:2012:801, Rn. 31). Hierzu muss der öffentliche Auftraggeber die Mittel berücksichtigen, die dem Bieter zur Verfügung standen, um das Vorliegen eines Verstoßes in Bezug auf das Unternehmen zu prüfen, dessen Kapazitäten der Bieter in Anspruch zu nehmen beabsichtigte (Urteile vom 3. Juni 2021, Rad Service u. a., C-210/20, EU:C:2021:445, Rn. 40, und vom 7. September 2021, Klaip?dos regiono atliek? tvarkymo centras, C-927/19, EU:C:2021:700, Rn. 157).

Unter diesen Umständen sind Art. 47 Abs. 3 und Art. 48 Abs. 4 der Richtlinie 2004/18 in Verbindung mit dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den ursprünglichen Mitgliedern einer Bietergemeinschaft verwehrt, aus dieser Bietergemeinschaft auszutreten, wenn die Gültigkeitsdauer des von dieser Bietergemeinschaft eingereichten Angebots abgelaufen ist und der öffentliche Auftraggeber um die Verlängerung der Gültigkeit der bei ihm eingereichten Angebote ersucht, sofern zum einen erwiesen ist, dass die übrigen Mitglieder dieser Bietergemeinschaft die von dem Auftraggeber festgelegten Anforderungen erfüllen, und zum anderen, dass ihre weitere Teilnahme an diesem Verfahren nicht zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbssituation der übrigen Bieter führt.

Zur zweiten Frage

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung sowie das Transparenzgebot, wie sie in Art. 2 und im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 niedergelegt sind, dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die automatische Einbehaltung der von einem Bieter gestellten vorläufigen Kaution als Folge seines Ausschlusses von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsvertrags vorsieht, auch wenn er den betreffenden Zuschlag nicht erhalten hat.

Wie aus den Rn. 61 und 62 des Urteils vom 28. Februar 2018, MA.T.I. SUD und Duemme SGR (C-523/16 und C-536/16, EU:C:2018:122), hervorgeht, entspricht die Vorausfestsetzung der zu leistenden vorläufigen Kaution durch den öffentlichen Auftraggeber in der Ausschreibungsbekanntmachung zwar den Anforderungen der Grundsätze der Gleichbehandlung der Bieter, der Transparenz und der Rechtssicherheit, da mit ihr objektiv jede diskriminierende oder willkürliche Behandlung der Bieter durch den öffentlichen Auftraggeber verhindert werden kann. Dennoch ist die automatische Einbehaltung der auf diese Weise im Voraus festgelegten Kaution unabhängig davon, welche Berichtigungen der nachlässige Bieter gegebenenfalls vornimmt, und daher gänzlich ohne Begründung im Einzelfall offensichtlich nicht mit den sich aus der Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ergebenden Erfordernissen vereinbar.

Zwar stellt die Einbehaltung der genannten Kaution ein geeignetes Mittel zur Verwirklichung der rechtmäßigen Ziele des betreffenden Mitgliedstaats dar, zum einen den Bietern ihre Verantwortung bei der Vorlage ihrer Angebote bewusst zu machen und zum anderen den öffentlichen Auftraggeber für den finanziellen Aufwand zu entschädigen, den die Kontrolle der Ordnungsmäßigkeit der Angebote für ihn bedeutet, jedoch ist auch die Höhe, die sie in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erreicht, im Hinblick auf den Ablauf des fraglichen Vergabeverfahrens offensichtlich überhöht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Februar 2018, MA.T.I. SUD und Duemme SGR, C-523/16 und C-536/16, EU:C:2018:122, Rn. 63 und 64).

Daher sind die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung sowie das Transparenzgebot, wie sie in Art. 2 und im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 niedergelegt sind, dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die automatische Einbehaltung der von einem Bieter gestellten vorläufigen Kaution als Folge seines Ausschlusses von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsvertrags vorsieht, auch wenn er den betreffenden Zuschlag nicht erhalten hat

Generalanwalt beim EuGH zu der Frage, dass der öffentliche Auftraggeber nicht durch sein eigenes Handeln eine Ausschließlichkeitssituation herbeiführen darf, um mit dieser die Anwendung eines Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung zu rechtfertigen

Generalanwalt beim EuGH zu der Frage, dass der öffentliche Auftraggeber nicht durch sein eigenes Handeln eine Ausschließlichkeitssituation herbeiführen darf, um mit dieser die Anwendung eines Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung zu rechtfertigen

von Thomas Ax

Der öffentliche Auftraggeber darf nicht durch sein eigenes Handeln eine Ausschließlichkeitssituation herbeiführen, um mit dieser die Anwendung eines Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung zu rechtfertigen.
Schließt der öffentliche Auftraggeber einen neuen Vertrag ab, auf den die Richtlinie 2004/18 Anwendung findet, ist unerheblich, dass die Ausschließlichkeitssituation von einem ursprünglichen Vertrag herrührt, den die Behörden eines Mitgliedstaats vor seinem Beitritt zur Europäischen Union abgeschlossen haben. Um das Verhalten des öffentlichen Auftraggebers im Zusammenhang mit dem neuen Vertrag zu bewerten, ist auf den tatsächlichen und rechtlichen Kontext zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses neuen Vertrags abzustellen.
Generalwalt beim EuGH, Schlussanträge vom 26.09.2024 – Rs. C-578/23
 
Gründe:

Im Jahr 1992 schloss das Finanzministerium der Tschechischen Republik direkt mit einem bestimmten Unternehmen einen Vertrag zur Einführung eines computergestützten Steuerverwaltungssystems mit der Bezeichnung ADIS. IBM war Inhaberin von Urheberrechten am Quellcode des Programms, so dass die Nutzung und Aktualisierung des Informationssystems von ihrer Beteiligung abhing.

Im Jahr 2016 beschloss die in der Tschechischen Republik mit der Steuerverwaltung betraute Einrichtung, einen Auftrag betreffend den Basiskundendienst für die Anwendung ADIS nach Ablauf der Garantiezeit zu vergeben, und zwar erneut im Wege eines Verhandlungsverfahrens ohne Veröffentlichung einer Bekanntmachung an IBM.

Die Vergabe dieses neuen Auftrags wurde zum Streitpunkt zwischen zwei Behörden der Tschechischen Republik, nämlich der Steuerverwaltung auf der einen und der für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit öffentlicher Aufträge zuständigen Behörde auf der anderen Seite. Nach Auffassung der Letzteren war die Direktvergabe des Auftrags rechtswidrig.

Das Gericht, das in letzter Instanz mit diesem Rechtsstreit befasst ist, bezweifelt die Vereinbarkeit des neuen Auftrags mit Art. 31 Nr. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/18/EG und ersucht den Gerichtshof um Auslegung dieser Bestimmung. Es möchte wissen, ob es bei der Beurteilung einer der Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Verhandlungsverfahrens ohne Veröffentlichung einer Bekanntmachung die rechtlichen und tatsächlichen Umstände bewerten muss, unter denen der ursprüngliche Vertrag (1992) zustande kam, oder die rechtlichen und tatsächlichen Umstände beim Abschluss des neuen Auftrags (2016).

Hintergrund des Rechtsstreits ist das allgemeine Problem der Anbieterbindung öffentlicher Verwaltungen, die bei der Nutzung von Informationstechnologien von einem Anbieter abhängig sind. Die Kommission veröffentlichte 2013 eine Mitteilung, in der sie auf die Probleme dieser Verwaltungen im Zusammenhang mit einem Anbieterwechsel hinwies.

I. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht. Richtlinie 2004/18y


Art. 28 (“Anwendung des offenen und des nichtoffenen Verfahrens, des Verhandlungsverfahrens und des wettbewerblichen Dialogs”) bestimmt:

“Für die Vergabe ihrer öffentlichen Aufträge wenden die öffentlichen Auftraggeber die einzelstaatlichen Verfahren in einer für die Zwecke dieser Richtlinie angepassten Form an.

Sie vergeben diese Aufträge im Wege des offenen oder des nichtoffenen Verfahrens. Unter den besonderen in Artikel 29 ausdrücklich genannten Umständen können die öffentlichen Auftraggeber ihre öffentlichen Aufträge im Wege des wettbewerblichen Dialogs vergeben. In den Fällen und unter den Umständen, die in den Artikeln 30 und 31 ausdrücklich genannt sind, können sie auf ein Verhandlungsverfahren mit oder ohne Veröffentlichung einer Bekanntmachung zurückgreifen.”


In Art. 31 (“Fälle, die das Verhandlungsverfahren ohne Veröffentlichung einer Bekanntmachung rechtfertigen”) heißt es:

“Öffentliche Auftraggeber können in folgenden Fällen Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Bekanntmachung vergeben:

1. Bei öffentlichen Bau‑, Liefer- und Dienstleistungsaufträgen:



b) wenn der Auftrag aus technischen oder künstlerischen Gründen oder aufgrund des Schutzes von Ausschließlichkeitsrechten nur von einem bestimmten Wirtschaftsteilnehmer ausgeführt werden kann;

c) soweit dies unbedingt erforderlich ist, wenn dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die die betreffenden öffentlichen Auftraggeber nicht voraussehen konnten, es nicht zulassen, die Fristen einzuhalten, die für die offenen, die nichtoffenen oder die in Artikel 30 genannten Verhandlungsverfahren mit Veröffentlichung einer Bekanntmachung vorgeschrieben sind. Die angeführten Umstände zur Begründung der zwingenden Dringlichkeit dürfen auf keinen Fall den öffentlichen Auftraggebern zuzuschreiben sein. …”


B. Tschechisches Recht. Zákon. 137/2006 Sb., o ve?ejných zakázkách

Gemäß § 21 Abs. 2 kann der öffentliche Auftraggeber einen öffentlichen Auftrag in einem offenen oder nicht offenen Verfahren und unter bestimmten Voraussetzungen in einem Verhandlungsverfahren mit Veröffentlichung einer Bekanntmachung oder in einem Verhandlungsverfahren ohne Veröffentlichung einer Bekanntmachung vergeben.

Nach § 23 Abs. 4 Buchst. a kann der öffentliche Auftraggeber einen öffentlichen Auftrag auch dann in einem Verhandlungsverfahren ohne Veröffentlichung einer Bekanntmachung vergeben, wenn der öffentliche Auftrag aus technischen oder künstlerischen Gründen, zum Schutz von Ausschließlichkeitsrechten oder aus Gründen, die sich aus einer besonderen Rechtsvorschrift ergeben, nur von einem bestimmten Anbieter ausgeführt werden kann.

II. Sachverhalt, Rechtsstreit und Vorlagefrage

Am 29. Juni 1992 schloss das Finanzministerium der Tschechischen Republik mit IBM einen Vertrag über die Systemintegration für das Informationssystem zur Steuerverwaltung, ADIS.

Ab 2013 übernahm die dem Finanzministerium unterstellte eská republika – Generální finanní editelství (Generalfinanzdirektion, Tschechische Republik, im Folgenden: GFD) die Aufgaben des Ministeriums im Bereich der Steuerverwaltung.

Am 1. März 2016 leitete die GFD ein Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung ein, um einen neuen Auftrag mit dem Titel “Základní pozáruní servis aplikace ADIS v r. 2016” zu vergeben, der den Basiskundendienst für die Anwendung ADIS nach Ablauf der Garantiezeit zum Gegenstand hatte.

Die GFD berief sich für dieses Vergabeverfahren auf technische Gründe sowie auf den Schutz der Urheberrechte des Anbieters am Quellcode von ADIS.

Am 20. Mai 2016 vergab die GFD den neuen Auftrag an IBM.

Am 9. Oktober 2017 stellte der Úad pro ochranu hospodáské soutže (Amt für Wettbewerbsschutz der Tschechischen Republik, im Folgenden: Wettbewerbsamt) fest, die GFD habe durch die Anwendung des Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung gegen § 23 Abs. 4 Buchst. a des Gesetzes 137/2006 verstoßen.

Nach Ansicht des Wettbewerbsamts hatte die GFD nicht nachgewiesen, dass der neue öffentliche Auftrag aus technischen Gründen nur von IBM ausgeführt werden könne. Außerdem sei die Notwendigkeit, die Ausschließlichkeitsrechte dieses Anbieters zu schützen, die Folge des früheren Verhaltens des Finanzministeriums.

Gegen die Entscheidung vom 9. Oktober 2017 legte die GFD Widerspruch beim Vorsitzenden des Wettbewerbsamts ein, den dieser zurückwies.

Die GFD erhob beim Krajský soud v Brn (Regionalgericht Brno [Brünn], Tschechische Republik) Klage gegen die Entscheidung des Vorsitzenden des Wettbewerbsamts; diese wurde abgewiesen mit der Begründung, die Voraussetzungen von § 23 Abs. 4 Buchst. a des Gesetzes 137/2006 seien nicht erfüllt:

– Zum Zeitpunkt der Vergabe des ursprünglichen Vertrags sei absehbar gewesen, dass für ADIS ein kontinuierlicher Wartungsdienst erforderlich sein würde, da es sich um ein System handle, das zur langfristigen Nutzung für einen Bereich (Besteuerung) konzipiert worden sei, der ständigen Veränderungen unterliege.

– Es sei unerheblich, dass bei der Unterzeichnung des ursprünglichen Vertrags die rechtlichen Vorschriften keinerlei Verpflichtung, den Anbieter im Rahmen eines Vergabeverfahrens auszuwählen, und keine Regelungen darüber enthalten hätten, inwieweit das Urheberrecht an ADIS geregelt werden müsse. Die Voraussetzungen zur Vergabe des Folgeauftrags müssten im Licht der geltenden Rechtsvorschriften zum Zeitpunkt dieser Vergabe beurteilt werden.

– Nicht erforderlich sei, dass der ursprüngliche Auftraggeber in der Absicht gehandelt habe, später das Gesetz 137/2006 zu umgehen.

– Selbst wenn es der GFD gelingen sollte, zu beweisen, dass kein anderer Anbieter als IBM in der Lage sei, den Auftrag auszuführen, ändere dies nichts an der Tatsache, dass die Ausschließlichkeitssituation Folge der Handlungen des Finanzministeriums sei. Der Nachweis, dass die formellen Voraussetzungen (d. h. die technischen Gründe und der Grund des Schutzes des Urheberrechts des Anbieters) vorlägen, wäre folglich zwecklos, da die materielle Voraussetzung (dass der öffentliche Auftraggeber die Ausschließlichkeitssituation nicht selbst herbeigeführt habe) nicht erfüllt sei.

Die GFD legte beim Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik) gegen das Urteil des Instanzgerichts Kassationsbeschwerde ein, die sie zusammengefasst folgendermaßen begründete:

– Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des ursprünglichen Vertrags sei der Anbieter als einziger in der Lage gewesen, die erforderlichen Leistungen zu erbringen (Bereitstellung von Servern mit seinem eigenen Betriebssystem und Gewährleistung der Wartung und Fernüberwachung). Aus technischen Gründen sei es unmöglich gewesen, einen anderen Anbieter zu finden.

– Das Finanzministerium habe vernünftigerweise nicht vorhersehen können, dass später weitere Maßnahmen erforderlich sein würden, um mit ADIS weiterarbeiten zu können.

– Im ursprünglichen Vertrag sei das Urheberrecht angemessen definiert worden. Seinerzeit sei es nicht möglich gewesen, diese Rechte an ADIS vollständig übertragen zu erhalten, da seine Elemente zum Teil vom Anbieter und dessen Partnern weltweit kommerziell genutzt worden seien. Die seinerzeit geltenden Rechtsvorschriften seien somit eingehalten worden. Wenn das Finanzministerium nicht habe wissen können, gegen welche künftigen gesetzlichen Bestimmungen es mit seinen Handlungen verstoße, schließe der Grundsatz der Rechtssicherheit die Annahme eines der GFD zurechenbaren Fehlers aus.

– Das Finanzministerium habe beim Abschluss des ursprünglichen Vertrags auch nicht wissen können, wie sich das Steuersystem entwickeln werde. Es habe also nicht gewusst, ob in ADIS eingegriffen werden müsse und ob es ADIS weiterhin nutzen werde. Es habe kein Grund bestanden, die Urheberrechte zu regeln, um vom Anbieter vollständig unabhängig zu werden.

– Würde jetzt ein Vergabeverfahren zur Bereitstellung eines neuen Informationssystems eingeleitet, würde dies für die GFD eine Verschwendung der in ADIS investierten Mittel und ein unwirtschaftliches, nicht nachvollziehbares Management bedeuten.

– Im Jahr 2015 habe die GFD versucht, sich durch den Erwerb der Urheberrechte an ADIS aus ihrer Abhängigkeit vom Anbieter zu befreien. Der Anbieter habe sich sowohl 2015 als auch in den drei Folgejahren geweigert, diese Rechte zu übertragen, so dass die GFD keine andere Wahl gehabt habe, als ein Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung durchzuführen. Anderenfalls wäre ADIS unbrauchbar geworden und die Steuerverwaltung nicht in der Lage gewesen, ihre Aufgabe zu erfüllen.

– Zusammenfassend habe die GFD vor der Einleitung des Verfahrens zur Vergabe des neuen Auftrags sämtliche erforderlichen Maßnahmen unternommen, um das in § 23 Abs. 4 Buchst. a des Gesetzes 137/2006 vorgesehene Verfahren ordnungsgemäß durchzuführen, was mehrere technische und rechtliche Sachverständigengutachten bestätigten.

In seiner Erwiderung auf die Kassationsbeschwerde führte das Wettbewerbsamt aus:

– Die GFD habe ADIS auf der Grundlage der Ausschließlichkeit des ursprünglichen Vertrags von 1992 bis mindestens Ende 2019 aufgrund von Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung ausgebaut.

– Das Sachverständigengutachten weise nicht nach, dass der ausgewählte Anbieter für dieses System aus technischen Gründen der einzig mögliche gewesen sei. Auch eine durch den Urheberrechtsschutz begründete Ausschließlichkeitssituation sei nicht erwiesen.

– Zweck der Leistung sei es gewesen, in drei Stufen ein Steuerverwaltungssystem zu schaffen, wovon der ursprüngliche Vertrag lediglich die erste Stufe betroffen habe. Die GFD habe gewusst, dass auf den ersten Vertrag weitere folgen würden.

– Aus der Beschreibung und dem Zweck von ADIS gehe hervor, dass es sich um ein robustes System handle, das langfristig habe genutzt werden sollen. Somit sei klar gewesen, dass zumindest ein technischer Support erforderlich sein würde.

– Weder das Finanzministerium noch später die GFD hätten auf die Entwicklung der Rechtsvorschriften reagiert; sie hätten stattdessen eine Auslegung des Vertrags und des Gesetzes 137/2006 vertreten, die es erlaubt habe, das System ohne Ausschreibung beizubehalten.

Das vorlegende Gericht bezweifelt hinsichtlich einer der – nach seinem Verständnis materiellen – Voraussetzungen für das Vorgehen im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung (dass nämlich die Ausschließlichkeitssituation nicht vom öffentlichen Auftraggeber selbst verursacht wurde), dass diese Voraussetzung vorliegt. Es möchte wissen, ob es hierfür die tatsächlichen und rechtlichen Umstände bewerten muss, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des ursprünglichen Vertrags bestanden.

 In diesem Zusammenhang hat der Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht) dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist bei der Beurteilung, ob die materielle Voraussetzung für die Anwendung des Verhandlungsverfahrens ohne Veröffentlichung einer Bekanntmachung erfüllt ist, d. h., ob der öffentliche Auftraggeber nicht durch sein eigenes Verhalten eine Ausschließlichkeitssituation nach Art. 31 Nr. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 herbeigeführt hat, zu berücksichtigen, unter welchen rechtlichen und tatsächlichen Umständen der Vertrag über die ursprüngliche Leistung geschlossen wurde, auf dem die öffentlichen Folgeaufträge beruhen?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 19. September 2023 beim Gerichtshof eingegangen.

Die tschechische und die slowakische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

Der Gerichtshof hat es nicht für erforderlich gehalten, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

IV. Würdigung

Der Rechtsstreit, mit dem das vorlegende Gericht befasst ist, geht zurück auf einen Vertrag über die Erbringung von IT‑Leistungen, der 1992, also vor dem Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union, ohne Ausschreibungsverfahren geschlossen wurde; damals war ein solches Vorgehen nach dem nationalen Recht zulässig.

In diesem ursprünglichen Vertrag wurden dem Anbieter Rechte eingeräumt, die ihm für die Weiterentwicklung und Wartung des eingeführten IT‑Systems eine Ausschließlichkeitsposition verschafften.

Nach Auffassung der GFD war es nach dem Beitritt der Tschechischen Republik zur Union aufgrund der ausschließlichen Urheberrechte des Anbieters gerechtfertigt, im Jahr 2016 für die Vergabe eines neuen Auftrags betreffend den Basiskundendienst nach Ablauf der Garantiezeit das Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung nach Art. 31 Nr. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 anzuwenden.

A. Anwendbare Richtlinie

Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof um Auslegung der Richtlinie 2004/18 und nicht der Richtlinie 2014/24/EU, mit der die Erstere aufgehoben wurde.

Grundsätzlich ist die Anwendung der Richtlinie angezeigt, die zum Zeitpunkt der Wahl des anzuwendenden Verfahrens durch den öffentlichen Auftraggeber in Kraft ist.

In der Vorlageentscheidung heißt es, die GFD habe das Verfahren zur Vergabe des neuen Auftrags am 1. März 2016 eingeleitet. Das Datum liegt damit vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie 2014/24, nach deren Art. 90 Abs. 1 der 18. April 2016.

Falls dies zutrifft, ist ratione temporis die Richtlinie 2004/18 anwendbar. Dieser Umstand hindert allerdings nicht daran, die Regelung in der Richtlinie 2014/24 bei der Auslegung der Vorschriften der Richtlinie 2004/18 zur Widerlegung oder Bestätigung zu berücksichtigen.

B. Art. 31 Nr. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 und die vom öffentlichen Auftraggeber herbeigeführte Ausschließlichkeitssituation

Gemäß Art. 31 Nr. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 müssen zwei Voraussetzungen kumulativ vorliegen, damit das dort geregelte direkte Vergabeverfahren angewandt werden kann: a) technische oder künstlerische Gründe oder sonstige, mit dem Schutz von Ausschließlichkeitsrechten zusammenhängende Gründe, und b) dass diese Gründe die Vergabe des Auftrags an ein bestimmtes Unternehmen absolut notwendig machen.

Eine ähnliche Formulierung wie in dieser Vorschrift wurde bereits in anderen, vor der Richtlinie 2004/18 angenommenen Vergaberichtlinien verwendet. Der Gerichtshof hatte sie bei Entscheidungen über Vertragsverletzungsklagen der Kommission gegen einzelne Handlungen der Mitgliedstaaten ausgelegt, die unter die Richtlinie 71/305 oder die Richtlinie 93/37 fallende Aufträge betrafen, die im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung vergeben worden waren.

In der Rechtsprechung zur Auslegung der zwei genannten und der nachfolgenden Richtlinien wurde immer wieder betont, dass die Bestimmungen zu Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung eng auszulegen seien und dass die Beweislast für die außergewöhnlichen Umstände, die die Ausnahme rechtfertigten, beim öffentlichen Auftraggeber liege.

Das vorlegende Gericht unterscheidet zwischen den “formellen” und den “materiellen” Voraussetzungen, die für die Anwendung des Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung vorliegen müssten. Hierzu führt es aus:

– Die formellen Voraussetzungen verlangten, dass ein Grund vorliege, der sich auf den Schutz ausschließlicher Rechte beziehe, und dass der Auftrag aus diesem Grund nur an einen bestimmten Anbieter vergeben werden könne.

– Die materiellen Voraussetzungen verlangten, dass diese formalen Gründe für den öffentlichen Auftraggeber nicht vorhersehbar gewesen und dass sie nicht ihm zuzuschreiben seien.

In Wirklichkeit sind die Voraussetzungen, die das vorlegende Gericht als formelle bezeichnet, diejenigen, die sich aus dem Wortlaut von Art. 31 Nr. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 ergeben. Die, die es als materielle Voraussetzungen bezeichnet, gehen darüber hinaus, da sie Bedingungen betreffen, die in dieser Bestimmung nicht ausdrücklich genannt sind.

Die Diskussion hat sich auf die materielle Voraussetzung konzentriert, dass die Ausschließlichkeitssituation nicht durch den öffentlichen Auftraggeber verursacht worden sein darf. Die von den Beteiligten im Vorabentscheidungsverfahren vertretenen Positionen sind gespalten:

– Für die tschechische Regierung ist die Ausnahme nach Art. 31 Nr. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 bereits gegeben, wenn die dort genannten objektiven Voraussetzungen erfüllt sind.

– Für die Kommission und die slowakische Regierung setzt diese Ausnahme zusätzlich voraus, dass der öffentliche Auftraggeber nicht der Verursacher der Ausschließlichkeitssituation ist.

Wäre der Rechtsstreit nach der Regelung der Richtlinie 2014/24 zu entscheiden, wäre ohne Zweifel die These der Kommission und der slowakischen Regierung vorzugswürdig. Sowohl im 50. Erwägungsgrund dieser Richtlinie als auch in ihrem Art. 32 Abs. 2 Buchst. b ist vorgesehen, dass die Ausschließlichkeit nicht vom öffentlichen Auftraggeber herbeigeführt worden sein darf:

– Im 50. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24 heißt es, dass

“… nur Situationen einer objektiven Ausschließlichkeit … den Rückgriff auf das Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung rechtfertigen [können], sofern die Ausschließlichkeitssituation nicht durch den öffentlichen Auftraggeber selbst mit Blick auf das anstehende Vergabeverfahren herbeigeführt wurde. …”

– In Art. 32 Abs. 2 Buchst. b Ziff. iii der Richtlinie 2014/24 ist festgelegt, dass das Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung angewandt werden kann, wenn Bauleistungen, Lieferungen oder Dienstleistungen aufgrund des Schutzes von “ausschließlichen Rechten, einschließlich der Rechte des geistigen Eigentums”, nur von einem bestimmten Anbieter erbracht beziehungsweise bereitgestellt werden können. Diese Ausnahme gilt jedoch nur,

“wenn es keine vernünftige Alternative oder Ersatzlösung gibt und der mangelnde Wettbewerb nicht das Ergebnis einer künstlichen Einschränkung der Auftragsvergabeparameter ist”.

Art. 31 Nr. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 enthielt dagegen keine ausdrückliche Aussage über mögliche Auswirkungen einer dem öffentlichen Auftraggeber zuzuschreibenden Ausschließlichkeit. Das Schweigen dieser Richtlinie bedeutet allerdings nicht, dass es dem öffentlichen Auftraggeber ohne Weiteres gestattet gewesen wäre, die Ausschließlichkeitssituation selbst herbeizuführen.

Wie das vorlegende Gericht zutreffend hervorhebt, hat die Richtlinie 2014/24 in diesem Punkt lediglich eine Regelung ausdrücklich formuliert, die in den früheren Vergaberichtlinien implizit bestand. So verlangt nach seiner Auffassung

“das Unionsrecht, … dass der Grund, aus dem der Auftrag gemäß Art. 31 Nr. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 nur an einen bestimmten Anbieter vergeben werden kann, nicht dem öffentlichen Auftraggeber zuzurechnen ist. …”

Ich gehe, was die Einwirkung des öffentlichen Auftraggebers auf die Umstände betrifft, auf die die Ausschließlichkeitssituation zurückgeht, von derselben Forderung aus wie das vorlegende Gericht. Es gibt eine Reihe von Gründen, die meines Erachtens hierfür sprechen.

Erstens besteht – dies ist der Hintergrund – das allgemeine Ziel der Vorschriften der Union über das öffentliche Auftragswesen darin, “den freien Dienstleistungsverkehr und die Öffnung für einen unverfälschten Wettbewerb in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten”. Ein Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung anzuwenden, ist genau das Verhalten, mit dem ein öffentlicher Auftraggeber die Öffnung des öffentlichen Auftragswesens gegenüber dem Wettbewerb am stärksten behindert.

Zweitens steht es diesem Ziel entgegen, wenn öffentliche Auftraggeber selbst die Umstände herbeiführen, auf die sie sich später berufen, um Verfahren zur Auswahl von Auftragnehmern anzuwenden, bei denen eine Teilnahme von Wettbewerbern nicht zugelassen ist.

Drittens sind, wie schon vorausgeschickt, die außergewöhnlichen Umstände, die ein Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung zulassen, an restriktiven Kriterien orientiert eng auszulegen.

Viertens würde die Logik von Art. 31 Nr. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 in ihr Gegenteil verkehrt, ließe man zu, dass der öffentliche Auftraggeber sich auf eine Ausschließlichkeitssituation beruft, die er selbst herbeigeführt hat. Nach dieser Logik sind Umstände, die es rechtfertigen, dass das ordentliche Verfahren (mit Bekanntmachung) nicht angewandt werden kann, solche, die außerhalb der Sphäre des öffentlichen Auftraggebers liegen, nicht diejenigen, die er selbst hervorgerufen hat.

Und schließlich verbietet der Grundsatz nemo auditur propriam turpitudinem allegans, dass eine Partei aus ihrem eigenen rechtswidrigen Verhalten Vorteile ziehen darf.

C. Bewertung der Ausschließlichkeit im vorliegenden Rechtsstreit

1. Ursprünglicher Vertrag (1992)


Nach der in der Vorlageentscheidung dargelegten Argumentation der GFD bestanden zum Zeitpunkt des Abschlusses des ursprünglichen Vertrags (1992) keinerlei nationale Rechtsvorschriften zum Urheberrecht oder zum öffentlichen Auftragswesen. Folglich seien die in der Zukunft in dieser Materie geltende rechtliche Regelung und die Entwicklung der nationalen Rechtsprechung nicht vorherzusehen gewesen. Auch sei nicht vorhersehbar gewesen, “dass die Festlegung der Lizenzbedingungen für ADIS später zu einer bedenklichen Situation führen würde …”.

Das vorlegende Gericht teilt diese Auffassung im Wesentlichen, mit Ausnahme einiger Nuancen. Es stimmt zu, dass im Jahr 1992 für die Vergabe öffentlicher Aufträge keine nationalen Rechtsvorschriften bestanden hätten, was es dem Finanzministerium erlaubt habe, den ADIS-Vertrag mit dem damals vereinbarten Inhalt abzuschließen. Der öffentliche Auftraggeber habe zudem “berechtigterweise davon ausgehen können, dass der ursprüngliche Vertrag mit demselben Anbieter fortgesetzt werden könne, ohne dass auch anderen die Möglichkeit geboten werden müsse, sich um die Erbringung der geforderten Leistung zu bewerben”.

Ich für meinen Teil habe keine Einwände gegen diese Aussagen, die sich auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit beziehen, zu dem das Recht der Union, der die Tschechische Republik damals noch nicht angehörte, schlicht nicht zum Tragen kam. Es ist Aufgabe des vorlegenden Gerichts, den Sachverhalt und den rechtlichen Rahmen beim Abschluss des ursprünglichen Vertrags festzustellen.

Unter diesen Umständen ist unerheblich, ob die Ausschließlichkeit, auf deren Grundlage der ursprüngliche Vertrag 1992 unterzeichnet wurde, durch den öffentlichen Auftraggeber verursacht war oder nicht.

2. Neuer Auftrag (2016)

Die Perspektive ändert sich, wenn man berücksichtigt, dass das Vertragsverhältnis zwischen den tschechischen Steuerbehörden und dem Anbieter viele Jahre lang andauerte (soweit hier von Belang, von 1992 bis 2016).

In diesem Zeitraum änderte sich der rechtliche Rahmen, insbesondere mit dem Beitritt der Tschechischen Republik zur Union im Jahr 2004. Ab dem Beitritt war die Einhaltung der Vergaberichtlinien “gemäß dem Grundsatz der sofortigen vollständigen Anwendung der Vorschriften des Unionsrechts auf die neuen Mitgliedstaaten” verpflichtend.

Das vorlegende Gericht unterstreicht die Bedeutung des neuen Rechtsrahmens und die Veränderung der Pflichten des öffentlichen Auftraggebers: Als die GFD den Auftrag von 2016 vergeben habe, seien das Gesetz 137/2006 und die Richtlinie 2004/18 in Kraft gewesen. Die GFD sei somit verpflichtet gewesen, dafür zu sorgen, dass durch ihre Handlungen keine Ausschließlichkeitssituationen herbeigeführt würden, die die Anwendung von Verhandlungsverfahren ohne vorherige Bekanntmachung rechtfertigten.

Ausgehend von dieser Feststellung und nach Prüfung der beiden zur Diskussion stehenden Thesen stellt das vorlegende Gericht in Rn. 32 der Vorlageentscheidung fest:

– “… Zwischen 1992 und 2016 hätte [die GFD] (bzw. ihre Rechtsvorgängerin) entweder neue vertragliche Regelungen für urheberrechtliche Schutzrechte aushandeln und so die öffentlichen Aufträge betreffend ADIS in einem der offeneren Ausschreibungsverfahren vergeben können, oder sie hätte mit der Beschaffung eines neuen Informationssystems beginnen können, selbst wenn dies vorübergehend zu erhöhten Kosten, langfristig aber zu Einsparungen hätte führen können.

– Daher kann die Situation zum Zeitpunkt des Abschlusses des ursprünglichen Vertrags nicht geltend gemacht werden, wenn die Ausschließlichkeitssituation nach der Verabschiedung der einschlägigen Rechtsvorschriften der Tschechischen Republik über das öffentliche Auftragswesen fortbesteht. Zur Beurteilung, ob das Verhandlungsverfahren ohne Veröffentlichung anwendbar ist, ist der Zeitpunkt zu berücksichtigen, zu dem die Entscheidung, den Auftrag in dieser Form zu vergeben, getroffen worden ist …”.


Was die Beurteilung des für den Rechtsstreit maßgeblichen Sachverhalts und der nationalen Rechtslage betrifft, ist den Erwägungen des vorlegenden Gerichts nicht zu widersprechen, und was die soeben wiedergegebenen Ausführungen im letzten Teil von Rn. 32 der Vorlageentscheidung betrifft, bin ich der Ansicht, dass sie eine zutreffende Auslegung der Richtlinie 2004/18 enthalten.

Die daraus abzuleitende Antwort auf die Vorlagefrage lautet, dass für den vorliegenden Fall unerheblich ist, dass der ursprüngliche Vertrag vor dem Beitritt der Tschechischen Republik zur Union geschlossen wurde. Entscheidend sind vielmehr die Handlungen des öffentlichen Auftraggebers, die zwischen 2004 und 2016 vorgenommen wurden. Von diesen Handlungen ist logischerweise die Vergabe des neuen Auftrags im Jahr 2016 die entscheidende.

Die tschechische Regierung versucht demgegenüber, ihre Verantwortlichkeit für die Herbeiführung der ausschließlichen Abhängigkeit mit der Begründung auszuschließen, dass für die Bewertung auf den Zeitpunkt der Unterzeichnung des ursprünglichen Vertrags abzustellen sei. Sofern ihr damaliges Verhalten einwandfrei rechtmäßig gewesen sei, könne beim öffentlichen Auftraggeber auch nicht von einem ihm zuzuschreibenden zielgerichteten Handeln gesprochen werden.

Diese Argumentation teile ich nicht:

– Wie bereits ausgeführt, beginnt die Verpflichtung des Mitgliedstaats, sein Handeln am Unionsrecht auszurichten, mit seinem Beitritt zur Union. Von diesem Moment an übernahm der öffentliche Auftraggeber als staatliche Einrichtung die Verpflichtung, die Einhaltung der Unionsvorschriften über die öffentliche Auftragsvergabe, darunter der Richtlinie 2004/18, sicherzustellen. In diesem Zusammenhang spielt keine Rolle, ob deren Verletzung durch die staatlichen Steuerbehörden auf ein aktives Handeln oder auf ein Unterlassen zurückzuführen war.

– Zur Beurteilung des Verhaltens des öffentlichen Auftraggebers ist dolus directus hinsichtlich der Herbeiführung der Ausschließlichkeitssituation keine Voraussetzung. Es genügt, dass der öffentliche Auftraggeber – indem er seine Pflicht, bei der Vergabe des neuen Vertrags die bestehende (und von ihm selbst oder seinem Rechtsvorgänger herbeigeführte) Ausschließlichkeit zu beenden, versäumt – auch den neuen Vertrag dem Wettbewerb entzieht, wie dies schon beim ursprünglichen Vertrag der Fall war.

Als weiteren Gesichtspunkt führt die tschechische Regierung an, sie räume zwar ein, dass sie in Situationen wie der vorliegenden Entscheidungen treffen müsse, die es ihr ermöglichten, sich aus der Abhängigkeit von einem bestimmten Anbieter zu befreien, spreche sich aber dafür aus, eine vernünftige Lösung zu akzeptieren, worunter sie die wirtschaftlich günstigste versteht, die das dauerhafte Funktionieren der Informationssysteme in kritischen Bereichen der nationalen Verwaltung gewährleiste. Ihrer Ansicht nach rechtfertigen diese Faktoren in der vorliegenden Rechtssache die Anwendung des Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung.

Auch diesem Argument kann ich nicht zustimmen, wenngleich ich verstehe, welchen Problemen sich der öffentliche Auftraggeber 2016 de facto gegenübersah. Steuerbehörden können sich jedoch ebenso wenig wie alle übrigen staatlichen Behörden auf praktische, verwaltungstechnische oder wirtschaftliche Schwierigkeiten berufen, um die Nichteinhaltung der durch eine Richtlinie festgelegten Verpflichtungen zu rechtfertigen, denn es ist Sache der Mitgliedstaaten, diese mit geeigneten Maßnahmen zu überwinden.

Eine weitere Argumentation, mit der die tschechische Regierung das Vorgehen des öffentlichen Auftraggebers verteidigt, ist das Vorbringen, dass dieser versucht habe, sich durch den Erwerb des Urheberrechts aus der Abhängigkeit von dem Anbieter zu befreien, was ihm jedoch aufgrund des Widerstands des Anbieters nicht gelungen sei.

Diesem Argument kann nicht gefolgt werden, wenn man bedenkt, dass der öffentliche Auftraggeber ab 2004 (bis zum Jahr 2016) genügend Zeit hatte, um die Verweigerungshaltung von IBM zu überwinden. Angesichts der schon jahrzehntelang bestehenden Ausschließlichkeitssituation hätte er Maßnahmen einleiten müssen, um seine Abhängigkeit von diesem Anbieter zu durchbrechen, und zwar durch die Suche nach Angeboten anderer Anbieter, was er offenbar nicht getan hat. Dies ist die Auffassung des vorlegenden Gerichts, die ich abermals teile.

Im Übrigen geht aus der Vorlageentscheidung nicht hervor, dass der öffentliche Auftraggeber ernsthafte Versuche unternommen hätte, um neue Anbieter zu finden und die Situation der Abhängigkeit, in der er sich befand, zu durchbrechen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs muss der öffentliche Auftraggeber “ernsthafte Nachforschungen anstellen”, um zu ermitteln, ob es auf europäischer Ebene Unternehmen gibt, die in der Lage sind, eine bestimmte Software zu liefern (bzw. zu ersetzen).

Anlässlich ihrer Darstellung des Problems der Anbieterbindung bei IT‑Systemen schlägt die Kommission den öffentlichen Auftraggebern bestimmte Alternativen vor, um Einschränkungen bei der öffentlichen Auftragsvergabe – wie im vorliegenden Fall – zu überwinden.

Obwohl die tschechischen Behörden vortragen, Verfahren für eine Ex-ante-Kontrolle eingeführt zu haben, um die in der Mitteilung von 2013 erwähnte Anbieterbindung zu bekämpfen, wurde in dem Vertrag, der Gegenstand des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ist, die bereits bestehende Ausschließlichkeitssituation unverändert beibehalten. Dem öffentlichen Auftraggeber ist daher zuzuschreiben, dass er im Jahr 2016 durch Handeln oder Unterlassen eine von seinem Rechtsvorgänger herbeigeführte Ausschließlichkeitssituation aufrechterhalten hat, die ihn daran hätte hindern müssen, das Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung anzuwenden.

Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass sich der Gerichtshof bei ähnlichen Aufträgen wie dem hier in Rede stehenden bereits zur Notwendigkeit einer Öffnung gegenüber dem Wettbewerb geäußert und dabei als selbstverständlich angesehen hat, dass diese den allgemeinen Regeln über die Vergabe öffentlicher Aufträge unterliegen:

“… ein öffentlicher Auftraggeber, der ein Vergabeverfahren zur Sicherstellung der Pflege, der Anpassung oder der Weiterentwicklung einer bei einem Wirtschaftsteilnehmer erworbenen Software durchführen möchte, [muss] dafür sorgen …, dass er den potenziellen Bewerbern und Bietern hinreichende Informationen übermittelt, um die Entwicklung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem abgeleiteten Markt für die Pflege, die Anpassung oder die Weiterentwicklung der Software zu ermöglichen”.

V. Ergebnis

In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen schlage ich vor, dem Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik) folgendermaßen zu antworten:

Art. 31 Nr. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge

ist wie folgt auszulegen:

Der öffentliche Auftraggeber darf nicht durch sein eigenes Handeln eine Ausschließlichkeitssituation herbeiführen, um mit dieser die Anwendung eines Verhandlungsverfahrens ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung zu rechtfertigen.

Schließt der öffentliche Auftraggeber einen neuen Vertrag ab, auf den die Richtlinie 2004/18 Anwendung findet, ist unerheblich, dass die Ausschließlichkeitssituation von einem ursprünglichen Vertrag herrührt, den die Behörden eines Mitgliedstaats vor seinem Beitritt zur Europäischen Union abgeschlossen haben. Um das Verhalten des öffentlichen Auftraggebers im Zusammenhang mit dem neuen Vertrag zu bewerten, ist auf den tatsächlichen und rechtlichen Kontext zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses neuen Vertrags abzustellen.

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