Ax Vergaberecht | Rechtsanwalt

Praxistipp: Kostenschätzung eines öffentlichen Auftraggebers hat nicht primär die Aufgabe, vorab den Marktpreis abzubilden

Praxistipp: Kostenschätzung eines öffentlichen Auftraggebers hat nicht primär die Aufgabe, vorab den Marktpreis abzubilden

von Thomas Ax

Die Kostenschätzung eines öffentlichen Auftraggebers hat nicht primär die Aufgabe, vorab den Marktpreis abzubilden. Deshalb wird sie auch oft nicht in der Bekanntmachung erwähnt. Eine fehlerhafte Schätzung wird nur vergaberelevant, wenn der Auftraggeber darauf eine Aufhebung der Vergabe wegen Unwirtschaftlichkeit stützt, oder wenn sie ohne sachlichen Grund einen Wert unterhalb der Schwellenwerte das § 106 GWB festlegt, so dass der öffentliche Auftraggeber von einer eigentlich gebotenen europaweiten Bekanntmachung absieht und den Auftrag national vergeben möchte. Beides liegt hier nicht vor. Der Marktwert entsteht nicht durch die Kostenschätzung, wird auch nicht vom Auftraggeber entwickelt, sondern er entsteht durch die eingegangenen Angebote in Abhängigkeit von den Vorgaben der Vergabeunterlagen.

Praxistipp: Anwendung von abstrakten Wertungskriterien muss durch eine konkrete Dokumentation für Nachprüfungsinstanzen nachvollziehbar sein

Praxistipp: Anwendung von abstrakten Wertungskriterien muss durch eine konkrete Dokumentation für Nachprüfungsinstanzen nachvollziehbar sein

von Thomas Ax

Das Transparenzgebot bedeutet, dass der öffentliche Auftraggeber die Wertung so durchführen muss, dass sie dem jeweiligen Bieter oder einer Nachprüfungsinstanz nachträglich in einer nachvollziehbaren Weise erläutert werden kann. Diese Verpflichtung steht in einem Spannungsverhältnis zu dem bei jeder Beurteilung vorhandenen umfangreichen Beurteilungsspielraum des öffentlichen Auftraggebers. Bei der Wertung der Angebote anhand der Zuschlagskriterien steht dem öffentlichen Auftraggeber ein weiter Beurteilungsspielraum zu, der von den Nachprüfungsinstanzen nur eingeschränkt überprüfbar ist. Die Vergabekammer ist keinesfalls die Fachaufsicht des jeweiligen Auftraggebers, die ihre eigenen Erwägungen oder Wertungen an die Stelle des Auftraggebers setzen darf. Die Vergabekammer hat vielmehr den umfangreichen Beurteilungsspielraum des Auftraggebers zu respektieren (vgl. u.a. VK Westfalen, Beschluss vom 28.11.2017, VK 1-27/17, m. w. N). Die Überprüfung durch die Nachprüfungsinstanzen beschränkt sich darauf, ob der Auftraggeber das vorgeschriebene Verfahren eingehalten hat, von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, keine willkürlichen oder sonstigen nicht nachvollziehbaren Erwägungen eingeflossen sind und einzelne Wertungsgesichtspunkte objektiv nicht fehlgewichtet wurden. Es handelt sich bei den Kriterien um abstrakte Wertungskriterien. Die Vorgabe abstrakter Wertungskriterien ist vom BGH (BGH, Beschluss vom 04.04.2017, X ZB 3 /17) in der sogenannten Schulnotenentscheidung als zulässig bestätigt worden. Der BGH hat dies mit der Forderung verknüpft, dass die Anwendung der abstrakten Kriterien durch eine konkrete Dokumentation für Nachprüfungsinstanzen nachvollziehbar wird.

Praxistipp: Nur beschränktes Akteneinsichtsrecht im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren

Praxistipp: Nur beschränktes Akteneinsichtsrecht im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren

von Thomas Ax

Der Umfang der Akteneinsicht ist wegen der Akzessorietät dieses Verfahrensrechts begrenzt auf diejenigen Inhalte “der Akten” der Vergabestelle, die erforderlich sind, um dem Antragsteller ausreichend Gelegenheit zu geben, seine vorgenannten Rechte zu wahren.

Der Umfang der im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren zu gewährenden Akteneinsicht steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gegenstand der Nachprüfung.

1. Das Gesetz gewährt den Beteiligten eines vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahrens in § 165 GWB bzw. in §§ 175 Nr. 2 i.V.m. 70 GWB zwar ein weitgehend voraussetzungsloses Akteneinsichtsrecht, der Gesetzgeber hat aber den Umfang der Akteneinsicht nicht geregelt.

2. Es gehört zur generellen Eigenheit von Auskunftsrechten, dass sie nicht über die Reichweite des materiellen Begehrens in der Hauptsache hinausgehen (vgl. nur BGH, Urteil v. 07.07.1982 – IVb ZR 738/80, NJW 1982, 2771, m.w.N.; BGH, Urteil v. 15.11.2017 – XII ZB 503/16, BGHZ 217, 24, m.w.N. dort jeweils zum Auskunftsanspruch nach § 1580 BGB). In der Hauptsache geht es in den vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren sachlich um die Prüfung, ob die Vergabestelle eine dem Schutz der Bieter dienende vergaberechtliche Vorschrift verletzt hat, und – wegen der Ausgestaltung des sog. Primärrechtsschutzes nach den §§ 155 ff. GWB als Individualrechtsschutz – darum, ob die in Betracht kommende Rechtsverletzung zu einem Nachteil des Antragstellers in Form der Möglichkeit der Beeinträchtigung seiner Chance auf Zuschlagserteilung im konkreten Verfahren geführt hat. Der Umfang der Akteneinsicht ist wegen der Akzessorietät dieses Verfahrensrechts begrenzt auf diejenigen Inhalte “der Akten” der Vergabestelle, die erforderlich sind, um dem Antragsteller ausreichend Gelegenheit zu geben, seine vorgenannten Rechte zu wahren.

3. Daneben ist zu berücksichtigen, dass – ungeachtet der gesondert vorzunehmenden Prüfung der Beeinträchtigung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen anderer Teilnehmer des Vergabeverfahrens durch die Gewährung von Akteneinsicht – auch die Gesichtspunkte der Verhältnismäßigkeit (geringstmöglicher Eingriff in Rechte Dritter) und insbesondere des Beschleunigungsgrundsatzes im Verfahren eine Beschränkung der Akteneinsicht rechtfertigen können.

4. Der Bundesgerichtshof hat diese ständige Rechtsprechung der Vergabesenate der Oberlandesgerichte, u.a. des erkennenden Senats (vgl. nur OLG Naumburg, Beschluss v. 01.06.2011 – 2 Verg 3/11, VergabeR 2012, 250, noch zum Akteneinsichtsrecht im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren nach § 111 GWB a.F. ), ausdrücklich bestätigt und dazu zutreffend auf die nach § 175 Nr. 2 GWB ergänzend heranzuziehende Vorschrift des § 72 Abs. 2 Satz 4 GWB verwiesen (vgl. BGH, Beschluss v.31.01.2017 – X ZB 10/16 “Notärztliche Dienstleistungen”, BGHZ 214, 11,; vgl. auch Kus in: Röwekamp/ Kus/ Portz/ Prieß, GWB, 5. Aufl. 2020, § 165 Rn. 28 ff. mw.w.N.; vgl. Byok in: Byok/ Jaeger, VergabeR, 4. Aufl. 2018, § 165 Rn. 6 m.w.N.).

Praxistipp: Funktionale Leistung muss zweckmäßig erscheinen

Praxistipp: Funktionale Leistung muss zweckmäßig erscheinen

von Thomas Ax

Voraussetzung dafür, dass der Auftraggeber eine Leistung teilfunktional beschreibt, mithin den Entwurf selbst erstellt und den Auftragnehmer mit der Ausführungsplanung bis zur schlüsselfertigen Errichtung beauftragt, ist, dass diese Art der Ausschreibung nach Abwägung aller Umstände zweckmäßig erscheint.

1. Im Gegensatz zu einer konstruktiven Leistungsbeschreibung ist eine funktionale Leistungsbeschreibung dadurch gekennzeichnet, dass nur Rahmenbedingungen für das Ziel zur Beschaffung etablierter Lösungen vorgegeben werden und der Auftraggeber bestimmte Planungsaufgaben, aber auch Risiken, auf den Bieter verlagert. Typischerweise kombiniert die funktionale Leistungsbeschreibung einen Wettbewerb, der eine Konzeptionierung und Planung der Leistung zum Gegenstand hat, mit der Vergabe der Leistung als solcher und unterscheidet sich dadurch vom reinen Wettbewerb um einen klar umrissenen und beschriebenen Auftrag. Dass die Bieter dabei, und zwar unter anderem bei der Konzeptionierung und Planung der Leistung, Aufgaben übernehmen sollen, die an sich dem Auftraggeber obliegen, lässt die funktionale Ausschreibung nicht per se unzulässig werden. Deren Wesen liegt nämlich gerade darin, dass der Auftraggeber im Planungsbereich auf Bieterseite vorhandenes Knowhow abschöpfen will und dies grundsätzlich auch tun darf. Ihrem Wesen entsprechend schließt die funktionale Ausschreibung ebenso wenig aus, dass nicht oder nicht genau kalkulierbare und damit riskante Leistungen ausgeschrieben werden. Denn es gibt keinen Rechtssatz, der Bietern oder Auftragnehmern eine Übernahme riskanter Leistungen verbietet. Dass bei funktionaler Ausschreibung von Planungsleistungen Risiken auf den Auftragnehmer übertragen werden, ist für diese Art der Ausschreibung vielmehr typisch und für die Bieter auch zu erkennen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschlüsse vom 11. Dezember 2013 – Verg 22/13 -, und vom 19. Juni 2013, Verg 7/13 -; VK Niedersachsen, Beschluss vom 7. Oktober 2015 – VgK-31/2015 -).

2. Gleiches gilt für eine Ausschreibung, die nur teilweise funktionale Elemente enthält. Denn auch bei einer nur teilfunktionalen Ausschreibung überträgt der Auftraggeber wesentliche Planungsaufgaben, insbesondere die Ausführungsplanung des Architekten und/oder des Ingenieurs, ganz oder größtenteils auf den Bieter und übernimmt nur planerische Vorarbeiten wie die Erstellung von Entwürfen selbst. Gegen eine teilfunktionale Ausschreibung bestehen vergaberechtlich keine Bedenken, weil ein in allen Details ausgearbeitetes Leistungsverzeichnis zwar den Regelfall der Leistungsbeschreibung darstellt, andere Formen, das heißt funktionale Leistungsmerkmale, jedoch nicht ausgeschlossen sind (vgl. OLG Düsseldorf, Beschlüsse vom 11. Dezember 2013 – Verg 22/13 -, und vom 19. Juni 2013 – Verg 7/13 -; Prieß, in: Kulartz/Marx/Portz/Prieß, Kommentar zur VOB/A, § 7 Rn. 191; vgl. auch § 121 Abs. 1 Satz 2 GWB.
3. Voraussetzung dafür, dass der Auftraggeber eine Leistung teilfunktional beschreibt, mithin den Entwurf selbst erstellt und den Auftragnehmer mit der Ausführungsplanung bis zur schlüsselfertigen Errichtung beauftragt, ist, dass diese Art der Ausschreibung nach Abwägung aller Umstände zweckmäßig erscheint (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17. April 2014 – VI-2 Kart 2/13 (V) -; VK Münster, Beschluss vom 17. Juli 2013 – VK 6/13 -; Lampert, in: Beck’scher Vergaberechtskommentar Band 2 (3. Aufl. 2019), § 7c VOB/A-EU Rn. 5).

Auch wenn an die Zweckmäßigkeitsgründe keine überhöhten Anforderungen gestellt werden (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. Juni 2017 – Verg 2/17 -; OLG München, Beschluss vom 10. Dezember 2009 – Verg 16/09 -; VK Münster, Beschluss vom 17. Juli 2013 – VK 6/13 -; Zimmermann, jurisPR-VergR 12/2017 Anm. 2), stellt die Wahl einer Leistungsbeschreibung mit Leistungsprogramm einen Ausnahmefall dar, der vom Auftraggeber zu begründen und zu dokumentieren ist (vgl. VK Niedersachsen, Beschluss vom 7. Oktober 2015 – VgK-31/2015 -; Krohn, in: Gabriel/Krohn/Neun, Handbuch Vergaberecht (3. Aufl. 2021), § 19 Rn. 15; Lampert, in: Beck’scher Vergaberechtskommentar Band 2 (3. Aufl. 2019), § 7c VOB/A-EU Rn. 22; Kratzenberg, in: Ingenstau/Korbion, VOB Teile A und B (15. Aufl. 2004), § 9 Rn. 125; Markus, in: Kapellmann/Messerschmidt, VOB-Kommentar Teil A/B (8. Aufl. 2022), § 7c Rn. 38).

Praxistipp: Bieter sollen ihre Preise sicher und ohne umfangreiche Vorarbeiten ermitteln können

Praxistipp: Bieter sollen ihre Preise sicher und ohne umfangreiche Vorarbeiten ermitteln können

von Thomas Ax

Die Bieter sollen ihre Preise sicher und ohne umfangreiche Vorarbeiten ermitteln können, sodass die Vergleichbarkeit der Angebote sichergestellt ist. Der Auftraggeber muss sich hinreichend über die Einzelheiten der beabsichtigten Bauerstellung im Klaren sein. Bevor er mit der Ausschreibung beginnt, müssen die ihm grundsätzlich obliegenden planerischen Vorarbeiten abgeschlossen sein. Hierzu zählt insbesondere eine abgeschlossene Ausführungsplanung mit Mengenermittlung; im zweiten Schritt müssen die festgestellten, die Preise beeinflussenden Umstände in der Beschreibung der Leistung angegeben werden (vgl. Kratzenberg, in: Ingenstau/Korbion, VOB Teile A und B (15. Aufl. 2004), § 9 Rn. 39, 41).
1. Die Leistung muss so beschrieben sein, dass der Bieter das von ihm Verlangte nicht nur klar und unmissverständlich sieht, sondern er auch anhand der Leistungsangaben in die Lage versetzt wird, die Preise sowohl im Einzelnen als auch im Ganzen ordnungsgemäß zu kalkulieren. 1. Das Gebot der eindeutigen Leistungsbeschreibung betrifft die Art und Weise, wie der Auftraggeber die Leistungsanforderungen äußern muss (vgl. zu der gleichlautenden Vorschrift § 7 VOB/A 2019: von dem Knesebeck, in: BeckOK Vergaberecht (34. Edition, Stand: 1. Februar 2023), § 7 Rn. 1 mit Verweis auf die Kommentierung zu § 7 EU VOB/A Rn. 5).

2. Eine Leistungsbeschreibung ist eindeutig, wenn aus Sicht eines durchschnittlichen und mit der Art der ausgeschriebenen Leistung vertrauten Bieters klar ersichtlich ist, welche Leistung der Auftragnehmer zu welcher Zeit, in welchem Umfang und in welcher Qualität zu erbringen hat und welche Anforderungen und Bedingungen an die vom Auftraggeber geforderte Leistung gestellt werden (vgl. BayObOLG, Beschluss vom 1. August 2024 – Verg 19/23 -, m.w.N.).
3. Das Gebot der erschöpfenden Leistungsbeschreibung zielt auf inhaltliche Vorgaben ab: Der Auftraggeber muss alle Leistungsmerkmale, Bedingungen, Umstände und technischen Anforderungen, deren Kenntnis für die Erstellung des Angebots erforderlich sind, in der Leistungsbeschreibung vollständig und inhaltlich richtig angeben (vgl. zu der gleichlautenden Vorschrift § 7 VOB/A 2019: von dem Knesebeck, in: BeckOK Vergaberecht (34. Edition, Stand: 1. Februar 2023), § 7 Rn. 1 mit Verweis auf die Kommentierung zu § 7 EU VOB/A Rn. 6).

4. Eine eindeutige und erschöpfende Beschreibung der Leistung hat sowohl für die Schaffung einer transparenten Wettbewerbsgrundlage bis zum Zuschlag als auch für die Bestimmung des Umfangs der späteren Leistungspflicht des Auftragnehmers grundlegende Bedeutung. Die Beschreibung der Leistung erfordert dabei einen klaren, vollständigen und für jeden in Betracht kommenden fachkundigen Bieter eindeutigen Inhalt. Das bedeutet, dass alle Bewerber die Beschreibung im gleichen Sinne verstehen müssen. Hierfür muss sich der Auftraggeber in den Einzelangaben so klar ausdrücken, dass die fachkundigen Bieter sie objektiv im gleichen Sinne verstehen müssen (vgl. Kratzenberg, in: Ingenstau/Korbion, VOB Teile A und B (15. Aufl. 2004), § 9 Rn. 8, 15 f.; vgl. zu der gleichlautenden Vorschrift § 7 VOB/A 2019: Markus, in: Kapellmann/Messerschmidt VOB-Kommentar, Teil A/B (8. Aufl. 2022), § 7 Rn. 16).

5. Die Bieter sollen ihre Preise sicher und ohne umfangreiche Vorarbeiten ermitteln können, sodass die Vergleichbarkeit der Angebote sichergestellt ist. Auf diese Weise wird gewährleistet, dass der Wettbewerb im Bieterverfahren auf sicheren Grundlagen fußt. Hierfür muss der Auftraggeber im ersten Schritt zunächst alle Umstände feststellen, die die geplante bauliche Anlage beeinflussen. Der Auftraggeber muss sich hinreichend über die Einzelheiten der beabsichtigten Bauerstellung im Klaren sein. Bevor er mit der Ausschreibung beginnt, müssen die ihm grundsätzlich obliegenden planerischen Vorarbeiten abgeschlossen sein. Hierzu zählt insbesondere eine abgeschlossene Ausführungsplanung mit Mengenermittlung; im zweiten Schritt müssen die festgestellten, die Preise beeinflussenden Umstände in der Beschreibung der Leistung angegeben werden (vgl. Kratzenberg, in: Ingenstau/Korbion, VOB Teile A und B (15. Aufl. 2004), § 9 Rn. 39, 41).

6. Des Weiteren muss die Leistung so beschrieben sein, dass der Bieter das von ihm Verlangte nicht nur klar und unmissverständlich sieht, sondern er auch anhand der Leistungsangaben in die Lage versetzt wird, die Preise sowohl im Einzelnen als auch im Ganzen ordnungsgemäß zu kalkulieren. Alle tatsächlichen Umstände, die wesentliche Aspekte für eine sachgerechte, vollständige Kalkulation nach allgemeinen baubetrieblichen und bautechnischen Regeln ergeben, müssen in der Leistungsbeschreibung angegeben sein. Hierzu zählt beispielsweise die Mitteilung der näheren Verhältnisse, wie das Vorhandensein von Versorgungsleitungen und die Beschaffenheit des Baugrundes, wenn diese für die Preisbildung bei dem betreffenden Bauvorhaben von Einfluss sind. Auch ist der Auftraggeber gehalten, für die von ihm genannten Positionen zumindest eine ungefähre, angenäherte Größenordnung der geforderten Leistungen als kalkulationsrelevante Grundlage zu ermitteln und anzugeben (vgl. VK Thüringen, Gerichtsbescheid vom 23. April 2015 – 250-4002-1768/2015-003-J -; Kratzenberg, in: Ingenstau/Korbion, VOB Teile A und B (15. Aufl. 2004), § 9 Rn. 23 f.).

OLG KA zu der Frage, dass sofern sich eine Einrichtung wegen ihrer Vorteilhaftigkeit für beide Seiten objektiv als Grenzeinrichtung darstellt, eine Vermutung dafür spricht, dass sie (einstmals) mit dem Einverständnis beider Nachbarn errichtet wurde

OLG KA zu der Frage, dass sofern sich eine Einrichtung wegen ihrer Vorteilhaftigkeit für beide Seiten objektiv als Grenzeinrichtung darstellt, eine Vermutung dafür spricht, dass sie (einstmals) mit dem Einverständnis beider Nachbarn errichtet wurde

vorgestellt von Thomas Ax

Eine entlang der gemeinsamen Grenze verlaufenden Mauer kann aufgrund ihrer grenzscheidenden Funktion auch dann dem Vorteil beider Grundstücke dienen, wenn die Mauer gleichzeitig dazu dient, das höher gelegene Grundstücke abzustützen. Sofern sich eine Einrichtung wegen ihrer Vorteilhaftigkeit für beide Seiten – wie im Streitfall – objektiv als Grenzeinrichtung darstellt, spricht eine Vermutung dafür, dass sie (einstmals) mit dem Einverständnis beider Nachbarn errichtet wurde.
OLG Karlsruhe, Urteil vom 03.04.2025 – 25 U 162/23

Gründe:

I.

Die Kläger begehren von dem Beklagten die Beseitigung einer Grenzmauer, die Errichtung einer neuen Befestigung sowie die Feststellung der Verpflichtung zur Erstattung von Schäden.

Die Kläger sind seit 2013 Miteigentümer des Grundstücks Flurstück Nr. X, A-Straße in L. Der Beklagte ist seit 1990 Eigentümer des benachbarten Hanggrundstücks Flurstück Nr. Y, B-Straße, L., das im Verhältnis zum Grundstück der Kläger höher liegt. Beide Grundstücke teilen sich eine gemeinsame Grenze. Entlang dieser Grenze befindet sich eine ca. 57 m lange Bruchsteinmauer. Die Bruchsteinmauer ragt fast auf dem gesamten Mauerverlauf auf das Grundstück der Kläger, meist mit einer Breite von einigen Zentimetern, teilweise auch mit einer Breite von bis zu 44 Zentimetern.

Bis zum Erwerb des Grundstücks Flurstück Nummer X durch die Kläger war der Beklagte der Auffassung, die Mauer stünde im Eigentum der Voreigentümerin der Kläger. Die Voreigentümerin hatte bis dahin die Mauer unterhalten und deren Bewuchs reguliert.

Die Kläger forderten mit anwaltlichem Schreiben vom 07.12.2018 (Anlage K 4) den Beklagten u.a. dazu auf, die Mauer zu beseitigen und neu zu errichten. Hierzu übergaben sie dem Beklagten einen Plan (Anlage K 3), auf dem verschiedene aus Sicht der Kläger bestehende Schadstellen der Mauer vermerkt waren. Der Beklagte nahm in der Folge einzelne Ausbesserungsarbeiten vor und erklärte sich mit anwaltlichen Schreiben vom 28.03.2019 (Anlage K 7) und 29.08.2019 (Anlage K 14) zur Sanierung der bestehenden Mauer bereit. Ein kompletter Rückbau und eine Neuerrichtung der Mauer erfolgte jedoch nicht.

Vor dem Landgericht haben die Kläger vorgetragen, die Mauer hätte bei ihrer Errichtung ausschließlich auf dem Grundstück des Beklagten gestanden. Aus der Mauer seien an verschiedenen Stellen Steine ausgebrochen und die Mauer sei nicht standsicher, außerdem sei die Mauer in verschiedenen Bereichen auf ihr Grundstück abgerutscht. Die herabfallenden Steine hätten zudem bereits die Rückwand eines auf dem Grundstück der Kläger stehenden Gartenhauses beschädigt. Es sei weiter davon auszugehen, dass beim Abbruch der Mauer und ihrer Neuerrichtung weitere Teile des klägerischen Grundstücks beschädigt werden würden.

Die Kläger haben beantragt,

1.Der Beklagte wird verurteilt, seine auf das im Eigentum der Kläger Ziff. 1 und Ziff. 2 stehende Grundstück B-Straße in L., Flst.-Nr. X, abgerutschte Mauer auf der gesamten Länge zu beseitigen.

2.Der Beklagte wird weiter verurteilt, auf seinem Grundstück Flst-Nr. Y im Bereich der Grundstücksgrenze zum Flst.-Nr. X der Kläger Ziff. 1 und Ziff. 2 entweder durch Errichtung einer Mauer von genügender Stärke oder durch eine andere gleich sichere Befestigung oder Böschung unter Einhaltung der Abstandsflächen nach §§ 10 ff. NRG BW eine sichere Befestigung auf der gesamten Grundstücklänge zu errichten.

3.Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, den Klägern Ziff. 1 und Ziff. 2 als Gesamtgläubiger sämtlichen Schaden und sämtliche Aufwendungen, die aus der mangelhaften Stützmauer und ihrer Beseitigung sowie der Neuerrichtung resultieren oder noch entstehen werden, zu erstatten.

4.Der Beklagte ist verpflichtet, den Klägern Ziff. 1 und Ziff. 2 als Gesamtgläubiger außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 2.555,29 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten.

Der Beklagte hat beantragt,

Die Klage wird abgewiesen.

Der Beklagte hat vorgetragen, es sei zu keinen Hangrutschungen gekommen. Soweit sich Teile der Mauer auf dem Grundstück der Kläger befänden, liege ein duldungspflichtiger Überbau vor. Etwaige Risse oder Hohlstellen der Mauer beruhten darauf, dass im Bereich der Mauer durch die Voreigentümerin der Kläger umfangreiche Rodungsarbeiten ausgeführt worden seien. Seit den von ihm durchgeführten Sanierungsarbeiten würden auch keine Steine mehr auf das Grundstück der Kläger fallen, auch sei das Gartenhaus der Kläger bislang nicht beschädigt worden.

Das Landgericht hat die Klage nach Einnahme eines Augenscheins am 31.03.2021 mit Urteil vom selben Tag abgewiesen.

Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, es könne dahinstehen, ob eine Eigentumsbeeinträchtigung vorliege oder nicht. Denn dem Beklagten könne auch bei Vorliegen eines Anspruchs aus § 1004 BGB nicht auferlegt werden, die Mauer zu beseitigen und eine neue Mauer zu errichten, da es dem Störer überlassen sei, wie er eine mögliche Eigentumsbeeinträchtigung beseitige. Geschuldet sei im Falle einer Störung nur ein Erfolg, nämlich die Beseitigung der Störung. Die Auswahl unter den verschiedenen Möglichkeiten der Beseitigung der Störung obliege jedoch dem Störer. Die Inaugenscheinnahme der Mauer habe zur Überzeugung des Gerichts ergeben, dass die Steine nur an einzelnen Stellen nicht mehr fest mit der Mauer verhaftet seien und eine Sanierung der betroffenen Mauerteile ernsthaft in Betracht komme. Ein Abriss der Mauer stelle somit nicht die einzige Möglichkeit dar, die Störung zu beseitigen.

Der Feststellungsantrag scheitere am Bestimmtheitserfordernis, da nicht klar sei, welche konkreten Schäden und welche Aufwendungen gemeint seien. Zudem fehle es an einer konkreten Pflichtverletzung des Beklagten, nachdem dieser sich auch im Termin zur mündlichen Verhandlung kooperativ gezeigt und deutlich gemacht habe, dass er zur Sanierung der Mauer bereit sei.

Gegen dieses Urteil haben die Kläger am 10.05.2021 Berufung eingelegt, mit der sie ihre erstinstanzlichen Anträge weiterverfolgt haben.

Die Kläger haben gerügt, dass es das Landgericht unterlassen habe, sowohl die von Klägerseite vorgetragene fehlende Standsicherheit der Mauer als auch die Hangrutschung über die Grundstücksgrenze hinaus durch Sachverständigengutachten zu verifizieren. Die Kläger hätten mit der Vorlage des amtlichen Lageplans (Anlage K 16) substantiiert dargelegt, dass die Mauer vollständig auf dem Grundstück des Beklagten errichtet worden und durch das zwischenzeitliche Abrutschen der Mauer die Grundstückslinie und damit die Grundstücksgrenze überschritten worden sei, und zwar auf der gesamten Grundstückslänge mit einer Tiefe von ca. 10 – 15 cm. Wäre das Landgericht dem insoweit angebotenen Sachverständigenbeweis nachgegangen, hätte es festgestellt, dass eine erhebliche Einwirkung im Sinne von § 1004 BGB vorliege. Es hätte weiter festgestellt, dass infolge der fehlenden Standsicherheit der Mauer eine Sanierung nicht möglich sei und zudem die Mauer auf die Grundstücksgrenze zurückgesetzt werden müsse, womit sich die Alternativen auf die Beseitigung und Neuerrichtung als einzige Möglichkeit verdichtet hätten. Dem Landgericht habe die eigene Sachkunde gefehlt, um vermessungstechnisch beurteilen zu können, ob die Mauer über die Grenze gerutscht sei. Ebenso habe dem Landgericht die eigene Sachkunde gefehlt, um sicher beurteilen zu können, ob die Mauer in statischer und bautechnischer Hinsicht noch standsicher sei.

Das Landgericht habe zudem rechtsfehlerhaft die Vorschriften der §§ 9, 10 NRG BW (Gesetz über das Nachbarrecht Baden-Württemberg) nicht beachtet.

Auch die Zurückweisung des Feststellungsantrags sei fehlerhaft. Denn die Kläger hätten vorgetragen, dass die Rückwand des Gartenhauses beschädigt worden sei und in Teilen erneuert werden müsse. Des Weiteren sei Erdreich heruntergerutscht, weshalb fortlaufend Abstützungen angebracht werden müssten. Der hierfür erforderliche künftige Instandsetzungsaufwand könne derzeit noch nicht beziffert werden.

Der Beklagte hat das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens verteidigt. Die Kläger hätten für die erstinstanzlich vom Beklagten bestrittene Behauptung, es sei aufgrund des schlechten Zustands der Mauer sowie infolge des Erddrucks zu Hangrutschungen gekommen, keinen Beweis angeboten. Die behaupteten Hangrutschungen seien im Rahmen eines Augenscheins nicht festgestellt worden. Die Mauer sei standsicher und erfülle vollumfänglich ihre Funktion. Die Behauptung einer fehlenden inneren Standsicherheit erfolge daher erkennbar ins Blaue hinein und laufe auf einen rechtlich nicht zulässigen Ausforschungsbeweis hinaus. Es sei auch heute gar nicht mehr festzustellen, welche genaue Lage die Grenzmauer bei der Errichtung gehabt habe, weshalb auch eine Grundstücksvermessung nicht weiterhelfe. Das Gericht sei auch nicht zur Einholung eines Sachverständigengutachtens verpflichtet gewesen, ein Richter dürfe sich beliebig amtlich und privat unterrichten, auch eine frühere Bearbeitung ähnlich gelagerter Sachverhalte könne zu entsprechenden Fachkenntnissen führen. Die §§ 9, 10 NRG BW fänden keine Anwendung, weil es schon an einer vom Beklagten oder seinen Rechtsvorgängern durchgeführten Erhöhung des Grundstücks fehle.

Der Senat hat daraufhin mit Urteil vom 20.01.2022, Az.: 25 U 372/21, das Urteil und das Verfahren des Landgerichts Offenburg aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, das angefochtene Urteil leide an wesentlichen Verfahrensfehlern. So habe das Landgericht den klägerischen Vortrag nicht berücksichtigt, die Mauer sei vom Rechtsvorgänger der Beklagten auf dem Grundstück des Beklagten errichtet worden und sei nun infolge von Hangrutschungen auf ihr Grundstück gerutscht. Dieser Vortrag sei entscheidungserheblich. Denn auf der Grundlage des Vorbringens der Kläger finde durch die Grenzüberschreitung eine Benutzung des klägerischen Grundstücks statt. Die Kläger müssten die daraus resultierende Beeinträchtigung grundsätzlich nicht hinnehmen, sondern könnten nach § 1004 BGB die Beseitigung dieser Beeinträchtigung verlangen. Zudem komme ein Anspruch aus § 907 BGB in Betracht. Eine Sanierung würde an der durch die Grenzüberschreitung hervorgerufenen Beeinträchtigung nichts ändern.

Das Landgericht habe es außerdem verfahrensfehlerhaft unterlassen, hinsichtlich der Standsicherheit der Mauer Beweis zu erheben. Die Frage der Standsicherheit und der Sanierungsmöglichkeit sei ebenfalls entscheidungserheblich. Zwar sei es grundsätzlich dem Störer überlassen, diejenige Maßnahme auszuwählen, die er zur Beseitigung der Störung für richtig halte, dies gelte jedoch nicht, wenn die Störung nur durch eine konkrete Maßnahme beseitigt werden könne.

Aufgrund dieser Verfahrensfehler sei eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig.

Das Landgericht hat daraufhin aufgrund Beweisbeschlusses vom 11.03.2022 (AS I 72) ein vermessungstechnisches Gutachten des Sachverständigen O. vom 14.06.2022 (Anlageband “Gutachten SV O.”) mit Ergänzung vom 27.04.2023 (AS I 188) zu der Behauptung der Kläger eingeholt, die Mauer sei ganz oder teilweise auf das Grundstück der Kläger gerutscht. Das Landgericht hat außerdem ein schriftliches Gutachten des Sachverständigen B. vom 13.03.2023 (Anlageband “Gutachten SV B.”) eingeholt, das dieser bei einem als Ortstermin durchgeführten Termin zur mündlichen Verhandlung vom 20.07.2023 (AS I 270 ff.) mündlich erläutert hat.

Die Kläger haben ihr bisheriges Vorbringen vor dem Landgericht wiederholt und vertieft. Sie haben angeführt, das Gutachten des Sachverständigen O. bestätige ihre Behauptung, dass die Mauer auf dem Grundstück des Beklagten errichtet worden und später auf ihr Grundstück gerutscht sei und weiter abrutsche. Die Mauer sei nicht mehr standsicher und müsse abgebrochen werden, eine Sanierung sei nicht möglich.

Die Kläger haben beantragt,

1.Der Beklagte wird verurteilt, seine auf das im Eigentum der Kläger Ziff. 1 und Ziff. 2 stehende Grundstück B-Straße in L., Flurstück Nummer X, abgerutschte Mauer auf der gesamten Länge zu beseitigen.

2.Der Beklagte wird weiter verurteilt, auf seinem Grundstück Flurstück Nr. Y im Bereich der Grundstücksgrenze zum Flurstück Nr. X der Kläger Ziff. 1 und Ziff. 2 entweder durch Errichtung einer Mauer von genügender Stärke oder durch eine andere gleich sichere Befestigung oder Böschung eine sichere Befestigung auf der gesamten Grundstückslänge zu errichten.

3.Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, den Klägern Ziff. 1 und Ziff. 2 als Gesamtgläubiger sämtlichen Schaden, der aus der mangelhaften Stützmauer und ihrer Beseitigung sowie der Neuerrichtung resultiert und noch entstehen wird, zu erstatten.

4.Der Beklagte ist verpflichtet, den Klägern Ziff. 1 und Ziff. 2 als Gesamtgläubiger außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 2.555,29 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten.

Der Beklagte hat beantragt,

Die Klage wird abgewiesen.

Der Beklagte hat sein bisheriges Vorbringen vertieft und ergänzt. Er hat weiterhin vorgetragen, dass die Mauer bereits seit ihrer Errichtung teilweise auf dem Grundstück der Kläger gestanden habe. Bei der Mauer handele es sich daher um eine Grenzanlage im Sinne des § 921 BGB. Die Unterhaltungskosten seien nach § 922 S. 3 BGB von beiden Grundstückseigentümern daher zu gleichen Teilen zu tragen, so dass die Klage schon deshalb unbegründet sei, weil die dem Beklagten die Kosten der Unterhaltung der Mauer als Grenzanlage alleine aufbürden wolle.

Das Landgericht hat die Klage sodann mit Urteil vom 01.08.2023 erneut abgewiesen.

Zur Begründung hat es ausgeführt, die Kläger hätten keinen Anspruch auf Beseitigung der Mauer aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB bzw. aus § 907 BGB, da sie gemäß § 1004 Abs. 2 BGB zur Duldung verpflichtet seien.

Bei der Stützmauer handele es sich um eine Grenzanlage gemäß § 921 BGB, die Duldungspflicht ergebe sich somit aus § 922 S. 3 BGB. Die Mauer habe sich nach den Ausführungen des Sachverständigen B., denen sich das Gericht anschließe, von Beginn an auf beiden Grundstücken befunden und schneide damit die gemeinsame Grenze. Sie diene aufgrund ihrer Grenzscheidefunktion beiden Grundstücken, zudem verhindere sie das Abrutschen von Erde vom höher gelegenen Grundstück des Beklagten auf das der Kläger, dies stelle ebenfalls einen Vorteil für beide Grundstücke dar. Für die zudem erforderliche Zustimmung der damaligen Eigentümer des klägerischen Grundstücks spreche eine Vermutung. Die Kläger könnten somit nicht einseitig eine Beseitigung der Mauer verlangen, da der Beklagte ein Interesse am Fortbestand der Mauer bekundet habe.

Das Landgericht hat weiter ausgeführt, dass ein Anspruch auf Beseitigung der Mauer gemäß § 1004 BGB zudem verjährt sei. Die Mauer sei unstreitig ca. 70 Jahre alt. Die 30-jährige Verjährungsfrist beginne mit der Errichtung der Mauer auf dem Grundstück der Kläger zu laufen und sei daher in den 1980er Jahren abgelaufen.

Schließlich stehe dem Beseitigungsanspruch auch eine Duldungspflicht der Kläger unter dem Gesichtspunkt des nachbarrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben nach § 242 BGB entgegen. Ein solche Duldungspflicht ergebe sich aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis zwar nur in Ausnahmefällen, ein solcher sei hier jedoch gegeben. Dies ergebe sich aus der Geringfügigkeit der Überbauung sowie daraus, dass die Kläger und ihre Rechtsvorgänger den Zustand viele Jahr klaglos hingenommen hätten. Hinzu komme, dass die Mauer eine tragende und stützende Funktion habe und nicht entfernt werden könne, ohne durch eine neue, kostenaufwändige Stützmauer ersetzt zu werden.

Auch ein Anspruch auf Errichtung einer Mauer von genügender Stärke oder auf Errichtung einer anderen sicheren Befestigung stehe den Klägern nicht zu. Dieser Klageanspruch stehe in einem Bedingungsverhältnis zum geltend gemachten Antrag auf Beseitigung der Mauer. Den Klägern stehe jedoch – wie bereits ausgeführt – kein Beseitigungsanspruch zu.

Ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass sich die Standsicherheit der Mauer laut dem Gutachten des Sachverständigen B. vom 13.03.2023 durch Sanierung wiederherstellen lasse. Aus § 922 BGB folge, dass der änderungswillige Eigentümer mit Zustimmung des Nachbarn Änderungen vornehmen bzw. bei Verweigerung der Zustimmung auf Feststellung klagen könne, dass der Nachbar kein Interesse an der unveränderten Beibehaltung der Einrichtung habe. Einen solchen Antrag hätten die Kläger jedoch nicht gestellt. Darüber hinaus habe sich der Beklagte von Beginn an mit einer Sanierung der Mauer einverstanden erklärt.

Schließlich hätten die Kläger auch keinen Anspruch auf Feststellung, dass der Beklagte verpflichtet sei, den Klägern sämtlichen Schaden, der aus der mangelhaften Stützmauer und ihrer Beseitigung sowie der Neuerrichtung resultiere und noch entstehen werde, zu erstatten.

Wegen der weiteren tatsächlichen Feststellungen, soweit sie mit den hier getroffenen nicht im Widerspruch stehen, der Antragstellung in erster Instanz sowie der weiteren Entscheidungsgründe wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.

Gegen dieses Urteil haben die Kläger am 31.08.2023 erneut Berufung eingelegt, mit der sie ihre erstinstanzlichen Anträge weiterverfolgen.

Die Kläger rügen, das Landgericht sei unzutreffend davon ausgegangen, dass es sich bei der Mauer um eine Grenzeinrichtung im Sinne des § 921 BGB handele.

Die Mauer sei vom Rechtsvorgänger des Beklagten ausschließlich auf dem Grundstück des Beklagten errichtet worden und aufgrund ihre Mangelhaftigkeit und ihrer fehlenden Standsicherheit auf das Grundstück der Kläger gerutscht. Dass die Stützmauer ausschließlich auf dem Grundstück der Beklagten habe errichtet werden sollen und auch errichtet worden sei, ergebe sich aus dem bereits in erster Instanz vorgelegten Lageplan (Anlage K 16). Auch der Sachverständigen O. komme in seinem Gutachten zu dem eindeutigen Schluss, dass ein Bewegungsprozess der Bruchsteinmauer stattgefunden habe, so dass bereits nach dessen Gutachten festgestanden habe, dass die Mauer zu beseitigen sei. Dass die Mauer auf das Grundstück der Kläger gerutscht sei, ergebe sich zudem daraus, dass bei der Vermessung durch das Ingenieurbüro F. am 19.03.2013 (Anlage K 3) noch geringere Grenzüberschreitungen vorgelegen hätten als später bei der Vermessung durch den Sachverständigen O..

Auch sei die Mauer schon deshalb keine Grenzeinrichtung, weil die Beklagte weder den Nutzen der Mauer für beide Grundstücke noch das Einverständnis der Rechtsvorgänger der Kläger vorgetragen habe. Die Mauer diene allein dem Grundstück des Beklagten, da sie dessen Grundstück stütze.

Die Kläger sind außerdem der Auffassung, dass der klägerische Anspruch aus § 1004 BGB nicht verjährt sei. Das Landgericht habe verkannt, dass durch den fortlaufenden und immer noch nicht abgeschlossenen Prozess des Rutschens der Mauer auf der gesamten Länge des Grundstücks jeweils weitere selbständige Beeinträchtigungen vorlägen.

Schließlich bestehe auch keine Duldungspflicht aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis, da es keinesfalls geboten sein könne, eine nicht mehr standsichere Mauer auf dem eigenen Grundstück zu dulden.

Die Kläger beantragen,

Das Urteil des Landgerichts Offenburg vom 07.08.2023, Az. 2 O 317/20, wird aufgehoben und der Beklagte wie folgt verurteilt:

a) Der Beklagte wird verurteilt, sein auf das im Eigentum der Kläger Ziff. 1 und 2 stehende Grundstück B-Straße in L., Flst.-Nr. X abgerutschte Mauerwerk auf der gesamten Länge zu beseitigen.

b) Der Beklagte wird weiter verurteilt, auf seinem Grundstück Flst.-Nr. Y im Bereich der Grundstücksgrenze zum Flst.-Nr. X der Kläger Ziff. 1 und 2 entweder durch Errichtung einer Mauer von genügender Stärke oder durch eine andere gleich sichere Befestigung oder Böschung eine sichere Befestigung auf der gesamten Grundstückslänge zu errichten.

c) Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, den Klägern Ziff. 1 und 2 als Gesamtgläubiger sämtlichen Schaden, der aus der mangelhaften Stützmauer und ihrer Beseitigung sowie der Neuerrichtung resultiert und noch entstehen wird, zu erstatten.

d) Der Beklagte ist verpflichtet, den Klägern Ziff. 1 und 2 als Gesamtgläubigern außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 2.555,29 € zzgl. Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Beklagte ist der Auffassung, das Landgericht sei zutreffend von der Standsicherheit der Mauer ausgegangen. Das Landgericht habe zudem korrekt eine Grenzanlage im Sinne des § 921 BGB angenommen. Die Mauer sei einvernehmlich so errichtet worden, dass sie von der Grenze geschnitten worden sei. Ein Abrutschen der Mauer als Ganzes sei von den Sachverständigen gerade nicht festgestellt worden. Dem von den Klägern vorgelegte Lageplan komme hier kein Beweiswert zu, da dieser lediglich ein flächendeckendes Verzeichnis der Grundstücke darstelle und die genaue Lage der Mauer vor Erstellung des Planes nicht mittels Vermessung ermittelt worden sei. Die einvernehmliche Errichtung werde vermutet, den (Gegen-)Beweis hätten die Kläger nicht angetreten.

Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

II.

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.

Die Kläger haben gegen den Beklagten weder einen Anspruch auf Beseitigung der Mauer (1.), noch auf die auf eine Beseitigung folgende Errichtung einer (neuen) Mauer oder sonstigen gleich sicheren Befestigung oder Böschung (2.). Die Kläger können vom Beklagten auch nicht die Feststellung einer Ersatzpflicht für entstandene und künftige Schäden verlangen (3.). Mangels eines Anspruchs in der Hauptsache besteht auch kein Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten (4.).

1. Die Kläger haben keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Beseitigung der streitgegenständlichen Mauer.

a) Es besteht kein Anspruch der Kläger auf Beseitigung der Mauer gemäß §§ 1004 Abs. 1, 903 BGB.

Es ist unstreitig, dass die Mauer über die Grenze zum klägerischen Grundstück in dieses hineinragt.

Die Kläger haben diese Beeinträchtigung ihres Eigentums gemäß § 1004 Abs. 2 BGB zu dulden. Die Duldungspflicht ergibt sich aus § 922 S. 3 BGB, weil es sich bei der Mauer um eine Grenzanlage im Sinne des § 921 BGB handelt (a.). Die Kläger können daher vom Beklagten nicht die Beseitigung der Mauer verlangen (b.)

a. Eine Grenzanlage im Sinne des § 921 BGB liegt vor, wenn sich die Anlage zumindest teilweise über die Grenze zweier Grundstücke erstreckt und funktionell beiden Grundstücken dient (vgl. BGH, Urteil vom 07. März 2003 – V ZR 11/02 -). In Betracht kommt ein Vorteil jeglicher Art, der wie bei Hecke, Zaun oder Mauer in einer grenzscheidenden Wirkung liegen kann, aber – wie bei einer gemeinsam genutzten Einfahrt – nicht zwingend in der Grenzziehung bestehen muss (vgl. Staudinger/Roth (2020) BGB § 921, Rn. 8; Fritzsche in BeckOK BGB, Hau/Poseck, 73. Ed. Stand: 01.02.2025, § 921 BGB, Rn. 6 f.). Erforderlich für das Vorliegen einer Grenzeinrichtung ist außerdem, dass beide Nachbarn ihrer Errichtung als einer gemeinsamen Grenzanlage zustimmen. An die Zustimmung der früheren Eigentümer sind die Parteien als Rechtsnachfolger gebunden (vgl. BGH, Urteil vom 20. Oktober 2017 – V ZR 42/17 -, Rn. 6 m.w.N.; Fritzsche in BeckOK BGB, 73. Ed. Stand: 01.02.2025, § 921 BGB Rn. 8).

(1) Soweit das Landgericht festgestellt hat, dass sich die Mauer von ihrer Errichtung an auf beiden Grundstücken befand, ist hiervon- auch in Ansehung der Berufungsangriffe der Kläger – nicht abzuweichen.

(a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Diese Bindung erfasst auch die Feststellung des Erstgerichts, dass eine bestimmte Tatsache nicht nachweisbar sei (vgl. BGH, Urteil vom 30. November 2004 – X ZR 133/03 – Rn. 16). Diese Bindung entfällt aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO). Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinne sind alle objektivierbaren rechtlichen oder tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Derartige konkrete Anhaltspunkte können sich unter anderem aus dem Vortrag der Parteien, vorbehaltlich der Anwendung von Präklusionsvorschriften, auch aus dem Vortrag der Parteien in der Berufungsinstanz ergeben. Dabei können sich Zweifel im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz. Entsprechende Zweifel liegen schon dann vor, wenn aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt. Bei der Berufungsinstanz handelt es sich daher um eine zweite – wenn auch eingeschränkte – Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer fehlerfreien und überzeugenden und damit richtigen Entscheidung des Einzelfalls besteht. Aus diesem Grund hat das Berufungsgericht die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen (vgl. BGH, Urteil vom 14. Februar 2017 – VI ZR 434/15 -, Rn. 20; BGH, Beschluss vom 04. September 2019 – VII ZR 69/17 – Rn. 11; BGH, Beschluss vom 08. August 2023 – VIII ZR 20/23 – Rn. 14 ff. m.w.N.).

(b) Das Landgericht hat aufgrund der der Ausführungen des Sachverständigen B. in seinem schriftlichen Gutachten vom 14.06.2022 und im Termin zur mündlichen Verhandlung am 20.07.2023 festgestellt, dass sich die Mauer bereits zum Zeitpunkt ihrer Errichtung teilweise auf dem Grundstück der Kläger und teilweise auf dem Grundstück des Beklagten befand und die Mauer damit bereits bei Errichtung von der gemeinsamen Grenze der Parteien durchschnitten wurde. Das Landgericht ist daher zu dem Schluss gekommen, dass die Mauer nicht ausschließlich auf dem Grundstück der Beklagten errichtet wurde und nicht erst im Lauf der Zeit auf das klägerische Grundstück rutschte.

Die Ausführungen des Sachverständigen B. sowohl in seinem schriftlichen Gutachten vom 14.06.2022 als auch im Termin zur mündlichen Verhandlung am 20.07.2023 sind schlüssig und widerspruchsfrei. Der Sachverständige ging auf Nachfrage im Termin zur mündlichen Verhandlung am 20.07.2023 noch einmal ausführlich auf die Frage ein, ob sich die Mauer von Anfang an auf beiden Grundstücken befunden habe, und kam zum Ergebnis, dass die Mauer von Anfang an teilweise auf dem Grundstück der Kläger stand. Der Senat schließt sich insoweit der überzeugenden Beweiswürdigung des Landgerichts an. Im Streitfall sind daher keine konkreten Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Feststellung des Landgerichts vorhanden, wonach die Mauer teilweise auf dem Grundstück der Kläger errichtet wurde und damit von Beginn an teilweise auf dem Grundstück der Kläger stand.

Die Berufungsangriffe der Kläger gegen die vom Landgericht erhobenen Beweise und die darauf beruhende umfassende und sorgfältige Beweiserhebung greifen dagegen nicht durch.

Die Kläger rügen, schon der Sachverständige O. sei zu dem eindeutigen Ergebnis gekommen, dass ein Bewegungsprozess der Bruchsteinmauer zweifelsfrei stattgefunden habe, so dass bereits nach dessen Gutachten festgestanden habe, dass die Mauer zu beseitigen sei. Dies trifft nicht zu.

Der Sachverständige O. hat sowohl die Grundstücksgrenze als auch den zum Zeitpunkt der Erstattung des Gutachtens vorhandenen Mauerverlauf erfasst. Anhand dieser Daten hat er in seinem Gutachten dargelegt, inwieweit die Mauer zum Zeitpunkt der Erstattung des Gutachtens auf dem Grundstück des Beklagten stand und inwieweit sie auf das Grundstück der Kläger ragte. In seinem ergänzenden Gutachten vom 27.04.2023 (AS I 188) hat er die Abweichungen zwischen seinen Messungen und der Vermessung vom 19.03.2013 (Anlage K 3) dargestellt.

Der Sachverständige O. hat keine Feststellungen zu einem (möglicherweise abweichenden) früheren Standort der Mauer getroffen. Eine Angabe, es habe ein Bewegungsprozess der Bruchsteinmauer stattgefunden, findet sich in seinem Gutachten nicht. Eine solches Ergebnis lässt sich dem Gutachten auch nicht entnehmen.

Mit ihrer Rüge, aus dem Gutachten des Sachverständigen O. ergebe sich, dass sich die Grenzüberschreitungen seit der Vermessung durch das Ingenieurbüro F. weiter vergrößert hätten, da bei der Vermessung vom 19.03.2013 (Anlage K 3) noch geringere Beeinträchtigungen des Grundstücks der Kläger feststellt worden seien, dringen die Kläger ebenfalls nicht durch. Der Sachverständige B. hat sich in der Sitzung vor dem Landgericht Offenburg am 20.07.2023 bei der mündlichen Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens vom 14.06.2022 zu dieser Abweichung geäußert und vermutet, die Differenzen könnten durch Messungen an unterschiedlichen Stellen zu erklären sein. Jedenfalls könne die Differenz aber jedenfalls an den nicht geschädigten Stellen nicht durch ein Abrutschen erklärt werden, ein solches sei an diesen Stellen nicht erkennbar.

Auch der in der Berufung erneut vorgebrachte Einwand, aus dem als Anlage K 16 vorgelegten Lageplan ergebe sich, dass die Mauer ursprünglich ausschließlich auf dem Grundstück des Beklagten errichtet worden sei, greift nicht durch.

Der Sachverständige B. hat sich bei seiner Begutachtung auf die vom Sachverständigen O. durchgeführten Messungen, die Messungen aus dem von den Klägern vorgelegten Privatgutachten (Anlage K 3) und seine eigene Begutachtung der Mauer gestützt. Er ist dabei schlüssig und nachvollziehbar zu dem Fazit gekommen, dass die Mauer von Beginn an auf beiden Grundstücken errichtet wurde.

Der als Anlage K 16 vorgelegten Lageplan ist entgegen der Auffassung der Kläger nicht geeignet, dieses Ergebnis in Frage zu stellen. Der Lageplan enthält keinerlei Angaben zu einer vor Ort durchgeführten Vermessung der Mauer. Allein die Einzeichnung der Mauer als Linie im Plan ermöglicht keine Aussage zur exakten Lage der Mauer, die die Schlussfolgerungen des Sachverständigen O. in Frage stellen könnte. Schon dass die Mauer vermessen wurde, lässt sich dem Lageplan nicht entnehmen.

Eine solche Vermessung war im Übrigen auch nicht möglich. Denn der Lageplan datiert vom 23.01.1952. Aus dem von den Klägern vorgelegten Erläuterungsbericht vom 25.01.1952 ergibt sich, dass zu diesem Zeitpunkt, also am 25.01.1952 und somit nach der Erstellung des Lageplans vom 23.01.1952, die Einfriedung des heute im Eigentum des Beklagten stehenden Grundstücks durch eine Mauer zwar bereits geplant war, dass die Mauer aber erst noch errichtet werden sollte. Wenn sich aber die Mauer am 25.01.1952 noch im Planungsstadium befand, kann der Lageplan vom 23.01.1952 allenfalls eine Planung wiedergeben. Eine Feststellung darüber, wo die Mauer in der Folge exakt errichtet wurde, lässt anhand des Lageplans somit gerade nicht treffen.

(2) Die Mauer dient ihrer objektiven Beschaffenheit nach auch dem Vorteil beider Grundstücke.

Dieser beiderseitige Vorteil kann zwar aus rechtlichen Gründen dann nicht mit der tatsächlich vorhandenen Stützfunktion der Steinmauer, durch die ein Abrutschen des Grundstücks des Beklagten auf das tiefer liegende Grundstück der Kläger verhindert wird, begründet werden, wenn der Beklagte sein Grundstück, wie von Klägerseite behauptet, erhöht hätte.

Denn nach § 9 Abs. 1 NRG BW hat derjenige, der den Boden seines Grundstücks über die Oberfläche des Nachbargrundstücks erhöht, solche Vorkehrungen zu treffen und zu unterhalten, dass eine Schädigung des Nachbargrundstücks durch Absturz oder Pressung des Bodens ausgeschlossen ist. Diese Verpflichtung geht auf den späteren Eigentümer über. Damit liegt die nachbarrechtliche Verantwortung für die Stützfunktion der Steinmauer grundsätzlich beim Beklagten, so dass es widersprüchlich wäre, mit der Stützfunktion eine aus den §§ 921, 922 BGB herrührende rechtliche Verantwortung abzuleiten.

Der beiderseitige Vorteil der Steinmauer ergibt sich aber jedenfalls aus ihrer objektiv grenzscheidenden Funktion. Wie auf dem im Gutachten des Sachverständigen O. vom 14.06.2022 enthaltenen Übersichtsplan zu erkennen, steht die Mauer entlang der gesamten gemeinsamen Grundstücksgrenze der Parteien und grenzt diese durchgängig erkennbar voneinander ab. Eine Mauer ist als Beispiel einer Grenzanlage in § 921 BGB ausdrücklich genannt; das Gesetz geht nach seiner Formulierung (“… eine Mauer … oder eine andere Einrichtung, die zum Vorteil beider Grundstücke dient, …”) davon aus, dass eine Grenzmauer regelmäßig zum Vorteil beider Grundstücke dient. Etwas anderes gilt in Streitfall auch nicht deshalb, weil die Mauer unstreitig auch dazu dient, das höher gelegene Grundstück des Beklagten abzustützen (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 09. April 2008 – 6 U 199/06 -, Rn. 10; OLG Karlsruhe, Urteil vom 17. Juni 2022 – 9 U 196/21 – unveröffentlicht).

(3) Sofern sich eine Einrichtung wegen ihrer Vorteilhaftigkeit für beide Seiten – wie im Streitfall – objektiv als Grenzeinrichtung darstellt, spricht eine Vermutung dafür, dass sie (einstmals) mit dem Einverständnis beider Nachbarn errichtet wurde. Denn die Regelung in den §§ 921, 922 BGB haben zum Ziel, Streit über Vorgänge in der Vergangenheit zu vermeiden; eine scheinbare Grenzeinrichtung soll im Zweifel als eine wirkliche gelten. Das lässt sich nur erreichen, wenn auch die einvernehmliche Errichtung vermutet wird (vgl. BGH, Urteil vom 20. Oktober 2017 – V ZR 42/17 -, Rn. 11 f.; Vollkommer in BeckOGK, Stand: 01.08.2024, § 921 BGB Rn. 19, beck-online; Rösch in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 10. Aufl. Stand: 15.03.2023, § 921 BGB, Rn. 3).

Die Vermutung ergibt sich hier daraus, dass die streitgegenständliche Mauer – wie oben ausgeführt – auf beiden Grundstücken errichtet wurde und wegen ihrer Grenzscheidefunktion für beide Grundstücke objektiv vorteilhaft ist.

Ob es sich dabei um eine gesetzliche oder um eine tatsächliche Vermutung handelt, bedarf keiner Entscheidung. Von einer einverständlich errichteten Grenzeinrichtung ist hier nämlich auch dann auszugehen, wenn für das Einverständnis nur eine tatsächliche Vermutung im Sinne einer Beweiserleichterung sprechen sollte. Es sind keine Gesichtspunkte ersichtlich, die geeignet sind, die Vermutung zu erschüttern. Unstreitig wurde die Mauer weder von den Klägern noch von den Beklagten errichtet. Keiner der Parteien legt dar, welche Kenntnis die damaligen Grundstückseigentümer vom Verlauf der Mauer hatten und ob ein Einverständnis der Rechtsvorgänger der Eigentümer beider Grundstücke vorlag oder nicht. Die tatsächliche Vermutung ist damit nicht erschüttert.

Insbesondere ist die tatsächliche Vermutung nicht durch die Vorlage des Erläuterungsberichts vom 25.01.1952 durch die Kläger in der Sitzung vor dem Senat am 11.03.2025 erschüttert. Denn bei der vorgelegten Urkunde handelt es sich um ein neues Angriffsmittel im Sinne des § 531 Abs. 2 ZPO (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Juli 2024 – V ZR 164/23 -, Rn. 6). Nachdem der Beklagte den Inhalt der Urkunde bestritten hat, ist die Urkunde nicht nach § 532 Abs. 2 ZPO zu berücksichtigen, da nicht ersichtlich wird, warum die Kläger mit Blick auf ihre Obliegenheiten nach § 282 ZPO diese Urkunde nicht bereits in erster Instanz vorgelegt haben. Im Übrigen ist festzustellen, dass die Urkunde keine Angabe dazu enthält, wo genau die Mauer errichtet werden soll, so dass also auch insoweit weder eine Aussage zur Kenntnis damaligen Grundstückseigentümer noch zu deren eventuellem Einverständnis mit einer Errichtung auf der Grenze getroffen werden kann. Allein daraus, dass das Grundstück des Beklagten gegen die B-Gasse und gegen das Grundstück der Kläger durch eine Stützmauer eingefriedet werden sollte, kann nicht darauf geschlossen werden, dass die Mauer zur Einfriedung dann nicht trotzdem mit dem Einverständnis der Rechtsvorgänger der Kläger auf der Grenze errichtet wurde.

b. Die Kläger sind somit gemäß § 922 S. 3 BGB verpflichtet, die Mauer zu dulden. Solange der Beklagte weiterhin Interesse am Bestand der Mauer hat, darf die Mauer daher nicht ohne seine Zustimmung beseitigt oder geändert werden, auch kann von ihm nicht verlangt werden, dass er die Mauer beseitigt.

Selbst wenn man den Vortrag der Kläger unterstellt und davon ausgeht, dass die Mauer nicht mehr standsicher und eine Sanierung technisch nicht möglich ist, können die Kläger nicht einseitig vom Beklagten die Beseitigung der Mauer verlangen, da die Verwaltung der Grenzanlage in Anwendung der §§ 922 S. 4, 744, 745 BGB beiden Nachbarn gemeinsam zusteht, wobei nach § 922 S. 2 BGB die Unterhaltungskosten von den Nachbarn zu gleichen Teilen zu tragen sind. Dies gilt sowohl für Aufwendungen, die erforderlich sind, die Grenzeinrichtung zu erhalten (also etwa Sanierungskosten) als auch für Kosten des Abbruchs bei einer drohenden Gefahr (Roth, in: Staudinger (2020) BGB § 922, Rn. 6, 7).

b) Die Kläger haben auch keinen deliktischen Anspruch gegen den Beklagten auf Beseitigung der Mauer.

Die Kläger haben schon keine Pflichtverletzung des Beklagten dargelegt. Da es sich – wie oben ausgeführt – bei der Mauer um eine Grenzanlage im Sinne des § 921 BGB handelt, obliegt die Sanierung der Mauer beiden Parteien gleichermaßen. Die Kläger können grundsätzlich gemäß §§ 922 S. 4, 744 Abs. 2 BGB die zur Erhaltung der Mauer notwendigen Maßnahmen ohne Zustimmung des Beklagten treffen und vom Beklagten die Übernahme der hälftigen Kosten verlangen. Sie können aber nicht verlangen, dass der Beklagte die Mauer beseitigt. Dadurch, dass der Beklagte die Mauer – wenn man den Vortrag der Kläger als wahr unterstellt – lediglich unzureichend saniert hat, hat er somit keine Pflicht verletzt.

Den Klägern steht auch kein Anspruch aus § 823 Abs. 2 i.V.m. §§ 1004, 903, 907 BGB zu, auch hier besteht eine Duldungspflicht und gehen die Regelungen über Grenzeinrichtungen gemäß §§ 921 BGB vor.

2. Bezüglich des Anspruches auf Neuerrichtung der Mauer kann auf die Ausführungen des Landgerichts verwiesen werden. Der Klageantrag Ziff. 2 steht in einem Bedingungsverhältnis zum geltend gemachten Antrag auf Beseitigung der Mauer. Wie oben dargestellt, steht den Klägern jedoch kein Beseitigungsanspruch zu.

3. Schließlich haben die Kläger keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Feststellung einer Verpflichtung, sämtlichen Schaden, der aus der mangelhaften Stützmauer und ihrer Beseitigung sowie der Neuerrichtung resultiert und noch entstehen wird, zu erstatten.

a) Einem Anspruch gemäß §§ 1004, 907 BGB stehen die Regelungen über Grenzanlagen gemäß § 921 ff. BGB entgegen. Etwaige sich aus dem Eigentum ergebende Rechte werden durch die gemeinsamen Unterhaltspflichten der Nachbarn vollständig überlagert (vgl. Vollkommer in BeckOGK, Stand: 01.08.2024, § 921 BGB Rn. 20, beck-online).

b) Die Kläger haben auch keinen Anspruch aus § 823 BGB. Für einen solchen Anspruch fehlt es bereits an einer Pflichtverletzung des Beklagten im Verhältnis zu den Klägern. Der Beklagte war nicht dazu verpflichtet, die Mauer alleine zu unterhalten und dafür zu sorgen, dass sich keine Steine aus der Mauer lösen. Er war vielmehr gemäß § 922 S. 2 BGB lediglich dazu verpflichtet, die Unterhaltungskosten gemeinsam mit den Klägern zu tragen. Eine Pflichtverletzung des Beklagten in Bezug auf dieses Gemeinschaftsverhältnis ist weder von den Klägern vorgetragen noch sonst ersichtlich.

4. Da dem Kläger nach den vorstehenden Ausführungen keine Ansprüche gegen den Beklagten zustehen, bleibt auch der von den Klägern als Nebenforderung geltend gemachte Antrag auf Ersatz von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in der Sache ohne Erfolg.

III.

Der Antrag der Kläger aus dem (nicht nachgelassenen) Schriftsatz vom 21.03.2025, die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen, wird abgelehnt.

Nach § 156 ZPO kann das Gericht die Wiedereröffnung einer bereits geschlossenen Verhandlung anordnen; es ist hierzu verpflichtet, wenn sich aus dem neuen Vorbringen ergibt, dass die bisherige Verhandlung lückenhaft war und in der letzten mündlichen Verhandlung bei sachgemäßem Vorgehen Veranlassung zur Ausübung des Fragerechts bestanden hätte (BGH, Urteil vom 11. Juni 1974 – VI ZR 210/72 -, juris Rn. 25; (BGH, Urteil vom 17. Februar 1970 – III ZR 139/67 -, juris, Rn. 254).

Dies tragen die Kläger jedoch schon nicht vor. Die Kläger wiederholen in dem nicht nachgelassenen Schriftsatz ihre Auffassung, die streitgegenständliche Mauer sei nicht teilweise auf dem Grundstück der Kläger errichtet worden, sondern erst später auf das klägerische Grundstück abgerutscht. Sie stützen diese Auffassung, wie bereits in der Berufungsverhandlung am 12.03.2025, ergänzend auf einen erst in diesem Verhandlungstermin vorgelegten Antrag auf Erstellung einer Stützmauer und Einfriedung am Grundstück Flurstück Y des damaligen Eigentümers des Grundstücks des Beklagten. Neues tatsächliches Vorbringen, aufgrund dessen die bisherige Verhandlung lückenhaft gewesen sein könnte oder das Veranlassung zur Ausübung des Fragerechts geboten hätte ist dem Schriftsatz nicht zu entnehmen. Allein dass das Gericht nach Auffassung der Kläger den Sachverhalt und die Rechtsprechung hätte anders würdigen müssen, stellt keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör der Kläger dar.

BGH zu der Frage, wer Kosten der Prüfung der Standsicherheit tragen muss

BGH zu der Frage, wer Kosten der Prüfung der Standsicherheit tragen muss

vorgestellt von Thomas Ax

 

Zur Kostentragungspflicht eines Teilerbbauberechtigten für eine diesem öffentlich-rechtlich obliegende Prüfung der Standsicherheit von tragenden Teilen des Gemeinschaftseigentums an einem Bauwerk besonderer Art (überbauter Fernbahnhof).
BGH, Urteil vom 23.05.2025 – V ZR 39/24

Tatbestand:

1

Die Klägerin und die Streithelferin der Beklagten bilden die beklagte Gemeinschaft der Teilerbbauberechtigten (nachfolgend GdEB). Der Teilerbbaurechtsanteil der Klägerin beträgt 330/1.000, derjenige der Streithelferin 670/1.000. Das aufgrund des Erbbaurechts errichtete Gebäude besteht im Wesentlichen aus dem von der Klägerin betriebenen Fernbahnhof Frankfurt am Main/Flughafen und dessen Überbauung mit einem 600 Meter langen, bis zu 65 Meter breiten und bis zu 45 Meter hohen Gebäude. Die Platte, auf der das Gebäude errichtet ist, fußt auf einem Stahltragwerk. Die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien werden durch die Teilungserklärung aus dem Jahr 2014 sowie die Mitberechtigtenordnung (nachfolgend: MBO) nebst der Tabelle Anlage B 3.1 bestimmt, die Regelungen zur Verteilung der Kosten für die Unterhaltung, Instandhaltung und Instandsetzung des Gemeinschaftseigentums enthalten. Nach Nr. 13 und 14 der Tabelle Anlage B 3.1 sind die Kosten der konstruktiven Elemente im Bereich der Achsen 31 bis 89, jeweils bis Oberkante Platte Ebene 03 von der Klägerin in Höhe von 5 % und von der Streithelferin zu 95 % zu tragen, während sie im Bereich der übrigen Achsen der Streithelferin in vollem Umfang zur Last fallen.

2

Als Bahnhofsbetreiberin ist die Klägerin gegenüber dem Eisenbahn-Bundesamt (nachfolgend: EBA) verpflichtet, das Stahltragwerk regelmäßig auf seine Standsicherheit zu überprüfen. Im Jahr 2015 erstellte die Klägerin ein (vereinfachtes) Inspektionskonzept, wonach nach einem “rollierenden” System in einem Drei-Jahres-Turnus auszuwählende Stützen der Querträger des Stahltragwerks (jeweils wechselnd zwei bis drei Achsen) sowie bestimmte festgelegte “Referenzstellen” geprüft werden, was Kosten von jeweils etwa 2 Mio. € verursacht. Bis zum Jahr 2081 sollen sämtliche Stützen geprüft sein. Auf ihren Antrag erteilte das EBA dazu die Zustimmung im Einzelfall (ZiE 2020). Die Tragung der Kosten für die Prüfung des Stahltragwerks war Gegenstand mehrerer Teilerbbauberechtigtenversammlungen, ohne dass ein Beschluss gefasst wurde. Die Klägerin ließ in den Jahren 2018 bis 2022 die Standsicherheitsprüfungen durchführen.

3

In der Versammlung vom 5. Mai 2022 beantragte die Klägerin zu beschließen, die von dem EBA angeordnete Bauwerksprüfung Tragwerk Fernbahnhof in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft jeweils durch eine Entnahme aus der Erhaltungsrücklage zu finanzieren, die zu diesem Zwecke mit einer Sonderumlage nach Maßgabe der in der MBO vorgesehenen Kostenverteilung für die konstruktiven Elemente im Bereich der Achsen aufgefüllt werden sollte, und zwar in Höhe von 3,5 Mio. € für die Jahre 2018 bis 2020 (TOP 2.1), in Höhe von 2 Mio. € für die Jahre 2021 bis 2022 (TOP 2.2) und in Höhe von 1,825 Mio. € pro turnusmäßige Prüfung ab dem Jahr 2024 (TOP 2.3). Daneben beantragte sie unter TOP 2.4 bis 2.6 inhaltsgleiche Beschlussfassungen mit der Maßgabe, dass die Sonderumlagen gemäß den jeweiligen “Miteigentumsanteilen” gezahlt werden. Sämtliche Beschlussanträge wurden abgelehnt.

4

Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin, die Negativbeschlüsse für ungültig zu erklären (Klageantrag zu 1). Ferner erstrebt sie die gerichtliche Ersetzung der unter TOP 2.1 bis 2.3 (Klageantrag zu 2), hilfsweise der unter TOP 2.4 bis 2.6 beantragten Beschlüsse (Klageantrag zu 3). Darüber hinaus will die Klägerin feststellen lassen, dass die Kosten der Finanzierung der auf Grund öffentlich-rechtlicher Vorschriften erforderlichen Tragwerksprüfungen des Fernbahnhofs ab dem Jahr 2024 durch eine Entnahme aus der Erhaltungsrücklage erfolgt und die Erhaltungsrücklage zu diesem Zweck mit einer Sonderumlage in Höhe der tatsächlich anfallenden Kosten gemäß der Regelung in der der MBO anliegenden Tabelle von ihr und der Streithelferin nach “Achsen” aufgefüllt wird (Klageantrag zu 4), hilfsweise nach “Miteigentumsanteilen” (Klageantrag zu 5). Das Amtsgericht hat der Klage nach den Hauptanträgen stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten und der Streithelferin hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision will die Klägerin die Wiederherstellung der amtsgerichtlichen Entscheidung erreichen. Die Streithelferin beantragt die Zurückweisung des Rechtsmittels.

Entscheidungsgründe:

A.

5

Das Berufungsgericht hält die Negativbeschlüsse für rechtmäßig. Die Beschlussanträge zu TOP 2.1 bis 2.3 seien nicht hinreichend bestimmt, weil die von den Teilerbbauberechtigten jeweils zu leistenden Beträge weder konkret beziffert noch anhand des genannten Verteilungsschlüssels ermittelbar seien. Die Beschlussanträge zu TOP 2.4 und 2.5 widersprächen ordnungsmäßiger Verwaltung, da es an einem zu deckenden Finanzbedarf der Beklagten fehle. Die Klägerin habe die Tragwerksprüfungen durchführen lassen, obwohl die Beklagte für derartige Maßnahmen am Gemeinschaftseigentum zuständig sei und daher über die Ausführung hätte beschließen müssen. Ein Erstattungsanspruch der eigenmächtig handelnden Klägerin gegen die Beklagte scheide aus. Schließlich sei auch nicht der Negativbeschluss zu TOP 2.6 für ungültig zu erklären. Der Beklagten stehe hinsichtlich der Art und Weise der Finanzierung der Kosten für die zukünftigen Tragwerksprüfungen ein Ermessen zu, welches nicht auf Null reduziert sei. Statt einer Entnahme aus der Erhaltungsrücklage und Erhebung einer Sonderumlage sei es ebenso möglich, diese Kosten im Rahmen der aufzustellenden Wirtschaftspläne zu kalkulieren oder ein Darlehen aufzunehmen.

6

Aus denselben Gründen komme auch eine Beschlussersetzung nicht in Betracht. Soweit es für die angestrebte Beschlussfassung gleichberechtigte Alternativen gebe, könne eine Beschlussfassung zur Wahrung des Selbstorganisationsrechts der Teilerbbauberechtigten nicht durch das Gericht ersetzt werden. Die Feststellungsanträge seien unzulässig, weil sie auf die abstrakte Auslegung einer Kostenregelung der MBO abzielten und nicht auf die Feststellung eines Rechtsverhältnisses.


B.

7

Im Ergebnis bleibt die Revision ohne Erfolg. Obwohl die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten war, ist durch streitiges Urteil zu entscheiden. Zum einen hat die dem Rechtsstreit unbeanstandet beigetretene Streithelferin der Beklagten in der mündlichen Verhandlung einen Revisionsantrag gestellt (vgl. § 67 Satz 1 Halbs. 2 ZPO; BGH, Urteil vom 11. Januar 2012 – XII ZR 194/09, NJW 2012, 852 Rn. 7). Zum anderen ist ohnehin durch Endurteil zu entscheiden, weil sich die Revision als unbegründet erweist.

I.

8

Mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung kann zunächst der auf den Hauptantrag zu TOP 2.3 bezogene Beschlussersetzungsantrag nicht abgewiesen werden (Teil des Klageantrags zu 2). Er betrifft die Finanzierung der Kosten für die künftigen Tragwerksprüfungen. Die Klägerin möchte, wie bereits in der Vergangenheit, auch künftig bis zum Jahr 2081 die Tragwerksprüfungen nach der ZiE 2020 durchführen. Die Kosten soll die GdEB tragen. Auf das Verhältnis der Teilerbbauberechtigten untereinander und zur GdEB sind gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 WEG die Vorschriften über das Wohnungseigentum (Teileigentum) entsprechend anwendbar.

9

1. Die Beschlussersetzungsklage gemäß § 44 Abs. 1 Satz 2 WEG ist begründet, wenn der klagende Wohnungseigentümer (bzw. hier der klagende Teilerbbauberechtigte) einen Anspruch auf den seinem Rechtsschutzziel entsprechenden Beschluss hat, weil nur eine Beschlussfassung ordnungsmäßiger Verwaltung entspricht (vgl. Senat, Urteil vom 9. Februar 2024 – V ZR 244/22, NZM 2024, 241 Rn. 8). Hat der klagende Wohnungseigentümer einen Anspruch auf eine Beschlussfassung und verbleibt den Wohnungseigentümern bei der Auswahl der zu treffenden Maßnahmen – wie dies regelmäßig etwa bei der Instandhaltung des Gemeinschaftseigentums der Fall ist (vgl. Senat, Urteil vom 14. Juni 2019 – V ZR 254/17, BGHZ 222, 187 Rn. 15) – ein Gestaltungsspielraum, wird bei der Beschlussersetzungsklage das den Wohnungseigentümern zustehende Ermessen durch das Gericht ausgeübt. Eine Beschlussersetzungsklage ist deshalb, anders als die Anfechtungsklage gegen die Ablehnung eines Beschlussantrags (sog. Negativbeschluss), nicht nur dann begründet, wenn das Ermessen der Wohnungseigentümer in dem Sinne auf Null reduziert ist, dass nur ein Beschluss mit dem in dem Klageantrag konkret formulierten Inhalt ordnungsmäßiger Verwaltung entspricht (vgl. Senat, Urteil vom 16. September 2022 – V ZR 69/21, NJW 2023, 63 Rn. 9; Urteil vom 23. Juni 2023 – V ZR 158/22, NZM 2023, 724 Rn. 21).

10

2. Nach diesen Grundsätzen ist die Annahme des Berufungsgerichts, bereits aus den Ausführungen in dem Berufungsurteil zu der Erfolglosigkeit der Anfechtungsklage ergebe sich, dass die Klägerin die erstrebte Beschlussersetzung nicht verlangen könne, unzutreffend.

11

a) Das gilt zunächst, soweit das Berufungsgericht auf die Unbestimmtheit des Beschlussantrags verweist. Unter der Geltung des § 21 Abs. 8 WEG aF war anerkannt, dass es für die Bestimmtheit eines Beschlussersetzungsantrags – anders als nach der allgemeinen Vorschrift des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO – ausreichend ist, wenn das Rechtsschutzziel hinreichend deutlich wird (vgl. Senat, Urteil vom 24. Mai 2013 – V ZR 182/12, NJW 2013, 2271 Rn. 23; Urteil vom 8. April 2016 – V ZR 191/15, NJW 2017, 64 Rn. 7). Für das neue Recht gilt nichts Anderes. Gemessen daran ist der Beschlussersetzungsantrag zu TOP 2.3 hinreichend bestimmt, weil er das Rechtsschutzziel angibt. Die Klägerin will die Finanzierung der von dem EBA angeordneten und künftig durchzuführenden Prüfung der Stahlstützen durch eine in die Erhaltungsrücklage zu zahlende Sonderumlage und die Verteilung der Sonderumlage auf die beiden Teilerbbauberechtigen nach dem Verteilungsschlüssel der Anlage B 3.1 Nr. 13 und Nr. 14 der MBO erreichen.

12

b) Auch soweit das Berufungsgericht ergänzend die für die Abweisung der auf den Negativbeschluss zu TOP 2.6 bezogenen Anfechtungsklage (künftige Kosten nach “Miteigentumsanteilen”) gegebene Begründung heranzieht, trägt dies die Abweisung des zu TOP 2.3 gestellten Beschlussersetzungsantrags nicht. Handelte es sich nämlich, wovon das Berufungsgericht jedenfalls bei diesem Antrag offenbar ausgeht, bei den Kosten der von dem EBA angeordneten Tragwerksprüfung um solche, die die GdEB tragen müsste, könnte die Beschlussersetzung nicht deshalb abgelehnt werden, weil die künftigen Prüfmaßnahmen im Rahmen des Wirtschaftsplans über Vorschüsse (§ 28 Abs. 1 WEG) oder durch Aufnahme eines Darlehens finanziert werden könnten. Besondere oder unvorhergesehene Ausgaben werden üblicherweise durch Sonderumlagen gedeckt, die neben dem Wirtschaftsplan für das Kalenderjahr beschlossen werden können und nicht in diesen integriert werden müssen (vgl. Senat, Urteil vom 19. Juli 2024 – V ZR 139/23, NJW 2024, 3157 Rn. 36). Die Sonderumlage kann auch als Zahlung zu der Erhaltungsrücklage beschlossen werden (vgl. LG Karlsruhe, ZWE 2025, 92 Rn. 6; Bärmann/Dötsch, WEG, 15. Aufl., § 19 Rn. 222). Wenn also ein zwingender besonderer Finanzbedarf bestünde, könnte ein Wohnungseigentümer bzw. ein Teilerbbauberechtigter die Erhebung einer Sonderumlage durch Beschlussersetzung erzwingen. Dass auch eine Kreditaufnahme erfolgen könnte, steht dem normalerweise nicht entgegen, weil die Sonderumlage das übliche Finanzierungsinstrument darstellt. Kommt wegen besonderer Umstände des Einzelfalls (auch) eine Kreditaufnahme ernsthaft in Betracht, ist das allein jedenfalls kein Grund für eine Klageabweisung; vielmehr müsste das Gericht dann einen Grundlagenbeschluss dahingehend ersetzen, dass der Finanzbedarf entweder durch Erhebung einer Sonderumlage oder durch Kreditaufnahme gedeckt werden muss.

II.

13

Die Abweisung des hinsichtlich TOP 2.3 gestellten Beschlussersetzungsantrags erweist sich aber aus anderen Gründen als richtig (§ 561 ZPO).

14

1. Zutreffend ist allerdings, dass das Stahltragwerk im gemeinschaftlichen Eigentum steht. Es ist als konstruktiver Bestandteil für den Bestand und die Sicherheit des aufgrund des Erbbaurechts errichtete Gebäudekomplexes im Sinne von § 5 Abs. 2 WEG erforderlich und somit nicht sondereigentumsfähig. Das Tragwerk stützt die Platte, auf der das Gebäude als Überbauung des Fernbahnhofs errichtet ist.

15

2. Richtig ist weiter, dass die Reparatur und Sanierung des gemeinschaftlichen Eigentums Aufgabe der Gemeinschaft wäre, also von der GdEB durchgeführt und den Regelungen der MBO entsprechend von den Teilerbbauberechtigten bezahlt werden müsste (§ 16 Abs. 2, § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 WEG). Das stellt die Streithelferin auch nicht in Abrede, wie ihr Prozessbevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klargestellt hat. Um die Behebung von (im Zuge der Standsicherheitsprüfungen festgestellten) Sicherheitsmängeln an den Achsen geht es aber nicht, sondern (lediglich) um die vorgelagerte Überprüfung der Standsicherheit des Stahltragwerks.

16

3. Die von der Klägerin erstrebte Beschlussersetzung zu TOP 2.3 kommt jedoch aus Rechtsgründen nicht in Betracht. Sie ist nämlich nicht darauf gerichtet, dass die GdEB Maßnahmen in Gestalt der Überprüfungen der Achsen gemäß der ZiE 2020 durchführt, die dann von den Teilerbbauberechtigten finanziert werden müssen. Die Klägerin will vielmehr erreichen, dass die GdEB für solche Prüfmaßnahmen zahlt, die die Klägerin ihrerseits in Erfüllung eigener öffentlich-rechtlichen Pflichten durchführt. Die Prüfmaßnahmen sollen aus der Erhaltungsrücklage finanziert werden, die zu diesem Zweck von den Teilerbbauberechtigten aufgefüllt werden sollen. Eine solche Verfahrensweise sieht das Wohnungseigentumsgesetz nicht vor.

17

a) Die Verwaltung des gemeinschaftlichen Eigentums und die Durchführung von Maßnahmen am Gemeinschaftseigentum, die die ordnungsmäßige Verwaltung erfordert, obliegt gemäß § 18 Abs. 1 WEG allein der Gemeinschaft. Diese erfüllt die ihr zugewiesenen Aufgaben durch ihre Organe (vgl. Senat, Urteil vom 21. Juli 2023 – V ZR 90/22, BGHZ 239, 1 Rn. 11; Urteil vom 5. Juli 2024 – V ZR 34/24, BGHZ 241, 98 Rn. 5). Die Wohnungseigentümer (bzw. hier die Teilerbbauberechtigten) trifft dagegen die Pflicht, die Kosten der Gemeinschaft zu tragen (§ 16 Abs. 2 WEG). Sie müssen die Aufbringung der für die ordnungsmäßige Verwaltung erforderlichen Mittel sicherstellen (vgl. Senat, Urteil vom 8. Juli 2011 – V ZR 176/10, NJW 2011, 2958 Rn. 8; Urteil vom 17. Oktober 2014 – V ZR 9/14, BGHZ 202, 375 Rn. 17).

18

b) Die Klägerin erfüllt mit den Standsicherheitsprüfungen eigene Pflichten und kann die damit verbundenen Kosten nicht auf die GdEB abwälzen.

19

aa) Ohne Erfolg verweist die Revision auf die Inanspruchnahme eines Wohnungseigentümers durch Abgabenbescheid bei landesgesetzlich angeordneter gesamtschuldnerischer Haftung der Wohnungseigentümer als Miteigentümer des Grundstücks. Weil die Erfüllung einer solchen Abgabenschuld eine gemeinschaftsbezogene Pflicht im Sinne des § 9a Abs. 2 WEG darstellt, ist im Innenverhältnis die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer verpflichtet, den als Gesamtschuldner in Anspruch genommenen Wohnungseigentümer freizustellen. Erfüllt der Wohnungseigentümer die Abgabenforderung aus eigenen Mitteln, steht ihm deshalb gegen die Gemeinschaft ein Erstattungsanspruch zu (zu § 10 Abs. 6 Satz 3 WEG aF Senat, Urteil vom 14. Februar 2014 – V ZR 100/13, NJW 2014, 1093 Rn. 11 ff.).

20

bb) Mit einer öffentlich-rechtlichen Abgabenlast lassen sich die Prüfpflichten der Klägerin nach der ZiE 2020 aber schon im Ansatz nicht vergleichen, weil es sich nicht um eine gesamtschuldnerisch zu tragende Last der Teilerbbauberechtigten handelt. Vielmehr richtet sich die Anordnung durch das EBA nur an die Klägerin und nicht an die Streithelferin und auch nicht an die beklagte GdEB.

21

(1) Dem EBA obliegt nach § 3 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3 Bundeseisenbahnverkehrsverwaltungsgesetz (BEVVG) die Bauaufsicht für Betriebsanlagen der Eisenbahnen des Bundes. Nach § 5 Abs. 1, Abs. 1a Nr. 1, Abs. 1e Abs. 2 Allgemeines Eisenbahngesetz (AEG) ist das EBA zudem für die Eisenbahnaufsicht zuständig und befugt, die Einhaltung dieses Gesetzes sowie der darauf beruhenden Rechtsverordnungen zu überwachen. Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AEG müssen Eisenbahninfrastrukturen und Fahrzeuge so beschaffen sein, dass sie den Anforderungen der öffentlichen Sicherheit an den Bau und an den Betrieb genügen. Nach § 4 Abs. 3 AEG sind Eisenbahnen und die Halter von Eisenbahnfahrzeugen verpflichtet, ihren Betrieb sicher zu führen und die Eisenbahninfrastruktur sicher zu bauen und in betriebssicherem Zustand zu halten. Die Ausgestaltung der Sicherungspflichten ist in der auf der Grundlage von § 26 AEG erlassenen Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) geregelt. Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 EBO müssen Bahnanlagen und Fahrzeuge so beschaffen sein, dass sie den Anforderungen der Sicherheit und Ordnung genügen. Diese Anforderungen gelten nach § 2 Abs. 1 Satz 2 EBO als erfüllt, wenn die Bahnanlagen und Fahrzeuge den Vorschriften der EBO und, soweit diese keine ausdrücklichen Vorschriften enthält, anerkannten Regeln der Technik entsprechen. Dazu gehören, wovon die Klägerin und die Streithelferin übereinstimmend ausgehen, u.a. die DB-RiL 804.8001 i.V.m. DB-RiL 804.8003 und DB-RiL 804.8004 betreffend die Inspektion von Ingenieurbauwerken. Durch eine “Zustimmung im Einzelfall” (ZiE) kann – wie hier – von diesen anerkannten Regeln der Technik beim Brandschutz abgewichen werden (vgl. Pietrzyk, UPR 2015, 470, 473).

22

(2) Nach diesen Grundsätzen konkretisiert die ZiE 2020 die die Klägerin treffenden öffentlich-rechtlichen Pflichten zur Inspektion des Stahltragwerks gegenüber dem EBA. Es handelt sich um auf den Bahnbetrieb bezogene und der Klägerin als Bahnbetreiberin obliegende Prüfpflichten. Dementsprechend ist die ZiE 2020 nur an die Klägerin adressiert und nicht an die GdEB, die an dem Verwaltungsverfahren mit dem EBA auch nicht beteiligt war.

23

(3) Besteht die Gefahr, dass die Klägerin ihre – durch die ZiE 2020 konkretisierte – Pflicht nach § 4 AEG i.V.m. § 2 Abs. 1 EBO verletzt, ist das EBA berechtigt, die für die Gewährleistung der Sicherheit des Eisenbahnbetriebs erforderlichen Maßnahmen zu treffen (§ 5a Abs. 1 und 2 AEG; dazu BVerwG, NVwZ 2020, 397 Rn. 18). Möglich wären danach beispielsweise Anordnungen, die den Eisenbahnbetrieb einschränken oder untersagen (vgl. VG Frankfurt a.M., BeckRS 2020, 45283 Rn. 21). Gegenüber der GdEB hat das EBA dagegen keinerlei Weisungs- und Eingriffsbefugnisse; sie kann insbesondere nicht die Nutzung des von der Streithelferin genutzten Bürogebäudes einschränken oder untersagen. Diesem fehlt die Eisenbahnbetriebsbezogenheit, d.h. die Verkehrsfunktion und der räumliche Zusammenhang mit dem Eisenbahnbetrieb (vgl. BVerwGE 102, 269, 274). Das Gebäude liegt oberhalb des Fernbahnhofs und ist nicht dem Bahnverkehr, sondern dem Allgemeinverkehr zugeordnet. Die Kompetenz zum Einschreiten hätte deshalb nur das Bauordnungsamt, das für nicht eisenbahnbetriebsbezogene Nutzungen zuständig ist (zur Abgrenzung OVG Münster, BauR 1999, 383, 384; OVG Schleswig, BeckRS 2017, 137139 Rn. 22 ff. mwN). Das Bauordnungsamt hat die Prüfmaßnahmen aber nicht angeordnet. Deshalb hat die Klägerin nicht, wie das Berufungsgericht in anderem Zusammenhang meint, eigenmächtig Aufgaben der GdEB ausgeführt, sondern ist als Bahnbetreiberin im eigenen Interesse und in Erfüllung eigener öffentlich-rechtlicher Pflichten tätig geworden und will dies auch künftig tun. Auf die von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin in dem – nach der mündlichen Verhandlung vor dem Senat eingereichten – Schriftsatz vom 7. April 2025 angestellten Erwägungen zu einem Ersatzanspruch des eigenmächtig handelnden Wohnungseigentümers (vgl. Senat, Urteil vom 14. Juni 2019 – V ZR 254/17, BGHZ 222, 187 Rn. 13 ff.) kommt es somit nicht an.

24

(4) Aus der gegenseitigen Treuepflicht der Teilerbbauberechtigten untereinander ergibt sich allerdings die Pflicht der Streithelferin, der Klägerin die Durchführung der von dem EBA angeordneten Prüfungen zu ermöglichen. Zwischen den Mitgliedern einer GdWE/GdEB besteht nämlich ein gesetzliches Schuldverhältnis, durch das die Verhaltenspflichten des § 14 WEG begründet werden, aus dem aber auch darüber hinausgehende Treue- und Rücksichtnahmepflichten im Sinne von § 241 Abs. 2 BGB folgen können (vgl. Senat, Urteil vom 8. Juli 2022 – V ZR 207/21, NZM 2022, 806 Rn. 15 mwN; Urteil vom 25. Oktober 2024 – V ZR 17/24, NJW-RR 2025 Rn. 13). Vor diesem Hintergrund kann das von der Klägerin geschilderte Verhalten der Streithelferin, die ihr völlig “freie Hand” gelassen habe, nur so verstanden werden, dass die Streithelferin – der bestehenden Treuepflicht entsprechend – die Durchführung der Prüfmaßnahmen durch die Klägerin und die damit verbundenen Eingriffe in das Gemeinschaftseigentum duldet. Die Treuepflicht der Wohnungseigentümer bzw. der Teilerbbauberechtigten untereinander reicht entgegen der von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin in dem Schriftsatz vom 7. April 2025 vertretenen Auffassung aber nicht über solche Duldungspflichten hinaus. Sie begründet keine von den Regelungen des Wohnungseigentumsgesetzes abweichenden Kostentragungspflichten; insbesondere führt die Treuepflicht nicht dazu, dass die Kosten einer einem Wohnungseigentümer bzw. Teilerbbauberechtigten öffentlich-rechtlich obliegenden Maßnahme gemeinschaftlich getragen werden müssten.

25

c) Ohne Erfolg macht die Klägerin geltend, auch unabhängig von den Vorgaben des EBA sei die Überprüfung der Achsen für die GdEB, wie in der ZiE 2020 angeordnet, zwingend geboten.

26

aa) Insoweit argumentiert die Klägerin wie folgt: Die Bauwerksprüfungen entsprängen allgemeinen bauaufsichtlichen Notwendigkeiten, wie sie etwa auch aus der DIN 1076 ganz allgemein für Ingenieurbauwerke wie Brücken und Stützbauwerke folgten. Das Tragbauwerk (sog. Fischbauch), auf dem das Gebäude lagere, sei ein Ingenieurbauwerk in Form eines Stützbauwerks im Sinne der DIN 1076. Die Anordnungen der Bauwerksprüfung seien demnach nicht auf den Bahnbetrieb bzw. den Zugverkehr auf den Gleisen und den Passagierverkehr auf den Bahnsteigen und deren Zuwegungen zurückzuführen, sondern auf die Konstruktion des Gesamtgebäudes auf einem im Gemeinschaftseigentum stehenden Ingenieurbauwerk. Selbst wenn also unterhalb dieser Konstruktion eine andere Nutzung als ein Bahnbetrieb erfolgte, wäre eine Bauwerksprüfung nötig und baurechtlich vorgeschrieben, um die Standsicherheit des Gesamtgebäudes/Gemeinschaftseigentums dauerhaft sicherzustellen. Da auch die DIN 1076 “Ingenieurbauwerke im Zuge von Straßen und Wegen- Überwachung und Prüfung” regelmäßige Prüfpflichten vorsehe und danach das gesamte Tragwerk unter Entfernung der Brandschutzverkleidung an den Achsen zu prüfen wäre, entstünde ein erheblicher größerer Aufwand als nach der ZiE 2020.

27

bb) Das verhilft der Revision nicht zum Erfolg.

28

(1) Allerdings gehört zu einer ordnungsmäßigen Verwaltung im Sinne von § 19 Abs. 1, 2 WEG auch die Erfüllung der auf das gemeinschaftliche Eigentum bezogenen Verkehrssicherungspflichten (vgl. Senat, Urteil vom 13. Dezember 2019 – V ZR 43/19, ZfIR 2020, 433 Rn. 14; Urteil vom 9. März 2012 – V ZR 161/11, MDR 2012, 701 Rn. 12). Umfasst sind ferner Maßnahmen, die die Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften sicherstellen (vgl. Senat, Urteil vom 23. Juni 2017 – V ZR 102/16, ZWE 2017, 367 Rn. 8) oder die allgemein Gefahren für andere Wohnungseigentümer, Dritte oder das Gemeinschaftseigentum verhindern und eine Haftung der GdWE bzw. der GdEB abwenden sollen (vgl. Senat, Urteil vom 15. Oktober 2021 – V ZR 225/20, NJW 2022, 326 Rn. 16). Stünden die Standsicherheit und der Brandschutz des Gesamtgebäudes in Frage, wirkte sich das auf die zweckentsprechende und in der Teilungsordnung vorgesehene Nutzung des Gesamtgebäudes aus. Dafür käme es im Grundsatz, wie die Revision zutreffend anmerkt, nicht darauf an, welcher Bereich des Gemeinschaftseigentums betroffen und welche Behörde zum Einschreiten befugt wäre.

29 (2) Die die Beklagte danach möglicherweise treffenden Pflichten sind jedoch nicht identisch mit denjenigen, die die Klägerin als Bahnhofsbetreiberin treffen.

30

(a) Soweit es um die Beseitigung von gravierenden Mängeln der Bausubstanz des Gemeinschaftseigentums geht, entspricht zwar nur eine den allgemein anerkannten Stand der Technik sowie die Regeln der Baukunst beachtende Sanierung den Grundsätzen einer ordnungsmäßigen Verwaltung. Da DIN-Normen die Vermutung in sich tragen, dass sie den Stand der allgemein anerkannten Regeln der Technik wiedergeben, sind solche Sanierungen grundsätzlich DINgerecht auszuführen (näher Senat, Urteil vom 24. Mai 2013 – V ZR 182/12, NJW 2013, 2271 Rn. 25 f. mwN). Dies betrifft aber nur die Maßnahme selbst; daraus folgt keine bloße Kostentragungspflicht der GdEB. Selbst wenn das Ermessen der GdEB hinsichtlich der Prüfmaßnahme auf Null reduziert wäre, folgte daraus (nur) ein Anspruch der Teilerbbauberechtigten gegen die GdEB auf eine DINgerechte Prüfung des Gemeinschaftseigentums. Insoweit ist schon nicht ersichtlich, warum eine solche Prüfung genau denselben Inhalt haben sollte wie von dem EBA angeordnet. Das Wohnungseigentumsgesetz kennt schlichte Zahlungspflichten der Gemeinschaft ohne Einflussnahme auf die zugrundeliegende Maßnahme nicht. Unabhängig davon bliebe die Klägerin gegenüber dem EBA öffentlich-rechtlich zur Durchführung der Tragwerksprüfung gemäß der ZiE 2020 verpflichtet.

31

(b) Ebenfalls ohne Erfolg macht die Revision geltend, die Hessische Bauordnung verhalte sich in §§ 12, 14 HBO zu Fragen der Standsicherheit und des Brandschutzes von Gebäuden. Sind durch die GdEB öffentlich-rechtliche Vorschriften der Hessischen Bauordnung nicht beachtet worden und droht ein materiell baurechtswidriger Zustand, ist zwar auch ein Einschreiten des Magistrats der Stadt Frankfurt als Bauaufsichtsbehörde nach § 53 Abs. 2 Nr. 19, 20 HBO gegen die Beklagte möglich. Dazu ist es aber bislang nicht gekommen. Zudem regeln die Vorschriften der §§ 12, 14 HBO nicht im Einzelnen, ob und ggf. welche Prüfpflichten die GdEB hinsichtlich des Strahltragwerks treffen.

32

d) Die Prüfung der Achsen nach der ZiE 2020 ist entgegen der Ansicht der Revision auch nicht deshalb Gemeinschaftsaufgabe, weil die Teilungserklärung den Bahnbetrieb vorsieht und insoweit ein einheitliches Bauwerks- und Nutzungskonzept besteht.

33

aa) Ohne Erfolg verweist die Revision darauf, dass das Stahltragwerk die Überbauung des Bahnhofs und damit die Nutzung des “Gemeinschaftseigentums Allgemein” erst ermögliche. Das Bauwerks- und Nutzungskonzept alleine genügt nicht, um die der Klägerin als Bahnhofsbetreiberin obliegenden Pflichten als solche der Beklagten anzusehen. Andernfalls würden im Ergebnis die Befugnisse des EBA erweitert und der GdEB auf dem Umweg über die Klägerin Pflichten auferlegt, obwohl die GdEB weder Bahnhofsbetreiberin noch Adressatin der eisenbahnbehördlichen Anordnung ist (vgl. Rn. 22).

34

bb) Der von der Revision herangezogene Vergleich mit der gemeinschaftlichen Pflicht zur Beseitigung von konstruktionsbedingten Gefährdungen bei Kreuzungen von Eisenbahnen und Straßen trägt ebenfalls nicht. An Kreuzungen von Eisenbahnen und Straßen besteht zwar ein Gemeinschaftsrechtsverhältnis, an dem gemäß § 1 Abs. 6 Eisenbahnkreuzungsgesetz (EKrG) sowohl das Unternehmen, welches die Baulast des Schienenweges der kreuzenden Eisenbahn trägt, als auch der Träger der Baulast der kreuzenden Straße beteiligt sind. Liegen die Voraussetzungen für Kreuzungsänderungen gemäß § 3 EKrG vor, besteht eine gemeinsame Kreuzungsbaulast. Aus ihr folgt eine gemeinschaftliche Pflicht zur Beseitigung von kreuzungsbedingten Gefährdungen (näher dazu BGH, Urteil vom 11. Januar 2007 – III ZR 294/05, NJW-RR 2007, 457 Rn. 10; BVerwGE 116, 312, 316). § 3 EKrG normiert eine eigenständige kreuzungsrechtliche Baulast, für die es in anderen Bereichen keine Entsprechung gibt (vgl. BVerwG, VkBl. 1992, 460, 462). Anders als in den Fällen des § 3 EKrG geht es hier aber nicht um die Beseitigung einer kreuzungsbedingten Gefährdung. Die die Klägerin als Bahnhofsbetreiberin treffende öffentlich-rechtliche Prüfpflicht gegenüber dem EBA und die die Beklagte treffende Pflicht gegenüber der Bauaufsichtsbehörde bestehen nebeneinander und betreffen unterschiedliche Pflichtenkreise. Eine originäre Verpflichtung der GdEB, sich an den Kosten der auf den Bahnbetrieb bezogenen Prüfpflichten zu beteiligen, besteht nicht.

35

e) Es lässt sich zwar nicht von der Hand weisen, dass es sich bei dem aufgrund des Erbbaurechts errichteten Gebäude um einen Gebäudekomplex handelt, dessen besondere Bauart und besondere Nutzung kostspielige Standsicherheitsprüfungen verursacht, von denen letztlich, worauf die Revision zutreffend hinweist, auch die Streithelferin und die GdEB profitieren. Das ändert aber nichts daran, dass die Prüfmaßnahmen nach der ZiE 2020 allein auf den Bahnbetrieb der Klägerin bezogen sind und den damit verbundenen spezifischen Gefahren entgegenwirken sollen. Eine Zahlungspflicht der GdEB für die von dem EBA allein gegenüber der Klägerin angeordneten und von dieser durchzuführenden öffentlich-rechtlichen Tragwerksprüfung lässt sich im System des Wohnungseigentumsrechts nicht begründen.

III.

36

Infolgedessen hält auch die Abweisung der auf die Vergangenheit und Gegenwart bezogenen Beschlussersetzungsanträge der Klägerin zu TOP 2.1, 2.2, 2.4 und 2.5 sowie des auf die Zukunft bezogenen Beschlussersetzungsantrags zu TOP 2.6 (Teil der Klageanträge zu 2 und Klageantrag zu 3) der Nachprüfung stand, weil das Berufungsgericht jedenfalls im Ergebnis zu Recht einen Finanzbedarf der GdEB verneint. Ein Erstattungsanspruch für die Vergangenheit bestünde schon deshalb nicht, weil die Klägerin eigene Pflichten erfüllt hat (vgl. Rn. 23). Gleichermaßen sind die Beschlussanfechtungsanträge (Klageantrag zu 1) ebenso wie die Feststellungsanträge (Klageanträge zu 4 und 5), die auf dasselbe Rechtsschutzziel wie die Beschlussersetzungsanträge zu TOP 2.3 und TOP 2.6 gerichtet sind, jedenfalls im Ergebnis zu Recht abgewiesen worden.

C.

37

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1, § 101 Abs. 1 Halbsatz 1 ZPO.

VG Schwerin zu der Frage der richtigen produktbezogenen Leistungsbeschreibung

VG Schwerin zu der Frage der richtigen produktbezogenen Leistungsbeschreibung

von Thomas Ax

Nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 VOB/A besteht eine Ausnahme von dem Grundsatz, in technischen Spezifikationen nicht auf eine bestimmte Produktion oder Herkunft oder ein besonderes Verfahren, das die von einem bestimmten Unternehmen bereitgestellten Produkte charakterisiert, oder auf Marken, Patente, Typen oder einen bestimmten Ursprung oder eine bestimmte Produktion verweisen zu dürfen, wenn dies durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt ist. Dann darf nicht gleichzeitig die Öffnungsklausel “oder gleichwertig” verwendet werden. § 7 Abs. 2 VOB/A sieht bereits nach seinem klaren Wortlaut zwei voneinander zu unterscheidende Vorgehensweisen vor, bei denen alternativ (Nummer 1) der Produktbezug durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt ist oder (Nummer 2) der Auftragsgegenstand nicht hinreichend genau und allgemeinverständlich beschrieben werden kann. Nur in letzterem Fall “sind” die Verweise jedoch (zwingend) mit dem Zusatz “oder gleichwertig” zu versehen (vgl. Trutzel, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl. 2020, § 31 VgV Rn. 55). Auch nach dem Sinn und Zweck der Ausnahmeregelungen, die sowohl der Forderung nach Eindeutigkeit der Ausschreibung als auch dem Wettbewerbsgedanken Rechnung tragen sollen (vgl. Franke/Kaiser, VOB-Kommentar, 7. Aufl. 2020, § 7 EU VOB/A, Rn. 112) liegt es nahe, dass jedenfalls die produktbezogene Ausschreibung mit dem Zusatz “oder gleichwertig” den Teilnahmewettbewerb verzerren kann, wenn insbesondere die Parameter der Gleichwertigkeit nicht näher beschrieben sind (vgl. VK Rheinland, Beschluss vom 26. Mai 2021 – VK 3/21 -, m.w.N.). Dies ergibt sich im Übrigen auch aus Art. 42 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24/EU vom 6. Februar 2014, in dem es heißt: “Soweit es nicht durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt ist, darf in technischen Spezifikationen nicht auf eine bestimmte Herstellung oder Herkunft oder ein bestimmtes Verfahren […] oder eine bestimmte Produktion verwiesen werden […]. Solche Verweise sind jedoch ausnahmsweise zulässig, wenn der Auftragsgegenstand nicht hinreichend genau und allgemein verständlich beschrieben werden kann.” Nur bei solchen allgemeinen Verweisen wegen mangelnder Beschreibbarkeit ist also der Zusatz “oder gleichwertig” gerechtfertigt (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. September 2016 – 15 Verg 7/16 -, BeckRS 2016, 121911 Rn. 26 m.w.N.). Der Einwand der Klägerseite, nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A stehe es dem Auftraggeber stets frei, den Ausschreibungsinhalt festzulegen, übergeht, dass diese Regelung bereits von ihrem Wortlaut her lediglich die Form der Einreichung der Angebote erfasst. Darüber hinaus ist § 13 Abs. 1 VOB/A nicht losgelöst von § 7 VOB/A zu sehen (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Mai 2023 – XIII ZR 14/21 -, Rn. 20 f. m.w.N.); insbesondere werden die Regelungen über die produktneutrale Ausschreibung und deren Ausnahmen nicht durch § 13 VOB/A verdrängt.
VG Schwerin, Urteil vom 10.04.2025 – 3 A 1671/20

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Aufhebung eines Teilwiderrufsbescheides hinsichtlich einer Zuwendung für den Ausbau eines Weges in ihrem Gemeindegebiet.

Auf ihren Antrag vom 13. August 2018 bewilligte der Beklagte der Klägerin mit Zuwendungsbescheid vom 27. März 2019 für das Vorhaben ### eine nicht rückzahlbare Zuwendung zur Projektförderung als Anteilsfinanzierung

“in Höhe von 75,00 Prozent der zuwendungsfähigen tatsächlichen Ausgaben bis zu einem Höchstbetrag von 205.332,81 Euro”

aus Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes (ILERL M-V). Ausdrücklich heißt es in dem Zuwendungsbescheid unter Nummer 1. “Zweck und Inhalt der Zuwendung” im 5. Absatz:

“Es darf nicht produktbezogen ausgeschrieben werden.”

Als Bewilligungszeitraum wurde der 19. März 2019 bis zum 30. November 2019 festgelegt. Der Finanzierungsplan, der zum Bestandteil des Bescheides gemacht wurde, wies Eigenmittel in Höhe von 68.444,27 Euro aus. Die Allgemeinen Nebenbestimmungen für Zuwendungen zur integrierten ländlichen Entwicklung (ANBest-ILE) und die baufachlichen Nebenbestimmungen (NBest-Bau) wurden zum Bestandteil des Bescheides gemacht. Nach Nummer 6.1.1 ANBest-ILE wird der öffentliche Auftraggeber bei der Vergabe von Aufträgen beauflagt, das Vergabegesetz Mecklenburg-Vorpommern (VergG-MV) in der jeweils geltenden Fassung und die nach § 2 Abs. 1 VergG-MV anzuwendenden Verwaltungsvorschriften einzuhalten, insbesondere Teil A Abschnitt 1 der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB/A) und Teil A Abschnitt 1 der Vergabe- und Vertragsordnung für Leistungen (VOL/A) jeweils in der gemäß § 2 Abs. 4 Satz 1 VergG-MV maßgeblichen Fassung. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Für die Vergabe der Bauleistungen führte die Klägerin mit öffentlicher Bekanntmachung vom 21. Mai 2019 die öffentliche Ausschreibung durch. Das von der Klägerin beauftragte Ingenieurbüro ### erstellte unter dem 21. Mai 2029 ein Leistungsverzeichnis, das dem Beklagten am 24. Mai 2019 per E-Mail (CC-)übersandt wurde. Der Beklagte reagierte darauf und wies die Klägerin darauf hin, dass einige Leistungspositionen “eventuell” nicht produktneutral beschrieben worden seien, und bat um weitere Erläuterung. Am Ende seiner E-Mail heißt es:

“Ich bitte um Aufklärung, danach wird im Hause entschieden, ob diese schlüssig und die Produktneutralität gewahrt ist.”

Die bemängelten Leistungspositionen betrafen den Leistungsbereich 12 “Umverlegung TW-VL und TW-HA”. Dabei handelte es sich um beabsichtigte Baumaßnahmen im Anlagenbestand des Zweckverbands Kühlung (ZVK). Das von der Klägerin beauftragte Ingenieurbüro überarbeitete das Leistungsverzeichnis; verwies aber weiterhin in den Leistungspositionen 12.18 bis 12.21 und 12.30 auf bestimmte Herstellerprodukte, weil diese entsprechend der Betriebsmittelvorschrift des ZVK so benannt worden seien.

Zu den Leistungspositionen 12.18, 12.20, 12.21 und 12.30 war außerdem im Leistungsverzeichnis neben der Abkürzung “o.g.” [oder gleichwertig] noch der Zusatz aufgenommen worden:

“Sofern ein anderes Fabrikat (wie oben genannt) angeboten wird, ist eine ausführliche Produktbeschreibung des Herstellers dieser Ausschreibung beizufügen, mit der die Gleichwertigkeit eindeutig nachgewiesen wird.”

Auch dieses Leistungsverzeichnis wurde dem Beklagten von dem Ingenieurbüro per E-Mail am 27. Mai 2019 zur Kenntnis gegeben. In der E-Mail war als “Anmerkung zum Trinkwasser” darauf hingewiesen worden, dass die Positionen 12.18 bis 12.21 und 12.30 entsprechend der Betriebsmittelvorschrift des ZVK so benannt und daher nicht geändert worden seien. Dies sollte – so das Ingenieurbüro – auch vom Fördermittelgeber so akzeptiert werden. Eine Rückäußerung des Beklagten darauf erfolgte während des Vergabeverfahrens nicht. Im Ergebnis der Ausschreibung beauftragte die Klägerin die ### aus ### mit den Bauarbeiten. Die Leistungspositionen des Leistungsbereichs 12 wurden letztlich nicht erbracht.

Mit beim Beklagten am 20. November 2019 eingegangenem Auszahlungsantrag beantragte die Klägerin die Auszahlung der Fördermittel in Höhe von 194.858,14 Euro. Darin waren die Leistungen des Leistungsbereichs 12 nicht enthalten.

Mit Bescheid vom 16. Dezember 2019 widerrief der Beklagte den Zuwendungsbescheid teilweise und mit sofortiger Wirkung, soweit die Zuwendung auf Ausgaben entfiel, die die Leistungen der ### betrafen, und

“den sich nach Kürzungen der diesbezüglichen zuwendungsfähigen Ausgaben um 5 Prozent ergebenden Zuwendungsbetrag”

überstieg. Zur Begründung führte er aus, dass die Leistungen der ### nicht im Wege der losweisen Vergabe gemäß § 5 VOB/A vergeben worden seien und gegen die vergaberechtliche Verpflichtung der produktneutralen Ausschreibung nach § 7 VOB/A verstoßen worden sei. Die zum Bestandteil des Zuwendungsbescheides gemachten ANBest-ILE sähen dies jedoch gemäß Nummer 6.1.1 vor. Der Beklagte stützte seine Entscheidung auf § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 VwVfG-MV . Die Klägerin habe die entsprechende Auflage des Zuwendungsbescheides nicht eingehalten, denn sie habe die Vorschriften des Vergaberechts nicht eingehalten. Ein atypischer Ausnahmetatbestand, der bei der Entscheidung über den Widerruf zu berücksichtigen sei, liege nicht vor. Zudem sei der Beklagte gemäß Art. 35 Abs. 2 Buchstabe b der Verordnung (EU) Nummer 640/2014 gehalten, die Förderung ganz oder teilweise zurückzunehmen, wenn für das Vorhaben geltende Auflagen, insbesondere die Vorschriften über die öffentliche Auftragsvergabe, nicht eingehalten würden.

Hiergegen legte die Klägerin unter dem 7. Januar 2020 Widerspruch ein. Diesen stützte sie insbesondere darauf, dass sie nicht auf den Grundsatz der losweisen Vergabe von dem Beklagten hingewiesen worden sei. Die Gesamtvergabe sei aus wirtschaftlichen Gründen gerechtfertigt. Fachlich sei die Entscheidung zur Bezeichnung von Herstellern und Produkten mit dem Verweis auf die Betriebsmittelvorschriften des Zweckverbands Kühlungsborn erforderlich.

Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 2020 zurück. Darin führt er aus, dass allein aufgrund der Übersendung des Leistungsverzeichnisses per E-Mail am 27. Mai 2019 eine Hinweispflicht des Beklagten nicht habe begründet werden können. Zugrunde gelegen habe eine E-Mail des beauftragten Ingenieurbüros an die Klägerin, bei der der Beklagte nur in Kopie gesetzt worden sei. Eine Frage zur Vorprüfung sei damit nicht verbunden gewesen. Eine plausible Begründung für die Anwendung des § 7 Abs. 2 VOB/A habe nicht vorgebracht werden können. Nach den Betriebsmittelvorschriften und der Bestätigung des Zweckverbandes per E-Mail vom 27. Mai 2019 handele es sich bei den Vorschriften um Richtfabrikate, die in öffentlichen Ausschreibungsverfahren herstellerunabhängig beschrieben werden könnten. Es sei unzulässig, bestimmten Produkten oder Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Der gleichberechtigte Zugang aller Bieter sei ungerechtfertigt beschränkt worden. Die zu erbringende Leistung sei hinreichend genau und allgemein verständlich im vorliegenden Leistungsverzeichnis beschrieben worden. § 7 Abs. 2 VOB/A sei daher auch nicht mit dem Zusatz “oder gleichwertig” anwendbar gewesen. Im Übrigen hält der Beklagte im Widerspruchsbescheid an seiner Auffassung, es liege eine Abweichung vom Grundsatz der losweisen Vergabe zugrunde, nicht mehr fest. Die Höhe der Kürzung beruhe auf Nr. 3 der Leitlinien der EU-Kommission für die Festsetzung von Finanzkorrekturen, die bei Verstößen gegen die Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge auf von der Union finanzierten Ausgaben (COCOF-Leitlinien) gelten. Die Erhöhung der Kürzung nach Nummer 11 der COCOF-Leitlinien auf 10 Prozent sei nicht angewandt worden, weil ein Mindestmaß an Wettbewerb sichergestellt gewesen sei. Die Anerkennung der Begründung zur losweisen Vergabe habe keinen weiteren Einfluss auf den Korrektursatz, weil ohnehin nur eine Unregelmäßigkeit in Abzug gebracht werden könne.

Am 29. Juli 2020 hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben. Der Teilwiderrufsbescheid sei rechtswidrig. Die Klägerin habe nicht gegen Auflagen des Zuwendungsbescheides verstoßen. Sie habe sich an den Betriebsmittelvorschriften des ZVK und den darin enthaltenen Produktvorgaben orientieren dürfen. Insoweit habe ein sachlicher Grund i. S. d. § 7 Abs. 2 Nr. 1 VOB/A vorgelegen. Der Beklagte verkenne, dass gemäß § 7 Abs. 2 VOB/A in der Leistungsbeschreibung der Verweis auf eine bestimmte Produktion oder Herkunft auch dann zulässig sei, wenn dies durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt sei (Nr. 1). Der in der Rechtsprechung entwickelte Kriterienkatalog für die Produktvorgabe sei hier erfüllt. Hinzu komme, dass dem Auftraggeber – bezogen auf die sachliche Vertretbarkeit der geforderten Leistung – ein eigener Beurteilungsspielraum zustünde. Sachliche Gründe lägen immer dann vor, wenn im vorhandenen Bestand gearbeitet werde. Hier sei zudem am Bestand von Anlagen der Trinkwasserversorgung des ZVK gearbeitet worden. Insoweit sei, da es sich um sensible technische Anlagenteile wie Schieber oder Verbindungsteile gehandelt habe, davon auszugehen, dass die Betriebsmittelvorschriften des ZVK zu berücksichtigen gewesen seien. Dem stehe nicht entgegen, dass der ZVK gegenüber dem Beklagten im Widerspruchsverfahren sich dahingehend eingelassen habe, dass es sich bei den Herstellerangaben in den Betriebsmittelvorschriften um “Richtfabrikate” handele. Schließlich sei der Produktbezug nicht diskriminierend, wie sich aus der Vielzahl der eingegangenen Angebote und der Möglichkeit des Gleichwertigkeitsnachweises ergebe. Es handele sich um Produkte, die von jedem Unternehmen im Baufachhandel erworben werden könnten. Darüber hinaus habe der Beklagte das ihm nach § 49 Abs. 1 VwVfG-MV eingeräumte Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt. Der Beklagte habe verkannt, dass die Verwaltungsvorschriften sein Ermessen nicht bänden. Selbst wenn von einer Bindungswirkung im Sinne eines intendierten Ermessens auszugehen wäre, fehle es vorliegend an einer Berücksichtigung des atypischen Einzelfalls. Der Beklagte habe völlig unberücksichtigt gelassen, dass der Leistungsbereich 12 des Leistungsverzeichnisses, in dem die Produktverweise enthalten seien, überhaupt nicht realisiert worden sei. Es fehle mithin an einer Unregelmäßigkeit, die Auswirkungen auf den Haushalt habe. Schließlich habe der Beklagte einen Vertrauenstatbestand insoweit gesetzt, als er mit seiner E-Mail vom 24. Mai 2019 auf das zunächst vorgelegte Leistungsverzeichnis reagiert habe.


Die Klägerin beantragt,

den Teil-Widerrufsbescheid des Beklagten vom 16. Dezember 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 2020 aufzuheben.


Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.


Er ergänzt, dass das Vergabeverfahren weitere Mängel aufgewiesen habe. Dazu gehöre, dass veraltete Formblätter verwendet, im Rahmen der Bekanntmachung falsche und widersprüchliche Angaben gemacht und in der Niederschrift entgegen § 14 Abs. 3a VOB/A 2019 die Anschriften der sieben Bieter nicht aufgeführt worden seien. Insoweit sei das Nachschieben von Gründen zulässig, da die nachträglich aufgeführten Gründe bereits bei Erlass des ursprünglichen Verwaltungsaktes vorgelegen hätten und der Verwaltungsakt durch die neuen Gründe nicht in seinem Wesen geändert werde. Der Beklagte wende die Kürzungssätze gemäß den COCOF-Leitlinien in seiner ständigen Verwaltungspraxis an. Die Klägerin habe gegen die Auflage der Nummer 1, 5. Absatz des Zuwendungsbescheides verstoßen, nach der nicht produktbezogen ausgeschrieben werden dürfe. In den Fällen, in denen sachliche Gründe für eine produktbezogene Ausschreibung durch den Auftragsgegenstand vorlägen (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 VOB/A), dürfe der Zusatz “oder gleichwertig” nur dann verwendet werden, wenn die Kriterien für die Gleichwertigkeit festgelegt und mit den Ausschreibungsunterlagen veröffentlicht würden. Auch dies sei hier nicht geschehen. Es sei unerheblich, dass die bemängelten Angaben betreffend die Leistungen unter Nummer 12 der Leistungsbeschreibung letztlich nicht zur Ausführung gekommen seien. Auf die Frage, ob und in welcher Höhe dem Fördermittelgeber durch eine regelwidrige Auftragsvergabe letztendlich ein wirtschaftlicher Schaden entstanden sei, komme es nicht an. Der Europäische Gerichtshof habe darauf abgestellt, dass die Möglichkeit finanzieller Auswirkungen bereits dann gegeben sei, wenn die Kriterien für die Vorauswahl der Bieter strenger seien als vom europäischen Vergaberecht gefordert, weil damit eine Begrenzung des Teilnehmerkreises für das fragliche Vergabeverfahren einherginge. Nichts anderes gelte, wenn durch die Vorgabe von Produkten und/oder Herstellern die Möglichkeit der Beschränkung des Teilnehmerkreises – wie hier geschehen – bestehe. Letztlich habe der Beklagte keinen Vertrauenstatbestand geschaffen. Der Beklagte habe das Leistungsverzeichnis vom Ingenieurbüro lediglich per E-Mail als “CC”-Nachricht erhalten. Im Übrigen habe dem Leistungsverzeichnis nicht entnommen werden können, ob sachliche Gründe für die produktbezogene Ausschreibung oder die Prüfkriterien vorgelegen haben.

Am 10. August 2023 fand vor dem damaligen Berichterstatter ein Erörterungstermin statt. Den dazu im Nachgang nach § 106 S. 2 VwGO vorgeschlagenen Vergleich hat die Klägerin nicht angenommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Teil-Widerrufsbescheid des Beklagten vom 16. Dezember 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Der in dem Bescheid vom 16. Dezember 2019 enthaltene und von der Klägerin mit der vorliegenden Klage angegriffene Teil-Widerruf hinsichtlich eines Betrages von 9.049,14 Euro konnte wegen eines Auflagenverstoßes nach § 49 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwVfG-MV erfolgen. Ermessensfehler liegen insoweit nicht vor.

Nach § 49 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwVfG-MV kann ein rechtmäßiger Verwaltungsakt, der eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung zur Erfüllung eines bestimmten Zwecks gewährt oder hierfür Voraussetzung ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise auch mit Wirkung für die Vergangenheit widerrufen werden, wenn mit dem Verwaltungsakt eine Auflage verbunden ist und der Begünstigte diese nicht oder nicht innerhalb einer ihm gesetzten Frist erfüllt hat. Art. 5 Abs. 1 VO (EU) Nr. 65/2011 scheidet als Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebung des zugrundeliegenden Bewilligungsbescheides aus, weil die Regelung nur zur Rückzahlung und Verzinsung verpflichtet, nicht aber eine spezialrechtliche Ermächtigungsgrundlage für den Widerruf enthält (vgl. OVG Sachsen, Urteil vom 25. September 2024 – 6 A 118/20 -, m.w.N.).
Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 49 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwVfG-MV sind hier erfüllt (I.), und der Beklagte hat sein Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt (II.).

I.

Die Klägerin hat gegen eine Auflage eines rechtmäßigen Verwaltungsakts, der auf eine Geldleistung gerichtet war, verstoßen.

1. Der Zuwendungsbescheid enthält – worauf der Beklagte jedenfalls im verwaltungsgerichtlichen Verfahren auch abgestellt hat – unter Nummer 1, 5. Absatz des Zuwendungsbescheides die inkorporierte ausdrückliche Auflage, nicht produktbezogen ausschreiben zu dürfen. Die Klägerin hat bereits die Leistungen der Positionen 12.18, 12.20, 12.21, 12.30, 12.35 und 12.38 hersteller- und produktbezogen ausgeschrieben und damit gegen die Auflage der Nummer 1, 5. Absatz des Zuwendungsbescheides verstoßen.

2. Darüber hinaus hat die Klägerin gegen die gemäß Nummer 3. “Allgemeine Nebenbestimmungen” zum Bestandteil des Bescheides gemachten ANBest-ILE unter Nummer 6.1.1 vorgesehenen Auflagen im Sinne des § 36 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG-MV verstoßen. Denn mit diesen wird der Klägerin als Begünstigte ein bestimmtes Tun vorgeschrieben, indem sie den gesetzlichen Vergabebestimmungen unterworfen wird. Gegen die Wirksamkeit der Auflagen bestehen keine Bedenken, dergleichen sind auch von der Klägerin nicht geltend gemacht worden.

Die Klägerin hat auch gegen ihre Verpflichtung verstoßen die VOB/A einzuhalten. Sie hat nicht-vergaberechtskonform i. S. des § 7 VOB/A ausgeschrieben, indem sie entgegen § 7 Abs. 1 VOB/A produktbezogen ausgeschrieben hat. Die Annahme der Klägerin, die der Ausschreibung zugrundeliegende Leistungsbeschreibung sei mit § 7 Abs. 2 Nr. 1 VOB/A vereinbar, wird von der Kammer nicht geteilt.

Nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 VOB/A besteht eine Ausnahme von dem Grundsatz, in technischen Spezifikationen nicht auf eine bestimmte Produktion oder Herkunft oder ein besonderes Verfahren, das die von einem bestimmten Unternehmen bereitgestellten Produkte charakterisiert, oder auf Marken, Patente, Typen oder einen bestimmten Ursprung oder eine bestimmte Produktion verweisen zu dürfen, wenn dies durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt ist. Auch wenn dies letztlich hier dahingestellt bleiben kann, spricht zur Überzeugung der Kammer doch Einiges dafür, dass die Klägerin, der als öffentliche Auftraggeberin ein gewisser Beurteilungsspielraum zusteht, ihre Einschätzung nachvollziehbar und auf objektive und auftragsbezogene Gründe gestützt hat, um dennoch sicher zu stellen, dass die Vergabeentscheidung insoweit willkürfrei getroffen werden konnte und andere Wirtschaftsteilnehmer nicht diskriminiert werden. Insoweit ist allgemein anerkannt, dass öffentlichen Auftraggebern bei der Einschätzung, ob die Vorgabe eines bestimmten Herstellers gerechtfertigt ist, ein Beurteilungsspielraum zusteht (vgl. VgK Niedersachsen, Beschluss vom 18. August 2023 – VgK-23/2023 -, m.w.N.; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. Oktober 2019 – Verg 66/18 -; von Knesebeck, BeckOK Vergaberecht, Gabriel/Mertens/Stein/Wolf, Stand 1. Februar 2023, VOB/A § 7 EU Rn. 41 m.w.N.). Dabei liegt die Darlegungs- und Beweislast für die Notwendigkeit einer produktbezogenen Leistungsbeschreibung bei dem öffentlichen Auftraggeber (vgl. OLG Düsseldorf, a.a.O., m.w.N.). Ausgehend hiervon und unter Berücksichtigung dessen, dass die Klägerin sich hier auf die Betriebsmittelvorschriften des ZVK zur Verringerung von Risikopotentialen in der Funktion oder Kompatibilität festgelegt hat, dürfte die produktbezogene Ausschreibung insoweit nicht zu beanstanden sein.

Zutreffend weist der Beklagte jedoch darauf hin, dass dann nicht – wie hier geschehen – gleichzeitig die Öffnungsklausel “oder gleichwertig” verwendet werden darf. § 7 Abs. 2 VOB/A sieht bereits nach seinem klaren Wortlaut zwei voneinander zu unterscheidende Vorgehensweisen vor, bei denen alternativ (Nummer 1) der Produktbezug durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt ist oder (Nummer 2) der Auftragsgegenstand nicht hinreichend genau und allgemeinverständlich beschrieben werden kann. Nur in letzterem Fall “sind” die Verweise jedoch (zwingend) mit dem Zusatz “oder gleichwertig” zu versehen (vgl. Trutzel, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl. 2020, § 31 VgV Rn. 55). Auch nach dem Sinn und Zweck der Ausnahmeregelungen, die sowohl der Forderung nach Eindeutigkeit der Ausschreibung als auch dem Wettbewerbsgedanken Rechnung tragen sollen (vgl. Franke/Kaiser, VOB-Kommentar, 7. Aufl. 2020, § 7 EU VOB/A, Rn. 112) liegt es nahe, dass jedenfalls die produktbezogene Ausschreibung mit dem Zusatz “oder gleichwertig” den Teilnahmewettbewerb verzerren kann, wenn insbesondere die Parameter der Gleichwertigkeit nicht näher beschrieben sind (vgl. VK Rheinland, Beschluss vom 26. Mai 2021 – VK 3/21 -, m.w.N.). Dies ergibt sich im Übrigen auch aus Art. 42 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24/EU vom 6. Februar 2014, in dem es heißt:

“Soweit es nicht durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt ist, darf in technischen Spezifikationen nicht auf eine bestimmte Herstellung oder Herkunft oder ein bestimmtes Verfahren […] oder eine bestimmte Produktion verwiesen werden […]. Solche Verweise sind jedoch ausnahmsweise zulässig, wenn der Auftragsgegenstand nicht hinreichend genau und allgemein verständlich beschrieben werden kann.”

Nur bei solchen allgemeinen Verweisen wegen mangelnder Beschreibbarkeit ist also der Zusatz “oder gleichwertig” gerechtfertigt (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. September 2016 – 15 Verg 7/16 -, BeckRS 2016, 121911 Rn. 26 m.w.N.). Der Einwand der Klägerseite, nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A stehe es dem Auftraggeber stets frei, den Ausschreibungsinhalt festzulegen, übergeht, dass diese Regelung bereits von ihrem Wortlaut her lediglich die Form der Einreichung der Angebote erfasst. Darüber hinaus ist § 13 Abs. 1 VOB/A nicht losgelöst von § 7 VOB/A zu sehen (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Mai 2023 – XIII ZR 14/21 -, Rn. 20 f. m.w.N.); insbesondere werden die Regelungen über die produktneutrale Ausschreibung und deren Ausnahmen nicht durch § 13 VOB/A verdrängt.

4. Die Klägerin hat – jeweils für sich selbständig tragend – weitere vergaberechtliche Vorgaben nicht eingehalten.

Soweit der Beklagte die folgenden Vergabemängel im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeschoben hat, ist dies grundsätzlich und für sich genommen nach § 45 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG-MV zulässig, da eine Wesensveränderung des Verwaltungsaktes damit nicht verbunden ist (vgl. Schemmer, in BeckOK, Bader/Ronellenfitsch, Stand 1. Januar 2025, VwVfG, § 45 Rn. 36 m.w.N.).

a) Die Klägerin hat, worauf der Beklagte zutreffend ergänzend abgestellt hat, veraltete Formblätter verwendet und damit potentiell den Zugang von Unternehmen zum Vergabeverfahren wettbewerbswidrig eingeschränkt (§ 8 VOB/A, § 16 VOB/A). Denn die Verwendung der veralteten Formblätter durch den Auftraggeber kann bereits deshalb Einfluss auf das Vergabeverfahren haben, weil Irritationen erzeugt werden können und Auslegungen notwendig werden können (vgl. VK Südbayern, Beschluss vom 10. September 2013 – Z3-3-3194-1-24-08/13 -).

b) Des Weiteren hat die Klägerin in der Bekanntmachung der Ausschreibung falsche und widersprüchliche Angaben gemacht. So hat sie im Hinblick auf die Eignungsnachweise für unbekannte Bieter nur auf § 6 VOB/A verwiesen, ohne den Hinweis auf den maßgeblichen § 6a VOB/A aufzunehmen. Die Zuschlags- und Bindefrist wurde einmal auf den 16. Juli 2019 und an anderer Stelle auf den 26. Juli 2019 angegeben. Darin liegt jeweils für sich gesehen ein zusätzlicher Verstoß gegen die Pflicht zur eindeutigen und wirksamen Aufstellung der Vergabeunterlagen (OLG Rostock, Beschluss vom 30. September 2021 – 17 Verg 3/21 -, m.w.N.). Soweit die Klägerin einwendet, dass die Abweichungen hinsichtlich der Zuschlags- und Bindefrist zu vernachlässigen seien, weil die Zuschlags- und Bindefrist durch den Auftraggeber variabel festgelegt werden könne, vermag dies nicht zu überzeugen, da sich bereits aus der Uneinheitlichkeit in den verschiedenen Veröffentlichungen Irritationen ergeben und jedenfalls unterschiedliche Bindefristen unterschiedliche Vorhaltekosten mit sich bringen und damit den Wettbewerb beeinträchtigen können (vgl. Völlink, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl. 2020, VOB/A-EU § 10 Rn. 18 m.w.N.).

c) Schließlich sind in der Niederschrift über den Öffnungstermin nicht die Anschriften der sieben Bieter aufgeführt, weshalb ein Verstoß gegen § 14 Abs. 3a VOB/A vorliegt. Die unzulängliche Dokumentation läuft einem transparenten Vergabeverfahren und den hohen Anforderungen an das Dokumentationserfordernis zuwider (vgl. VK Sachsen, Beschluss vom 17. Dezember 2010 – 1/SVK/045/10 -).

4. Die Jahresfrist nach § 49 Abs. 3 Satz 2 i. V. m. § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG-MV ist – unabhängig davon, ob Art. 5 Abs. 3 VO (EU) Nr. 65/2011 insoweit eine abschließende Regelung enthält (vgl. OVG Sachsen, Urteil vom 25. September 2024 – 6 A 118/20 -) – gewahrt.

II.

Der Beklagte hat auch sein Ermessen im Rahmen des gerichtlich Überprüfbaren (§ 114 VwGO) fehlerfrei ausgeübt.

1. Es kann dahingestellt bleiben, ob auch im Rahmen des § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 VwVfG-MV, also im Rahmen eines Auflagenverstoßes, das Ermessen regelmäßig nach den Grundsätzen des sogenannten “intendierten Ermessens” ausgeübt werden kann. In der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung ist allgemein anerkannt, dass nach § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 VwVfG-MV im Zuwendungsrecht die haushaltsrechtlichen Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit im Regelfall zum Widerruf einer Zuwendung, die ihren Zweck verfehlt hat, zwingen soll, wenn nicht außergewöhnliche Umstände des Einzelfalls eine andere Entscheidung möglich erscheinen lassen. Denn die Haushaltsgrundsätze überwiegend im Allgemeinen das Interesse der Begünstigten, den Zuschuss behalten zu dürfen, und verbieten einen großzügigen Verzicht auf den Widerruf von Subventionen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juni 1997 – 3 C 22.96 -; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24. Juli 2019 – 2 LB 40/14 -, wohl ausdrücklich auch für den Fall des Auflagenverstoßes).

2. Auch wenn zweifelhaft ist, ob dies generell auf die Fälle des § 49 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwVfG-MV übertragbar ist, ergibt sich jedenfalls ein intendiertes Ermessen hier aus dem Unionsrecht, weil die streitbefangene Förderung aus EU-Mitteln gespeist wird, konkret aus Art. 35 Abs. 2 Buchstabe b der Verordnung (EU) Nr. 640/2014. Danach wird die beantragte Förderung ganz oder teilweise abgelehnt oder ganz oder teilweise zurückgenommen, wenn für das Vorhaben geltende Auflagen, insbesondere Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe, nicht eingehalten werden. Damit ist das Entschließungsermessen des Beklagten bereits ausgeschlossen (vgl. OVG Niedersachsen, Urteil vom 5. Mai 2021 – 10 LB 201/20 -, m.w.N.).

3. Auch im Hinblick auf die Höhe der erfolgten Kürzung ist die Entscheidung des Beklagten nicht zu beanstanden. Die COCOF-Leitlinien dienen der einheitlichen Festlegung von Finanzkorrekturen bei Verstößen gegen die Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge auf von der Union finanzierte Ausgaben (Beschluss C (2019) 3452 der Kommission vom 14. Mai 2019). Sie sehen unter Nummer 11 bei der Verwendung von technischen Spezifikationen, die zwar nicht diskriminierend sind, den Zugang von Wirtschaftsteilnehmern jedoch dennoch beschränken, grundsätzlich einen Korrektursatz von 10 Prozent vor. Dieser wurde hier auf 5 Prozent reduziert, weil ein Mindestmaß an Wettbewerb sichergestellt gewesen sei, wie sich aus der Einreichung einer bestimmten Anzahl an Angeboten ergebe.

Auch wenn es sich bei den COCOF-Leitlinien für die Festlegung von Finanzkorrekturen nicht originär um einen Rechtssatz der Kommission in der Form einer Verordnung handelt, hat die Kammer keinen Zweifel, dass die COCOF-Leitlinien, wie bereits ihre Bezeichnung deutlich macht, auf die hier zugrundeliegende unionsfinanzierte Förderung anzuwenden sind.

Anders ließe sich im Übrigen die Rückzahlungsverpflichtung nach Art. 5 der Verordnung (EU) Nr. 65/2011 vom 27. Januar 2011 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 des Rates hinsichtlich der Kontrollverfahren unter Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen bei Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums nicht realisieren. Der europarechtliche Durchsetzungsanspruch gegenüber dem nationalen Recht (“effet utile”, Art. 4 Abs. 3 EUV) würde missachtet.

Schließlich zeigt die neuere europarechtliche Rechtsetzung, etwa durch die Verordnung (EU) 2022/127 und die Durchführungsverordnung (EU) 2022/128, dass zwischenzeitlich die Regularien für die Festsetzung von Finanzkorrekturen und für die Aussetzung von Zahlungen in die europarechtlichen Verordnungen integriert werden, die Sanktionierung also bereits auf der Ebene des EU-Rechts weder aufgegeben noch für die nationalrechtliche Ausgestaltung geöffnet worden ist.

4. Nach alledem kommt es auf den Umstand, dass die Leistungen des Leistungsverzeichnisses unter Nummer 12 nicht realisiert wurden, schon nicht an. Dies deshalb, weil einerseits nicht ausgeschlossen werden kann, dass durch die insoweit fehlerhafte Ausschreibung in einem nicht in Lose aufgeteilten Verfahren der Wettbewerb eingeschränkt wurde, gleich, ob damit ein Schadenseintritt verbunden gewesen ist. Denn ausreichend ist, dass der Verstoß Auswirkungen auf den Haushalt des maßgeblichen europäischen Fonds haben konnte, nicht jedoch, dass er ihn auch tatsächlich hatte (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2024 – Rs. C-175/23 -, Anm. 26; EuGH, Urteil vom 6. Dezember 2017 – Rs. C-408/16 -, Rn. 60 und 61). Andererseits aber auch, weil diverse andere Vergaberechtsverstöße zugrunde liegen, die jeweils für sich gesehen den Widerruf und die Rückforderung rechtfertigten.

Auch der Einwand der Klägerin, der Beklagte habe, indem er auf die zweite Übersendung des Leistungsverzeichnisses nicht reagiert habe, einen Rechtsschein gesetzt, ist dementsprechend unerheblich. Im Übrigen hatte der Beklagte in seinen Hinweisen auf die davor erfolgte Übersendung des Leistungsverzeichnisses deutlich gemacht, dass es einer ausdrücklichen Entscheidung bedürfe, ob die angeforderten Erläuterungen schlüssig wären und die Produktneutralität gewährleistet werden könne.

Letztlich sei darauf hingewiesen, dass der Beklagte sein Ermessen tatsächlich im Hinblick auf die Frage, ob ein atypischer Einzelfall zugrunde gelegen hat, ausgeübt hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.


Beschluss

vom 17.04.2025

Der Streitwert wird auf 9.049,14 Euro festgesetzt.


Gründe:

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.

(…)

Auftraggeber dürfen sich auf das mit Einreichung des Angebots geäußerte Leistungsversprechen eines Bieters verlassen

Auftraggeber dürfen sich auf das mit Einreichung des Angebots geäußerte Leistungsversprechen eines Bieters verlassen

von Thomas Ax

Der Auftraggeber darf sich grundsätzlich auch ohne Überprüfung auf die Leistungsversprechen der Bieter verlassen, OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15.01.2020 – Verg 20/19. Der öffentliche Auftraggeber ist grundsätzlich nicht verpflichtet zu überprüfen, ob die Bieter ihre mit dem Angebot verbindlich eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen auch einhalten werden. Vielmehr darf er sich grundsätzlich auch ohne Überprüfung auf die Leistungsversprechen der Bieter verlassen (Senatsbeschluss vom 15. Juli 2015, VII-Verg 11/15 – juris, Rn. 51; OLG München, Beschluss vom 11. Mai 2007, Verg 4/07NJOZ 2008, 2351, 2356; Opitz in Beck’scher Vergaberechtskommentar, 3. Auflage 2017, § 127 Rn. 116).

Eine Überprüfungspflicht des öffentlichen Auftraggebers ergibt sich nur dann, wenn konkrete Tatsachen das Leistungsversprechen eines Bieters als nicht plausibel erscheinen lassen (Senatsbeschluss vom 15. Juli 2015, VII-Verg 11/15 – juris, Rn. 51; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 16. Juni 2015, 11 Verg 3/15 – juris, Rn. 82 bei der Entscheidung über die Eignung). In diesen Fällen muss aus Gründen der Transparenz und der Gleichbehandlung der Bieter (§ 97 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 GWB) der öffentliche Auftraggeber bereit und in der Lage sein, das Leistungsversprechen der Bieter effektiv zu verifizieren (EuGH, Urteil vom 4. Dezember 2003, C-448/01 – juris, Rn. 50 Wienstrom für die Erfüllung von Zuschlagskriterien; Kulartz/Opitz/Steding, Vergabe von IT-Leistungen, 2. Auflage 2015, 157 f.; Dreher/Aschoff, NZBau 2006, 144, 147 ff.; Opitz in Beck’scher Vergaberechtskommentar, 3. Auflage 2017, § 127 Rn. 115).

Der öffentliche Auftraggeber ist in der Wahl seiner Überprüfungsmittel grundsätzlich frei (OLG München, Beschluss vom 11. Mai 2007, Verg 4/07NJOZ 2008, 2351, 2356; OLG Frankfurt a.M. Beschluss vom 16. Juni 2015, 11 Verg 3/15 – juris, Rn. 82 zur Eignungsbeurteilung). Er ist im Interesse einer zügigen Umsetzung der Beschaffungsabsicht und einem raschen Abschluss des Vergabeverfahrens und aus Gründen seiner begrenzten Ressourcen und administrativen Möglichkeiten nicht auf eine bestimmte Methode oder bestimmte Mittel der fachlichen Prüfung festgelegt (Senatsbeschluss vom 5. Juli 2012, VII-Verg 13/12 – juris, Rn. 13; Wagner in Heiermann/Zeiss/Summa, jurisPK-Vergaberecht, 5. Auflage 2016, § 56 VgV Rn. 29 ff.; Dreher/Aschoff, NZBau 2006, 144, 147; für eine niederschwellige Prüfung Pauka in Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, 2. Auflage 2018, § 56 VgV Rn. 11 f.).

Das vom Auftraggeber gewählte Mittel zur Überprüfung muss jedoch geeignet und die Mittelauswahl frei von sachwidrigen Erwägungen getroffen worden sein. Der öffentliche Auftraggeber ist nur dann auf ein bestimmtes Mittel der Verifizierung zu verweisen, wenn dieses das einzige geeignete Mittel der Überprüfung der Bieterangaben darstellt und dem öffentlichen Auftraggeber zur Verfügung steht (Dreher/Aschoff, NZBau 2006, 144, 147). OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15.01.2020 – Verg 20/19: „Gemessen daran stand es dem Antragsgegner frei, die Angaben des Beigeladenen in seinem Angebot anhand einer schriftlichen und grafischen Darstellung über die angebotene Software zu überprüfen. Die Durchführung einer verifizierenden Teststellung war nicht das einzige geeignete Mittel. Der Antragsgegner war anhand der Darstellungen in der Lage zu überblicken, welche Lösungen die anzubietende Software für die in der Leistungsbeschreibung aufgestellten Anforderungen bereithält und ob die Vorgaben der Leistungsbeschreibung realistisch eingehalten werden können. Sie versetzten ihn zudem in die Lage, hinsichtlich einzelner Komponenten konkrete Rückfragen an den Beigeladenen zu stellen. Dass einer solchen Darstellung – so die Behauptung der Antragstellerin – jegliche Aussagekraft im Hinblick auf die hier geforderten Eigenschaften fehlte, ist nicht ersichtlich und wird von der Antragstellerin auch nicht mit substantiellen Gründen vorgetragen. Es trifft auch nicht zu, dass „Rechenoperationen einer Software“ allein anhand einer „dynamischen“ Teststellung beurteilt werden könnten. Damit verkennt die Antragstellerin, dass von den Bietern die Lieferung der geforderten Software nicht bei Angebotsabgabe, sondern erst bei Leistungsbeginn verlangt war. Zwar kann eine verifizierende Teststellung grundsätzlich auch während der Entwicklungsphase der Software vor Leistungsbeginn durchgeführt werden (vgl. zu einer solchen Sachverhaltskonstellation Senatsbeschluss vom 16. Oktober 2019, VII-Verg 13/19). Ihr Erkenntniswert ist jedoch geringer, weil sie nur Aufschluss über den Entwicklungsstand der Software im Zeitpunkt des Testlaufs gibt und in der Regel keine sicheren Schlüsse über die Erfüllbarkeit des Angebots bei Leistungsbeginn erlaubt.“

Ein preislich unterlegener Bieter, der Zweifel daran hat, dass sein Wettbewerber die Leistung tatsächlich so wie gefordert erbringen kann, kann versuchen, diese Zweifel beim Auftraggeber zu nähren. Denn solche Zweifel können beim Auftraggeber zu einer Aufklärungspflicht führen und vielleicht sogar zum nachträglichen Ausschluss (erfahrungsgemäß indes mit geringer Wahrscheinlichkeit). Aber Vorsicht, in der Regel besteht das Leistungsversprechen darin, zum Leistungszeitpunkt die Leistung erbringen zu können und diese nicht bereits beim Angebot vorhalten zu müssen. Dies wäre vor einer entsprechenden Rüge im Einzelfall zu prüfen.

AxVergabePraxis Hessen: Der Vergabeerlass seit 1.September 2021

AxVergabePraxis Hessen: Der Vergabeerlass seit 1.September 2021

Der zweite Teil befasst sich mit dem nationalen Vergaberecht unterhalb der EU-Schwellenwerte. Hier findet sich der Anwendungsbefehl für die Verfahrensordnung der UVgO im Dienst und Lieferbereich, die die VOL/A ablöst. Wie auch in den voran geltenden Vergabeerlassen, erfährt die neue Verfahrensordnung wichtige Modifikationen:

Die zwingende Beschaffung von Dienst- und Lieferleistungen über eine elektronische Vergabeplattform wird in Hessen nicht eingeführt.
Das Papierverfahren bei Dienst- und Lieferleistungen ist weiterhin zulässig (Ausnahme zu § 7 Abs. 1,3,4 i.V. m. § 38 Abs. 3 UVgO).
Es entfällt die Pflicht, sofern elektronische Vergabeunterlagen bereitstehen, diese auf der HAD zur Verfügung zu stellen und die Verpflichtung, dass Vergabeunterlagen unentgeltlich, uneingeschränkt, vollständig und direkt auf der HAD von Unternehmen abgerufen werden können (Ausnahme zu § 29 UVgO).
Elektronische Teilnahmeanträge und Angebote müssen nicht in verschlüsselter Form übermittelt werden, das macht Fax und E-Mail als Versendungsweg zulässig (Ausnahme zu § 39 UVgO).

Bei Verhandlungsvergaben mit und ohne Teilnahmewettbewerb kann bei per Fax oder E-Mail versendeten Teilnahmeanträgen und Angeboten auch vor Fristablauf Einsicht genommen werden (Ausnahmen zu § 40 UVgO).
Direktaufträge (Ausnahme zu § 14 UVgO) sind gem. § 1 Abs. 1 HVTG bis zu einem Auftragswert von 10.000 EUR zulässig.
Hinsichtlich der Freigrenzen bei Beschaffungen von Dienst- und Lieferleistungen (vgl. § 8 Abs. 4 Nr. 17 UVgO) für Verhandlungsvergaben mit/ohne Teilnahmewettbewerb gelten die im HVTG festgesetzten Auftragswerte von bis 50.000 Euro (ohne TW) bzw. bis 100.000 Euro (mit TW).
Ziff. 1.3 des hessischen Vergabeerlasses 2020 ist entfallen.
Die dort geregelten, besonderen Ausnahmen, die eine Freihändige Vergabe bei Dienst- und Lieferleistungen ggf. mit nur einem Unternehmen ermöglichten, finden sich inhaltlich überwiegend in § 8 Abs. 4 Nr. 9 bis 14 UVgO wieder, jetzt als Verhandlungsvergabe mit und ohne Teilnahmewettbewerb.
Beschaffung über eine vorteilhafte Gelegenheit oder von Lieferleistungen auf einer Warenbörse dürfen gem. § 12 Abs. 3 UVgO i.V.m. § 8 Abs. 4 Nr. 11 und Nr. 14 UVgO mit nur einem Unternehmen durchgeführt werden.

Leistungen, die schöpferische Fähigkeiten verlangen, sind weiterhin ohne Begrenzung des Vergabevolumens im wettbewerblichen Verhandlungsverfahren (Verhandlungsvergabe) zu vergeben, ggf. auch ohne Teilnahmewettbewerb (vgl. § 8 Abs. 4 Nr. 1 UVgO).
Wenn in einer Ausschreibung keine ordnungsgemäßen oder nur unannehmbare Angebote vorliegen, kann eine Verhandlungsvergabe mit oder ohne Teilnahmewettbewerb gem. § 8 Abs. 4 Nr. 4 UVgO durchgeführt werden, es besteht allerdings nicht die Möglichkeit, nur mit einem Unternehmen zu verhandeln (Ziff. 1.3 Erlass a.F., § 12 Abs. 1, 2 UVgO). Auch bei unverschuldeter Dringlichkeit ist das Verhandeln mit nur einem Unternehmen nicht mehr zulässig, erst wenn die Situation einer besonderen Dringlichkeit gem. § 8 Abs. 4 Nr. 9 UVgO besteht.
Die Bekanntmachungspflichten (§ 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 UVgO) richten sich ausschließlich nach HVTG, d.h. die HAD ist in Hessen weiterhin Pflichtbekanntmachungsorgan für EU- und nationale Vergabeverfahren. Eine Bekanntmachung hat zuerst auf der HAD zu erfolgen, bevor fakultativ andere Medien einschließlich www.bund.de genutzt werden können.

Auch vergebene Aufträge, denen keine Bekanntmachungen des Vergabeverfahrens ex ante vorausgingen, müssen weiterhin auf der HAD veröffentlicht werden.

Auch bezüglich der VOB/A /1 wurden Modifikationen vorgenommen. Dies betrifft, u.a. die zeitlich zuerst einzuhaltende Bekanntmachungspflicht auf der HAD, der andere Medien nachfolgen können (§ 12 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A). Gleiches gilt für eine Bekanntmachung des vergebenen Auftrags (§ 20 Abs. 3 VOB/A), bei der keine ex- ante-Bekanntmachung erfolgt war. Beschafferprofile, die fortlaufend über beabsichtigte Vergabeverfahren vorab informieren (§ 20 Abs. 4 VOB/A), sind auf eigenen Internetportalen weiterhin zulässig. Auf den Submissionstermin bei Bauleistungen wird in Hessen bei Zulassung von Papierverfahren zukünftig verzichtet (Ausnahme zu § 14a VOB/A/1). Es gelten für schriftliche Angebote ausschließlich die Regeln für elektronische Verfahren, die keine Anwesenheit der Bieter vorsehen (§ 14 VOB/A/1).

Da Eigenerklärungen bei der Eignungsprüfung gem. HVTG grundsätzlich ausreichen, muss diese Anforderung, abweichend von der VOB, nicht ausdrücklich dokumentiert werden (§ 20 Abs. 2 VOB/A). Ausgenommen hiervon sind die Bescheinigungen der Sozialkassen und ersatzweise die der Krankenkassen, die stets als Bescheinigung vorzulegen sind.

Weiterhin sind Beschaffungen bis 10.000 Euro vom Vergaberegime ausgenommen. Bei Lieferleistungen sind ohne förmliche Angebote zwei weitere Preise über beliebige Informationsquellen zu ermitteln, bei Bau- und Dienstleistungen entfällt auch diese Pflicht und es kann eine Direktvergabe erfolgen, sofern die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit beachtet, das Unternehmen geeignet und die Beschaffung dokumentiert wird.
Anerkannte Werkstätten für Menschen mit Behinderung, Blindenwerkstätten und Inklusionsbetriebe können auch in Zukunft bevorzugt zur Abgabe von Angeboten aufgefordert und ein Angebot gegenüber anderen Bietern mit einem Abschlag von 15 % berücksichtigt werden.
Der Erlass enthält die Kontaktdaten der neuen Vergabekompetenzstellen, die zugleich die Aufgabe der Nachprüfungsstelle und VOB-Stelle auch für Gemeinden und Gemeindeverbände wahrnehmen. Für Nachprüfungsverfahren oberhalb der EU-Schwellenwerte sind weiterhin zwei Vergabekammern in Hessen zuständig.

Der 4. Teil des Erlasses enthält vom Auftragswert unabhängige Regelungen. Dazu gehört zunächst die Erklärungs- und Anfragepflicht beim Gewerbezentralregister ab einem Auftragswert von 30.000 Euro, die parallel zur Anfragepflicht gem. § 17 HVTG bei der Informationsstelle der OFD besteht.
Die Auskunftseinholung beim GZR wird in Zukunft entfallen, sobald das Wettbewerbsregister eine elektronische Abfrage für öffentliche Auftraggeber, unter gleichen Vorrausetzungen ab 30.000 Euro, ermöglicht. Diese Melde- und Auskunftspflicht gilt auch für Gemeinden und Gemeindeverbände.
Die Vergabehandbücher des Bundes (VHB) werden weiterhin empfohlen, soweit sie dem HVTG nicht entgegenstehen. Daher wird es auch in Zukunft Muster-Formulare geben, die das hessische Vergaberecht widerspiegeln und auf der HAD veröffentlicht werden.
Hinsichtlich nachhaltiger Beschaffungen ist die zwingende Anwendung der §§ 67 und 68 VgV bei energieverbrauchsrelevanten Dienst- und Lieferleistungen entfallen. Hinweise zu Kompetenzstellen für nachhaltige und innovative Beschaffungen sowie auf praxisrelevante Hilfestellungen bei Verwendung von Gütesiegeln wurden beibehalten.

Bei Fragen zur Tariftreue und Mindestlohnpflicht oder zu Arbeitsbedingungen und Entgelten können öffentliche Auftraggeber beim Sozialministerium Unterstützung erfahren. Vermutete Verstöße können von allen Bürgern bei den Hauptzollämtern unter den angegebenen Adressen gemeldet werden. Meldeverpflichtungen, wie auch wegen wettbewerbsbeschränkender Abreden sowie die Berichtspflichten bei Destatis sind für Gemeinden und Gemeindeverbände ebenfalls verpflichtend.

Ax Vergaberecht | Rechtsanwalt
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