Kammergericht zur Zurückverweisung eines Vergabenachprüfungsverfahrens an Vergabekammer bei Verstoß gegen Beiladungs- und Akteneinsichtsrecht
vorgestellt von Thomas Ax
1. Ein von der Vergabekammer durchgeführtes Verfahren leidet an vielzähligen schwerwiegenden Mängeln, wenn es die Vergabekammer rechtswidrigerweise unterlassen hat, der Antragstellerin Akteneinsicht zu gewähren, die akteneinsichtsversagende Entscheidung zu begründen, den zuschlagsfavorisierten Bieter beizuladen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, den Vergabenachprüfungsantrag dem Antragsgegner in Schriftform zu übermitteln und die Vergabeakte beizuziehen sowie zur Kenntnis zu nehmen.
2. Eine Beiladung ist immer schon dann geboten, wenn die Entscheidung über den Vergabenachprüfungsantrag nachteilige Auswirkungen auf die Zuschlagschancen des Beizuladenden haben kann.
3. Den Verfahrensbeteiligten steht ein grundsätzlich uneingeschränktes Recht auf Akteneinsicht zu, das nur dann eine Einschränkung erfährt, wenn wichtige Gründe, insbesondere des Geheimschutzes die Einsichtversagung gebieten. Deutet die Vergabekammer an, dass sie eine Akteneinsicht unberechtigt hält, durch die erst das Auffinden etwaiger Rechtsverstöße ermöglicht werden soll, lässt dies ein grundlegendes Fehlverständnis der Vergabekammer vom Akteneinsichtsrecht erkennen.
KG Berlin Vergabesenat, 10.02.2020, Verg 06/19,
Gründe
Randnummer1
Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet. Auf die Beschwerde hin war die angegriffene Entscheidung gemäß § 178 Satz 2 GWB sowie im Hinblick auf § 538 Abs. 2 Nr. 1 und 3 ZPO (vgl. Steck in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 3. Aufl. 2018, § 178 Rdnr. 10 a.E.) aufzuheben und die Sache zur Verhandlung sowie erneuten Entscheidung an die Vergabekammer zurückzuverweisen.
Dem liegen folgende Erwägungen zu Grunde:
1.
Das von der Vergabekammer durchgeführte Verfahren leidet an vielzähligen schwerwiegenden Mängeln, die es unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten allenfalls als Rumpfverfahren erscheinen lassen. Insbesondere hat die Vergabekammer es rechtswidrigerweise unterlassen, der Antragstellerin Akteneinsicht zu gewähren (a.), die akteneinsichtsversagende Entscheidung zu begründen (b.), den zuschlagsfavorisierten Bieter beizuladen (c.), eine mündliche Verhandlung durchzuführen (d.), den Vergabenachprüfungsantrag dem Antragsgegner in Schriftform zu übermitteln (e.) und die Vergabeakte beizuziehen sowie zur Kenntnis zu nehmen (f.).
Hierzu im Einzelnen:
a)
Die Vergabekammer hat der Antragstellerin die Wahrnehmung ihres Rechtes aus § 165 Abs. 1 GWB auf Einsichtnahme in die Akten der Vergabestelle rechtsgrundlos verweigert und ihr damit zudem den verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG abgeschnitten.
Denn gemäß § 165 Abs. 1 GWB steht den Verfahrensbeteiligten ein – im Ausgangspunkt – uneingeschränktes Recht auf Akteneinsicht zu, das gemäß § 165 Abs. 2 GWB nur dann eine Einschränkung erfährt, wenn „wichtige“ Gründe, insbesondere des Geheimschutzes oder zur „Wahrung von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen“ die Einsichtversagung „gebieten“. Dass vorliegend irgendwelche Interessen des Geheimschutzes oder der Wahrung von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen überhaupt in Rede stehen, geschweige denn die Versagung der Akteneinsicht „gebieten“, wird von niemandem behauptet und auch von der Vergabekammer nicht in Betracht gezogen. So führt die Vergabekammer keinerlei Gründe an, warum sie die Akteneinsicht verwehrt. An einer Stelle der Gründe des Beschlusses deutet die Vergabekammer – gleichsam konkludent – sogar an, dass sie eine „Akteneinsicht, die [ ] erst das Auffinden etwaiger [Rechts]verstöße ermöglichen [soll]“, für unberechtigt oder irgendwie anstößig hält (Seite 10 der Beschlussausfertigung). Dies allerdings lässt ein grundlegendes Fehlverständnis der Vergabekammer vom Akteneinsichtsrecht erkennen.
Denn Sinn der Akteneinsicht ist es gerade, dem Akteneinsichtsberechtigten die Möglichkeit zu geben, Vergaberechtsverstöße aufzudecken, die ihm ansonsten, mangels Aktenkenntnis häufig unbekannt sind (Dicks in Ziekow/Völlink, Vergaberecht 3. Aufl. 2018, § 165 Rdnr. 1).
Die Akteneinsicht war vorliegend auch nicht etwa wegen Unzulässigkeit des Vergabenachprüfungsantrages zu versagen. Zwar wird z.T. angenommen, dass die Unzulässigkeit des Vergabenachprüfungsantrages einen ungeschriebenen, weiteren Ausnahmetatbestand vom Einsichtsrecht darstellt. Voraussetzung für die Bejahung dieser Ausnahme ist jedoch jedenfalls, dass die Unzulässigkeit offensichtlich ist (so ausdrücklich . Senat, Beschluss v. 6.1.2020, – Verg 10/19, Ziff. 1.a. der Beschlussgründe; ebenso Dicks in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 3. Aufl. 2018, § 165 GWB Rdnr. 6, Seite 770, m.Rpsr.N., sowie Senat, Beschluss v. 21.12.2018, – Verg 7/18; in dieselbe Richtung bereits Senat, Beschluss v. 21.12.2018, – Verg 7/18, Ziff. II.3.b.bb. der Beschlussgründe: es ist „große Zurückhaltung” bei Verwehrung der Akteneinsichtwegen angeblicher Unerheblichkeit des Akteninhalts geboten). Denn vor einem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens, geschweige denn vor einem Abschluss des erstinstanzlichen Vergabenachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer, kann die Zulässigkeit des Vergabenachprüfungsantrages allenfalls dann mit hinreichender, die Akteneinsichtversagung rechtfertigender Sicherheit verneint werden, wenn die Unzulässigkeit offensichtlich ist, d.h. wenn an der Unzulässigkeit keine vernünftigen Zweifel bestehen. Es ist nämlich stets im Blick zu behalten, dass die Beurteilung der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Akteneinsichtsgewährung eine nur vorläufige sein kann. Dies gilt in besonderem Maße für die Vergabekammer, die – anders als der Vergabesenat – nicht am Ende des Instanzenzuges steht.
Vorliegend kann von einer offensichtlichen Unzulässigkeit, die die Vergabekammer wegen angeblich unzureichender Darlegung einer Rechtsverletzung auch hinsichtlich der datenschutzbezogenen Rügen gemäß § 160 Abs. 2 Satz.1 GWB angenommen hat, keine Rede sein. Es bestehen sogar erhebliche Zweifel, ob insofern überhaupt von einer Unzulässigkeit auszugehen ist. Denn nach § 160 Abs. 2 Satz 1 GWB muss der Antragsteller eine Rechtsverletzung lediglich „geltend machen“. „Geltend gemacht“ wurde der Rechtsverstoß von der Antragstellerin aber – offensichtlich – dadurch, dass sie meint, der Antragsgegner habe das Angebot der Bieterin L nicht hinreichend daraufhin überprüft, ob es datenschutzrechtliche Bestimmungen einhalte, bzw. der Antragsgegner habe dieses Angebot wegen absehbarer Nichteinhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen ausschließen müssen, wobei Ausgangspunkt sei, dass die Ausschreibung die .Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen bei Auftragsausführung zwingend erfordere. Es kann – entgegen der Ansicht der Vergabekammer – auch nicht ernstlich vertreten werden, dass der von der Antragstellerin geltend gemachte o.g. Vergaberechtsverstoß eine bloße Spekulation ohne jede Substanz „ins Blaue“ hinein wäre (dann freilich käme die Bejahung der Unzulässigkeit des Vergabenachprüfungsantrages in Betracht: vgl. Dicks in Ziekow, Vergaberecht, 3. Aufl. 2018, § 160 Rndr. 18 a.E.). Denn die Antragstellerin nennt eine ganze Reihe nicht ohne weiteres von der Hand zu weisender Indizien für die Richtigkeit ihrer Geltendmachung:
– Dass die Ausschreibung die Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen bei Auftragsdurchführung erfordert, legt eine Äußerung des Antragsgegners im Vergabeverfahren nahe. Denn auf die Bieterfrage der Antragstellerin, ob bei den zu dolmetschenden Gesprächen eine Verschlüsselung gemäß Art. 32 DSGVO einzusetzen sei, antwortete der Antragsgegner, dass die Ausschreibungsunterlagen selbstverständlich unter Beachtung aller relevanten gesetzlichen Vorgaben erstellt worden seien und dass die Leistungen wie ausgeschrieben anzubieten seien (Anlage ASt 4). Aus einer solchen Antwort konnte ein Bieter sinnvollerweise nur folgern, dass datenschutzrechtliche Sicherungsmaßnahmen des Auftragnehmers bei Durchführung der zu dolmetschenden Termine (selbstverständlich) erforderlich seien und dass es Aufgabe der Bieter bei Angebotserstellung sei, den genauen Umfang der erforderlichen datenschutzrechtlichen Sicherungsmaßnahmen festzustellen. Die im zweiten Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat demgegenüber vertretene Auffassung der Prozessvertreterin des Antragsgegners, die Antwort des Antragsgegners sei „nichtssagend“ gewesen, lässt den Kontext der Äußerung, nämlich die Frage, auf die sich die Antwort bezog, unrichtigerweise außer Blick. Zudem würde es einen Verstoß des Antragsgegners gegen den vergaberechtlichen Transparenzgrundsatz darstellen, wenn Vergabestellen auf konkrete, sachorientierte Bieterfragen nichtssagende Antworten erteilten. Es war schon aus Gründen der Gesetzesbindung der öffentlichen Verwaltung nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass der Antragsgegner mit seiner Antwort gegen den vergaberechtlichen Transparenzgrundsatz verstoßen wollte.
Soweit der Antragsgegner kurz vor dem zweiten Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat erstmals behauptet hat, dass er üblicherweise Vorkehrungen im Vorfeld der zu dolmetschenden Termine treffe, die – so die unausgesprochene Meinung des Antragsgegners – datenschutzrechtliche Sicherungsmaßnahmen des Auftragnehmers bei Durchführung der Termine entbehrlich machen, ändert dies an seiner o.g. Antwort, ihrem konkludentem Inhalt und ihrer Eignung als zulässigkeitsbegründende, substanzielle Grundlage für die gegenteilige Geltendmachung der Antragstellerin nichts.
Der Vortrag des Antragsgegners ist allenfalls für die Prüfung der Begründetheit des Vergabenachprüfungsantrages relevant, wobei ggf. zu fragen wäre, warum der Antragsgegner auf die Bieterfrage geantwortet hat, wie er geantwortet hat, wenn er von den Bietern tatsächlich gar keine datenschutzrechtlichen Sicherungsmaßnahmen erwartete. Im Übrigen ist fraglich, ob die von dem Antragsgegner eingewendete Entbehrlichkeit wirklich anzunehmen ist. Denn eine zu Beratende mag trotz ihrer gegenüber dem Dolmetscher gewahrten Anonymität aufgrund des Inhaltes und des Ablaufes des Beratungsgespräches für Dritte durchaus individualisierbar sein; zudem mag die zu Beratende im Verlaufe des Gesprächs vertraulich Informationen in Bezug auf individualisierbare Vierte kundtun. Zudem scheint es nach den Einlassungen des Vertreters der Antragstellerin im zweiten Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat keineswegs ausgeschlossen, dass die von dem Antragsgegner behaupteten Vorkehrungen im Vorfeld der einzelnen Beratungstermine noch bestritten werden, so dass hierüber ggf. Beweis zu erheben wäre.
– Dass der Antragsgegner die Angebote auf die Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen nicht geprüft hat, deuten spätestens dessen Einlassungen im Beschwerdeverfahren an, wonach die von der Antragstellerin eingeforderte „Einhaltung datenschutzrechtlichen Bestimmungen“ auf ein „nicht vorgegebenes“ und aus seiner Sicht daher offenbar unakzeptables „Qualitätskriterium“ hinausliefe (Schriftsatz vom 2.9.2019, Seite 2; Bl. 82 d.A.).
– Dass die Bieterin L mit ihrem Konzept der Telefonieübersetzung datenschutzrechtliche Vorgaben nicht erfüllt, legen die von der Antragstellerin behaupteten und vom Antragsgegner nicht bestrittenen Marktkenntnisse der Antragstellerin im Allgemeinen sowie deren Kenntnis über die Firma L im Besonderen aufgrund eines anderen Vergabeverfahrens, das die Antragstellerin konkret benennt, nahe (Beschwerdeschrift vom 27.6.2019, Seiten 19 und 38; Bl. 19 und 38 d.A.).
Nur am Rande sei noch erwähnt, dass es rechtsstaatlichen Grundsätzen in besonderem Maße widerspricht, wenn die Vergabekammer im zeitlichen Anschluss an die Verweigerung der Akteneinsicht der Antragstellerin vorwirft, die Beanstandungen der Antragstellerin beruhten auf überwiegend spekulativem Vortrag (Ziffer II. der Gründe des angefochtenen Beschlusses), weshalb der Vergabenachprüfungsantrag offensichtlich unzulässig sei, weshalb wiederum – unausgesprochen – die Akteneinsicht zu verwehren sei. Denn gerade durch die Verweigerung der Akteneinsicht ist die Antragstellerin geradezu gezwungen, sich teilweise auf Mutmaßungen zu beschränken. Je weniger Informationen über Inhalt und Ablauf des Vergabeverfahrens einem Antragsteller von der Vergabestelle oder der Vergabenachprüfungsinstanz zugänglich gemacht werden desto geringer müssen naturgemäß die Anforderungen an die Substanziierung des Vortrages dieses Antragstellers im Vergabenachprüfungsverfahren zu Vorgängen des Vergabeverfahrens sein.
b)
Indem die Vergabekammer weder in dem angegriffenen Beschluss noch in einer zeitlich vorgelagerten, schriftlichen Zwischenentscheidung irgendwelche Gründe anführt, warum sie die Akteneinsicht verwehrt, hat sie gegen das allgemein bestehende Begründungserfordernis für anfechtbare Entscheidungen der Vergabekammer verstoßen (vgl. zum Begründungserfordernis für Hauptsacheentscheidungen der Vergabekammer: §§ 168 Abs. 3 Satz 3, 61 Abs. 1 Satz 1 GWB sowie § 168 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. den Formvorschriften für Verwaltungsakte des VwVfG, Gause in Willenbruch/Wieddekind, Vergaberecht, 4. Aufl. 2017; § 168 Rdnr. 141; zum Begründungserfordernis für Beschlüsse nach der VwGO: § 122 Abs. 2 Satz 1 VwGO; zum Begründungserfordernis für Beschlüsse nach der ZPO: Feskorn in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 329 Rdnr. 26).
c)
Die Vergabekammer hat zu Unrecht die Beiladung des derzeit zuschlagsfavorisierten Bieters unterlassen und hat sich damit vor Erlass ihrer Entscheidung über den, Vergabenachprüfungsantrages als parteilich zu Gunsten der Vergabestelle zu erkennen gegeben.
Denn § 162 Satz 1 GWB gebietet eine Beiladung immer schon dann, wenn die Entscheidung über den Vergabenachprüfungsantrag nachteilige Auswirkungen auf die Zuschlagschancen des Beizuladenden haben kann (ebenso Dicks in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 3. Aufl. 2018, § 162 GWB Rdnr. 4). Vor rechtskräftigem Abschluss des Vergabenachprüfungsverfahrens kann nämlich naturgemäß nicht abschließend ermessen werden, wie die Entscheidung letztlich ausfallen wird und ob und welche Auswirkungen sie auf Dritte haben wird. Folglich sind aus elementar rechtsstaatlichen Grundsätzen Dritte immer dann am Verfahren – durch Beiladung – zu beteiligen, wenn die nicht entfernte Möglichkeit besteht, dass eine nachprüfungsantragsgemäße Entscheidung ergeht und der Dritte hierdurch belastet werden wird. Dabei ist von der Vergabekammer wiederum im Blick zu behalten, dass sie – anders als der Vergabesenat – nicht am Ende des Instanzenzuges steht und daher zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung über die Beiladung mit noch viel geringerer Gewissheit darüber zu befinden vermag, wie die Entscheidung über den Vergabenachprüfungsantrag letztlich ausfallen wird und ob und wie die Interessen eines Dritten durch die Entscheidung berührt werden werden. Unterlässt die Vergabekammer – wie vorliegend – die Beiladung, legt sie sich daher in einem frühen Stadium des Verfahrens darauf fest, dass der Vergabenachprüfungsantrag zurückgewiesen werden wird. Auch beeinträchtigt sie hierdurch das etwaige Rechtsmittelverfahren vor dem Vergabesenat, weil der Vergabesenat die Beiladung des Dritten zwar im Rechtsmittelverfahren nachholen kann, hierdurch aber nicht ungeschehen machen kann, dass dem Dritten ein Rechtszug, nämlich derjenige vor der Vergabekammer, endgültig verloren geht, wenn der Vergabesenat die Sache nicht an die Vergabekammer zurückverweist. Daher ist es der Vergabekammer, ohne dem Vorwurf erheblicher Parteilichkeit zugunsten der Vergabestelle ausgesetzt zu sein, nur dann in zulässiger Weise ausnahmsweise möglich, die Beiladung zu unterlassen, wenn sie bereits zu Beginn des Verfahrens mit gesteigerter Sicherheit davon ausgehen darf, dass der Vergabenachprüfungsantrag keinen Erfolg haben wird und daher nachteilige Auswirkungen auf die Zuschlagschancen des Beizuladenden nicht eintreten können. Hiervon konnte vorliegend allerdings keine Rede sein. Denn die Annahme der Unsubstanziiertheit der Antragsbegründung durch die Vergabekammer ist jedenfalls erheblichen Zweifeln ausgesetzt (s.o.) und eine weitergehende Prüfung der Erfolgsaussichten des Vergabenachprüfungsantrages hat die Vergabekammer ausweisliches ihres angefochtenen Beschlusses nicht vorgenommen.
d)
Die Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung vor der Vergabekammer war ermessensfehlerhaft.
Denn die Nichtdurchführung der mündlichen Verhandlung ist gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 und 3 GWB nur bei Unzulässigkeit oder offensichtlicher Unbegründetheit des Vergabenachprüfungsantrages rechtmäßig. Die Annahme der „Unzulässigkeit des Vergabenachprüfungsantrages ist aber jedenfalls zweifelhaft (s.o.) und irgendwelche Ausführungen, dass und warum der Vergabenachprüfungsantrag unbegründet sei, und zwar offensichtlich unbegründet sei, enthält der angegriffene Beschluss nicht. Wiewohl auch der Senat vor endgültigem Abschluss des Vergabenachprüfungsverfahrens und insbesondere auch vor Durchführung der Akteneinsicht nicht mit hinreichender Sicherheit zu ermessen vermag, ob der Vergabenachprüfungsantrag zulässig ist, ist schon jetzt zu erkennen, dass die Rechtfertigung der Nichtdurchführung der mündlichen Verhandlung auf zumindest zweifelhaften Füßen steht (s.o.). Vor dem Hintergrund, dass die Durchführung der mündlichen Verhandlung bei Unzulässigkeit des Vergabenachprüfungsantrages gemäß § 166 Abs. 1 Satz 3 GWB nur unterblieben kann, nicht aber muss, steht es auch bei anzunehmender Unzulässigkeit des Vergabenachprüfungsantrages im Ermessen der Vergabekammer, gleichwohl eine mündliche Verhandlung durchzuführen (Senatsbeschluss vom 6.1.2020, – Verg 10/19, Ziff. 1.c. der Beschlussgründe; in dieselbe Richtung schon Senat, Beschluss v. 21.12.2018,- Verg 7/18, Ziff. II.3.b.bb. der Beschlussgründe; Es ist kein allzu leichtfertiger Gebrauch von der Möglichkeit zu machen, keine mündliche Verhandlung durchzuführen). Vorliegend war es ermessensfehlerhaft, die mündliche Verhandlung angesichts der Zweifelhaftigkeit der Bejahung der Unzulässigkeit des Vergabenachprüfungsantrages zu unterlassen. Denn die Vergabekammer hat ihr Ermessen nicht erkennbar ausgeübt; weder der Inhalt der Akte der Vergabekammer noch der angefochtene Beschluss lassen erkennen, dass sich die Vergabekammer ihres Ermessens bewusst war und auf Grund welcher Erwägungen die Vergabekammer ihr Ermessen zu Ungunsten einer mündlichen Verhandlung ausgeübt hat. (ebenso vgl. Senatsbeschluss vom 6.1.2020, a.a.O.).
e)
Indem die Vergabekammer es unterlassen hat, dem Antragsgegner den Vergabenachprüfungsantrag in Schriftform zu übermitteln, hat sie gegen § 163 Abs. 2 Satz 3 GWB verstoßen.
Denn nach dieser Vorschrift durfte die Vergabekammer die Übermittlung nur dann unterlassen, wenn der Vergabenachprüfungsantrag offensichtlich unzulässig oder unbegründet war. An dieser Voraussetzung fehlt es jedoch vorliegend (s.o.).
Der Verstoß gegen § 163 Abs. 2 Satz 3 GWB stellt einen besonders schwerwiegenden Rechtsverstoß der Vergabekammer dar. Denn mangels Übermittlung griff gemäß § 169 Abs. 1 GWB kein Zuschlagsverbot ein und der sodann erteilte Zuschlag kann gemäß §168 Abs. 2 Satz 1 GWB grundsätzlich nicht mehr von der Vergabenachprüfungsinstanz aufgehoben werden. Die Vergabekammer hat es daher durch die rechtswidrige Nichtübermittlung des Vergabenachprüfungsantrags – sehend – unternommen, den Primärrechtsschutz der Antragstellerin von den gesetzlich vorgesehenen zwei Rechtszügen auf einen Rechtszug zu verkürzen und sich gleichsam „selbst“ Rechtskraft zu verschaffen.
f)
Indem die Vergabekammer es unterlassen hat, die Vergabeakte beizuziehen und sodann zur Kenntnis zu nehmen, hat sie gegen § 163 Abs. 2 Satz 3 GWB und den vergaberechtlichen Amtsermittlungsgrundsatz des § 163 Abs. 1 Satz 1 GWB verstoßen.
Denn nach § 163 Abs. 2 Satz 3 GWB durfte die Vergabekammer die Beiziehung der Vergabeakte nur dann unterlassen, wenn der Vergabenachprüfungsantrag offensichtlich unzulässig oder unbegründet war. An dieser Voraussetzung fehlt es jedoch vorliegend (s.o.).
Die Annahme der Vergabekammer, sie habe sich mit der Vergabeakte nicht ansatzweise zu beschäftigen, ist insbesondere auch dann verfehlt, wenn die Vergabekammer dem Antragsteller – wie vorliegend -1 keine Gelegenheit gibt, in die Akte Einsicht zu nehmen. Denn dann haben weder der Antragsteller noch die Vergabekammer Kenntnis vom Akteninhalt.
Das macht eine sinnvolle, sachliche Diskussion über etwaige Vergaberechtsverstöße der Vergabestelle im Vergabenachprüfungsverfahren unmöglich und beschränkt die Vergabekammer ihrerseits darauf, über die Sache zu spekulieren.
2.
Es ist nicht auszuschließen, dass im Fall einer vollständigen, ordnungsgemäßen Durchführung des Vergabenachprüfungsverfahrens eine andere Sachentscheidung ergeht als die angefochtene. Insbesondere ist nicht auszuschließen, dass der Vergabenachprüfungsantrag Erfolg hat.
Hierzu im Einzelnen:
a)
Dass der Hauptantrag infolge des zwischenzeitlich erteilten Zuschlages erledigt ist und folglich von vornherein nur der Hilfsantrag Aussicht auf Erfolg haben kann, hängt wesentlich von der Frage ab, ob der Zuschlag rechtswirksam ist. Die Beantwortung dieser Frage, die zunächst von der Vergabekammer vorzunehmen ist, erscheint dem Senat trotz der Regelung in § 168 Abs. 2 Satz 1 GWB derzeit offen zu sein:
Für die Annahme der Unwirksamkeit dürften die unter Buchstabe a) der Hinweisverfügung des Senats vom 19.8.2019 (B|. 75 d.A.) angeführten Gründe sprechen. Der Senat neigt nach dem derzeitigen Stand der Diskussion dazu, insbesondere dem Argument aus Treu und Glauben Bedeutung beizumessen. insofern erscheint u.a. erheblich zu sein, dass
(1) sich der Antragsgegner auf eine nichtendgültige Aussage der Geschäftsstelle der Vergabekammer (vom 4.6.2019) verlassen hat, es werde der Vergabenachprüfungsantrag nicht übermittelt werden, obwohl der Beschluss der Vergabekammer erst über eine Woche später erging (am 12.6.2019),
(2) der Antragsgegner nach der o.g. Aussage sofort und noch am selben Tage den Zuschlag erteilt hat, obwohl keine Eile in der Sache bestand, weshalb die schnelle Zuschlagserteilung offenbar im Wesentlichen das Ziel hatte, unverrückbare Fakten, zu schaffen,
(3) der Antragsgegner die Rüge kannte und daher ermessen konnte, dass die rechtliche Begründung für die o.g. Aussage, dass nämlich der Vergabenachprüfungsantrag offensichtlich unzulässig/unbegründet sei, kaum haltbar ist (s.o.) und (4) der Antragsgegner, bei Zuschlagerteilung von der Existenz des Vergabenachprüfungsverfahrens wusste.
b)
Auch die sich in der Sache stellende Frage der Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen, die wiederum zunächst von der Vergabekammer zu beantworten ist, erscheint dem Senat derzeit offen zu sein.
Insofern dürften u.a. folgende – teils tatsächliche, teils rechtliche – Problemkreise voneinander zu trennen sein:
(1) Sind besondere, datenschützende Maßnahmen für die Durchführung der Übersetzungstermine von den Bietern anzubieten bzw. vom Auftragsnehmer auszuführen oder sind solche Maßnahmen entbehrlich, weil der Antragsgegner bereits ausreichende Schutzvorkehrungen getroffen hat? Diese Frage wird anhand des Schriftsatzes des Antragsgegners vom 30.1.2020 und der noch ausstehenden, substanziierten Erwiderung der Antragstellerin hierzu zu klären sein sowie einer etwaigen Beweiserhebung unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen des Senats zu Ziffer 1.a).
(2) In welchem Umfang ist es erforderlich, dass die Ausschreibungsunterlagen der Antragsgegnerin zu einer derartigen Angebotsabgabe auffordern? Hierbei wird zu berücksichtigen sein, dass das Datenschutzbedürfnis bei Beratungen von Prostituierten evident ist, zumal wenn das Beratungsgespräch telefonisch weitergeleitet wird. Ferner wird zu berücksichtigen sein, dass der Auftragnehmer vorliegend im Wesentlichen Übersetzerdienste erbringen soll, wobei die kommunikativen Zu- und Abwege dieser Dienste im Mittel- bzw. Graubereich zwischen der Antragsgegnerin und dem Auftragnehmer liegen und es sachgerecht sein könnte, dass dieser Mittel- bzw. Graubereich von der Antragsgegnerin zumindest mitgestaltet wird; denn auch sie dürfte Verantwortung für die Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen tragen.
(3) Fordern die Ausschreibungsunterlagen der Antragsgegnerin zu einer derartigen Angebotsabgabe auf?
(4) Hat die Antragsgegnerin die bei ihr eingereichten Angebote, insbesondere dasjenige der Firma L und ggf. auch dasjenige der Antragstellerin daraufhin überprüft, ob sie den o.g. Anforderungen genügen?
(5) Falls die Ausschreibungsunterlagen nicht dazu auffordern, datenschutzrechtlich erforderliche Maßnahmen der Auftragnehmer anzubieten, wird zu klären sein, wie mit einer solchen „lückenhaften“ Ausschreibung umzugehen ist. Dabei wäre u.a. in Betracht zu ziehen, dass die Ausschreibung insgesamt aufzuheben ist, weil sie in einem zentralen, kostenkalkulationsrelevanten Punkt unbestimmt ist.
c)
Hingegen ist die Auffassung der Vergabekammer, § 160 Abs. 2 Satz 2 GWB sei hinsichtlich der Rüge der Unauskömmlichkeit nicht erfüllt, nach derzeitigem Stand des Parteivortrages und der Amtsermittlung der Vergabekammer nicht zu beanstanden.
Denn insofern sind tatsächliche Anhaltspunkte, namentlich das Überschreiten der sog. Aufgreifschwelle für die Prüfung von Unterkostenangeboten, nicht zu erkennen.
IV.
1.
Über die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich des Eilverfahrens hat der Senat nicht selbst entschieden, sondern auch dies der Vergabekammer überlassen (so schon Senat, Beschl. v. 21.12.2018, – Verg 7/18, Ziff. II 5.; OLG Celle, Besch. v. 3.12.2009, 13 Verg 14/O9, Rdnr. 55 zit. nach Juris; OLG Jena, Besch. v. 23.1.2003, 6 Verg 11/02, Rdnr. 26. zit. nach Juris; OLG Düsseldorf, Besch. v. 13.4.1999, Verg 1/99 Rdnr. 60 zit. nach Juris).
2.
Die Wertfestsetzung beruht auf § 50 Abs. 2 GKG.
3.
Die Notwendigkeit der Hinzuziehung des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren ergibt sich aus § 120 Abs. 1 GWB und war daher nicht eigens auszusprechen.